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Die Tür in der Schönhauser Allee (1976). Sein Prenzlauer Berg ist natürlich nicht der heutige, auch nicht der davor, der Künstlerbezirk Ost-Berlins, sondern der davor: ein Bezirk von Müllmännern, Schornsteinfegern und sich selbst überlassenen Kindern in verfallener Altbauszenerie. „Idylle in Grau“ zeigt Alltagsporträts des 1984 gestorbenen Fotografen Bernd Heyden aus den Jahren 1966 bis 1980, auch wenn, wie Mathias Bertram im Vorwort schreibt, die Idylle in Wirklichkeit „keine Idylle war und natürlich keineswegs grau“.Bernd Heyden: Idylle in Grau. Fotografien 1966-1980. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015. 64 Seiten, 9,95 Euro.

© Bernd Heyden

25 Jahre Deutsche Einheit: Mein Osten

Unser Deutschland war Westdeutschland: Wie ich als Französin die im Sterben liegende DDR und die Wende erlebt habe.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Eine Chance, die das Leben nur selten gewährt. Für mich war die Wiedervereinigung eine solch rares Geschenk. Nicht im Traum hätte ich mir das außerordentliche Geschehen vorstellen können, das sich vor meinen Augen abspielen sollte, als ich Anfang September 1989 London verließ und nach Bonn zog. Zwei Wochen irrte ich durch die adretten Straßen und sagte mir bei jedem Schritt, dass ich diese Entscheidung mein ganzes Leben bereuen würde. Doch dann drehte sich der Wind auf der anderen Seite der Mauer, und aus Paris kam die drängende Frage: Was ist in der kleinen DDR los? Also packte ich eilig meine Reisetasche und brach auf, das andere Deutschland zu entdecken. Die im Sterben liegende Demokratische Republik durchlebte ihre letzten Monate und wir Franzosen stellten fest, dass es da noch ein anderes Deutschland gab.

Eingezwängt, schulmeisterlich und nicht gerade witzig

Denn unser Deutschland, das war Westdeutschland. Wohlgeordnete Städte, ganze Viertel, die nach dem Krieg rasch und reizlos wieder aufgebaut worden waren, funkelnde Mercedes am Straßenrand, dazu die unumgängliche Fußgängerzone mit ihren Blumenkübeln und ihren auf Alt getrimmten Lampen – Apotheose der Trostlosigkeit, wenn man sich am Sonntagnachmittag hierher verirrte. In den adretten Dörfern erstickten die Fachwerkhäuser unter Geranienkästen. Für die meisten Franzosen war Deutschland ein in seinen Wohlstand eingezwängtes Land, schulmeisterlich und nicht gerade witzig. Reich, das ja, aber sexy – nein, wirklich nicht.

Und so verzauberten die ersten Monate in der DDR mich geradezu. Ich entdeckte Städte, noch nicht geglättet und totsaniert und sogar Unkrautbüschel, die sich anarchisch ausbreiten durften. In Dresden wanderte ich nachts allein über die Zwingerterrassen. Die Luftverschmutzung hatte die prallen Pobacken der Putten auf den Balustraden geschwärzt, die Touristen waren noch nicht da, und ich glaubte mich in einem Traum. Nein, ich beneidete nicht einmal den Korrespondenten in Italien. Ab und zu telefonierten wir miteinander. Er erzählte mir, dass er gerade eine Reportage über Verona geschrieben hatte. Ich berichtete ihm begeistert über den Bitterfelder „Silbersee“, das ekelerregende Loch aus dem früheren Tagebau. Er schrie: „Das ist ja widerlich!“ Ich fand absolut nicht, dass ich mit meinem Wechsel nach Ostberlin den Kürzeren gezogen hatte! Mir kam es so vor, als sei ich ins Europa der 50er Jahre gereist. Diese Exotik riss mich hin. Und ich verliebte mich in die DDR.

„In beide Länder sind die Deutschen einmarschiert!“

Nach meiner festen Überzeugung hat der Fall der Berliner Mauer stark zum veränderten Deutschlandbild der Franzosen beigetragen. Seitenweise berichteten und analysierten die Zeitungen. Soziologen und Kulturwissenschaftler befassten sich mit der DDR. Man erfuhr die merkwürdigsten Dinge: dass die Ostdeutschen Latin Lovers waren wie wir – sinnlicher, freier und spontaner als die Wessis, denn sie trieben ihre Liebesspiele wesentlich häufiger als ihre verklemmten Cousins im Westen, und sie kamen doppelt so oft zum Orgasmus. Bei den Bankkonten waren die Ossis die Verlierer, auf den Matratzen aber die Gewinner. Der Beweis: starke Geburtenrate in der DDR, demografische Krise in der BRD. Aber vor allem merkten wir, dass die Deutschen auch arm und unsicher sein konnten. Wir brauchten sie nicht mehr zu beneiden. Wir empfanden sogar, dass uns mit den Ossis ein gemeinsames Schicksal verband, eine Art warme Solidarität angesichts dieser Wessis, deren wirtschaftliche Erfolge und zunehmendes politisches Selbstbewusstsein wir nur schwer ertrugen. „Was haben Frankreich und die DDR gemeinsam?“, fragte ein Witz in der Zeit der Wiedervereinigung. Antwort: „In beide Länder sind die Deutschen einmarschiert!“

