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Eine Gedenktafel in Nürnberg erinnert an Enver Şimşek.

© Daniel Karmann / dpa

20 Jahre nach dem ersten „NSU“-Mord: „Die größte Niederlage des Rechtsstaats“

Rechtsextreme Terroristen ermordeten Enver Şimşek aus Hass. CSU-Innenminister Günther Beckstein kannte das Opfer persönlich. Was sagt er heute zu dem Fall?

Von Jonas Bickelmann

Neben Enver Şimşeks weißem Lieferwagen steht ein hellroter Sonnenschirm, unter dem er Blumensträuße zum Verkauf anbietet. An diesem Ort treffen den damals 38-Jährigen acht Schüsse, abgegeben von Terroristen. Şimşek betreibt einen Blumengroßhandel im hessischen Schlüchtern. Nur weil er einen Mitarbeiter vertritt, steht er am 9. September 2000 an dem kleinen Stand mit dem roten Sonnenschirm neben einer Ausfallstraße in Nürnberg, den Fotos des Tatortes zeigen.

Şimşek stirbt zwei Tage später an den Verletzungen. Er ist das erste Mordopfer der rechtsextremen Terrorgruppe „NSU“ um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Das Mordmotiv: Hass auf Menschen mit Migrationsgeschichte.

Zehn Morde, überwiegend an türkisch- und griechischstämmigen Menschen, begingen die drei von 2000 bis 2007. In den Medien waren viele Berichte von Ressentiments durchdrungen. Bei den Ermittlungen wurde über alle möglichen Hintergründe spekuliert – nur an ein rassistisches Motiv wollte viel zu lange niemand denken.

Günther Beckstein tat jedoch genau das. Als bayrischer Innenminister war der CSU-Politiker Chef der ermittelnden Polizei. Und er hatte eine direkte Verbindung zu Enver Şimşek: Beckstein kannte das Terroropfer persönlich, weil er bei ihm hin und wieder Blumen gekauft hatte.

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Als er von dem Fall in der Zeitung liest, schreibt er als Vermerk daneben: „Bitte mir genau berichten: Ist Mord ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“

Schäuble findet deutliche Worte

Längst ist Becksteins Verdacht traurige Gewissheit geworden. Es war der erste Fall „einer Mordserie aus rassistischen Motiven, aus blankem Hass“, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am Mittwoch im Bundestag sagte. „Mitten unter uns.“

Es ist ungewöhnlich und fand viel Anerkennung, dass der Bundestagspräsident sich in einer solchen Sonderansprache ans Parlament wendet. Schäuble warnt: „Es liegt in unserer Verantwortung, den ewig Gestrigen, den gewaltbereiten Chaoten und militanten Neonazis keinen Millimeter öffentlichen Raum zu geben.“

Beckstein sagt heute: „Die ganze Geschichte um den „NSU“ war die größte Niederlage, die der Rechtsstaat in meiner Zeit erlitten hat.“ Aber der CSU-Politiker sieht keine Versäumnisse bei den Ermittlungsbehörden. Einen „unglaublichen Aufwand“ habe man betrieben, sagt er dem Tagesspiegel am Telefon. „Wir haben in der Spitze 130 Mann als Sonderkommission eingesetzt. Wir haben alles ausermittelt, an das zu denken war.“

Beckstein: Es waren mehr als drei Täter

Trotzdem sei bis heute vieles ungeklärt. „Es muss in Nürnberg Mittäter gegeben haben, von denen Tipps kamen“, sagt Beckstein. Er ist absolut sicher, dass es nicht nur drei Täter waren. Bönhardt, Mundlos und Zschäpe konnten demnach auf ein größeres Netzwerk zurückgreifen.

Den „richtigen Riecher“ bestätigte ihm die SPD-Abgeordnete Eva Högl im „NSU“-Untersuchungsausschuss. Sie nannte Beckstein aber auch eine „tragische Figur“ – weil der Instinkt nicht zum Erfolg führte. „Es ärgert mich bis heute, dass wir nichts herausgefunden haben“, sagt Beckstein.

Das Leiden der Hinterbliebenen

Zu all den denkbaren Motiven, von denen Beckstein spricht gehören auch solche, die den Hinterbliebenen großes Leid bereitet haben. Die Ermittler suchten das Mordmotiv in der Familie oder im Drogenmilieu. Dabei war Şimşek nie mit Drogendelikten in Verbindung gebracht worden. Es könne sich auch um eine Abrechnung unter Blumenhändlern handeln, sagte 2001 ein Beamter in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“.

Immer sei der Vorwurf im Raum gestanden, „ihr habt etwas zu verheimlichen“, schilderte Şimşeks Tochter Semiya wiederholt die Stimmung, unter der sie jahrelang litt. „In den elf Jahren bis zur Aufklärung war mein Vater ein potenzieller Verbrecher“, sagte sie in einer Dokumentation. Semiya, im hessischen Friedberg geboren, lebt heute in der Türkei.

Enver Şimşek hatte sich mit unglaublichem Fleiß vom Fabrikarbeiter zum Blumenhändler hochgearbeitet. Seine Arbeitswoche habe damals von Montag bis Sonntag gedauert, berichten Angehörige dem „Spiegel“.

Rechtsextremes Gedankengut in der Polizei

Auch wenn Beckstein seine Beamten bis heute in Schutz nimmt, sagt er, dass es „in der Polizei wie in der ganzen Gesellschaft Einzelne“ gebe, die rechtsextremes Gedankengut pflegten. Er habe damals entschieden, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft Polizeibeamte werden können. „Das hat auch das Klima in den Polizeidienststellen verändert.“

Es bleibt dennoch viel zu tun. Zuletzt gerieten vier Polizisten in Hamburg und Berlin unter Verdacht, weil sie private Daten abgefragt hatten. Die betreffenden Personen, die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah und Kabarettistin İdil Baydar, erhielten neben vielen anderen später Drohmails. Sie sind mit einem zynischen Pseudonym gezeichnet: „NSU 2.0“.

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