In der DDR der 90er Jahre bedeutete es eine große Chance, Französin zu sein. Dank dieses besonderen Status war ich eine privilegierte Gesprächspartnerin, und beide Seiten konnten mir ihre Zweifel, ihren Groll, ihre Ängste anvertrauen, ohne sich zu schämen und ohne die Furcht, den anderen zu verletzen. Eine junge Töpferin erzählte mir eines Tages errötend, wie sie in einer Restauranttoilette im Dunkeln zehn Minuten nach dem Lichtschalter getastet hatte. Sie wusste nicht, dass das Licht automatisch angehen würde, sobald sie den Riegel vorgeschoben hatte. Ich war gerührt. Etwas verschämt vertraute sie mir an: „Das hätte ich einem Westdeutschen niemals erzählen können. Stell dir nur die Demütigung vor!“

Mit einem Pailletten-String und zwei Margeriten auf den Brustwarzen

Mehr als einmal kam es mir vor, als hätte ich mich in einen Fellini-Film verirrt. Vor meinen Augen lief eine Art Amarcord der Volksdemokratie ab. Ich erinnere mich an den Striptease im Hinterzimmer des einzigen Hotels in einer Provinzstadt. Im Halbdunkel, im Dunst von Bier und ranzigem Fett, umarmte ein Mädchen mit einem Pailletten-String und zwei Margeriten auf den Brustwarzen, die Schenkel von Cellulite gewellt, eine glänzende Boa. Auf den Marktplätzen ostdeutscher Kleinstädte sah ich, wie Lieferwagen mit Hamburger oder Bielefelder Nummernschildern vorfuhren. Sie waren bis unter die Plane mit den begehrten Konsumgütern vollgestopft: Staubsauger, Fernsehgeräte, Kaffeemaschinen und natürlich Bananenstauden, Symbole der Freiheit oder der Entfremdung, je nach Standpunkt. Vor dem Rathaus eines sächsischen Dorfes streichelten Scharen von Kindern das knallrote Cabriolet eines Wessis, das aus irgendeinem Grund dort gestrandet war. Diese Glücksritter der Wende traf ich abends in der Hotelbar.

Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.
Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues.

© Thilo Rückeis

Aber nicht alle Wessis waren von Besitzgier getrieben. In meiner italienischen Lieblingskneipe in West-Berlin beobachtete ich regelmäßig ein altes Paar, das ganz hinten an einem Tisch saß und sich angeregt unterhielt. Mir wurde schnell klar, dass er Richter im Ruhestand war und voll patriotischem Eifer seine Koffer gepackt hatte, um das Justizministerium in Potsdam aufzubauen. Seine Frau war ihm gefolgt. Sie hatten ihre große Villa in Süddeutschland ebenso wie ihr geordnetes Leben hinter sich gelassen. Sie taten etwas Sinnvolles, und statt Kreuzfahrten zu machen und Golf zu spielen, erlebten sie das letzte große Abenteuer ihres Lebens.

Sie hatten es satt, mit Kohle zu heizen

Erst nach einiger Zeit wurden mir meine Illusionen bewusst, und ich fand zu einem nüchternen und realistischeren Bild. „Aber die Engel in deinem Paradies sind doch Stasi-Informanten“, warf mir ein Freund aus Paris an den Kopf. Am liebsten hätte er mich geschüttelt, damit ich endlich die Augen öffnete und mich von den unsinnigen Träumereien verabschiedete, sagte er. Wir gingen in Potsdam spazieren, ich zeigte ihm die Villen aus der Gründerzeit und die Nacktbader vom Heiligensee, diese Idylle, eine Symbiose aus Preußen und FKK. „Das ist die Freiheit!“, begeisterte ich mich. Er fiel mir ins Wort. Wie konnte ich nur so naiv sein! Nun kamen mir andere Szenen aus diesen Jahren in den Sinn. Der Wartburg vor der Haustür von Mitgliedern des Neuen Forums. Zwei Herren in grauen Regenmänteln. Und man fragte sich, ob die Stasi sie am nächsten Tag mitnehmen würde. Gleich nach dem Fall der Mauer der Besuch bei einem Punk in der zentralen Untersuchungshaftanstalt von Niederschönhausen. Ein Jugendlicher mit knallrotem, struppigem Haar saß hier seine Strafe ab. Man hatte ihn aus dem Verkehr gezogen, damit er die makellose Fassade der Republik nicht beschmutzte. Die Zeichen mehrten sich ebenso wie die Beweise für das Korsett aus Repression und Überwachung, in das die Funktionäre dieses anderen Deutschlands ihre Landsleute quetschten, um sie im kommunistischen Gleichschritt marschieren zu lassen. Bestürzt lasen meine ostdeutschen Freunde in den Stasi-Akten, dass ihr Nachbar, ihr bester Freund sie jahrelang bespitzelt hatte. Manche hatten nicht studieren dürfen. Sie hatten es satt, mit Kohle zu heizen, jahrelang auf einen Trabi zu warten, den „Spiegel“ nur heimlich zu lesen. Sie wollten reisen, sie wollten Griechenland und Italien und Paris sehen. Vor allem wollten sie das Recht, ohne Angst vor Repressalien zu sagen, was ihnen durch den Kopf ging.

Was für ein unglaubliches Glück, dass ich Zeugin dieses außerordentlichen Moments der europäischen Geschichte wurde. Ich genoss die Zeit in der Schwebe. Alles veränderte sich in ungeheurem Tempo. Alles war aufregend. Alles war möglich. Dieses fiebrige Klima riss uns mit. Es waren die schönsten Jahre in meiner Arbeit als Journalistin.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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