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1968 - 50 Jahre Studentenrevolte: „Alles in Frage stellen, finde ich an sich positiv“

Ein Streitgespräch über Antiautorität, Emanzipation, das Erbe der 68er und Jamaika zwischen Dorothee Bär (CSU) und Hans-Christian Ströbele (Grüne).

Das Treffen mit Dorothee Bär und Christian Ströbele findet im Jakob-Kaiser-Haus statt. Im sechsten Stock mit Blick auf den Reichstag lässt man sich nieder, um über die 68er zu sprechen. Die Stimmung ist gut, das Gespräch wird durchaus kontrovers.

Frau Bär, Sie haben Ihren Abschluss in Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der FU gemacht, quasi der Keimzelle der deutschen 68er-Bewegung. Sind Sie den 68ern dankbar für die Freiheiten, die diese erstritten haben?

DOROTHEE BÄR: Ich habe nicht den Eindruck, dass ich von deren Kämpfen sonderlich profitiert habe. 1968 haben meine Eltern geheiratet und die Junge Union mit aufgebaut. Mein Vater war damals in Bamberg in der CSU und der katholischen Studentenverbindung aktiv und wurde dafür heftig angegriffen. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn er erzählt, wie er als junger Mann auf dem Parteitag in Nürnberg war und die linken Demonstranten vor der Tür „CSU-SA-SS“ geschrien haben.

Das hat Sie nicht davon abgehalten, in Berlin am OSI zu studieren.

BÄR: Nach dem Vordiplom habe ich mir gedacht, was mache ich, wenn mich später meine Kinder fragen, ob ich zur spannendsten Zeit mal in Berlin war und ich sage „nee, ich war immer nur in München“. Da stehe ich ja als total spießig da. (lacht) Außerdem wollte ich Leute kennenlernen, die ganz anders politisch sozialisiert sind als ich. Ich bin regelmäßig bass erstaunt, wie jemand in meinem Alter mit einer ähnlichen Karriere bei der Linkspartei landen kann. Da frage ich mich immer, was ist da schiefgelaufen.

Herr Ströbele, sind Sie froh, dass die revolutionären Ziele von 1968 gescheitert sind?

HANS-CHRISTIAN STRÖBELE: Das stimmt ja nicht. Mit Ausnahme der Beseitigung der Staatsordnung haben wir viel an radikaler Veränderung bewirkt. Da liegen Welten zwischen heute und damals. Und dass die Räterepublik nicht kam, ist wohl besser so.

Individuelle Selbstbestimmung oder Gleichberechtigung, für die die 68er gekämpft haben, sind heute Konsens. Sie, Frau Bär, stehen als erfolgreiche Politikerin und dreifache Mutter geradezu dafür.

BÄR: Für diese gesellschaftliche Entwicklung hat es nicht die 68er gebraucht. Das Frauenwahlrecht haben wir seit 100 Jahren, gleichberechtigte Frauen gibt es auch in anderen Ländern. Und dass es um die Gleichstellung von Mann und Frau so gut bestellt ist, wie es Ihnen an meinem Beispiel theoretisch erscheinen mag, das bezweifle ich sehr. Ich habe erst heute früh mit einer Kollegin darüber gesprochen, dass wir in vielen Bereichen wieder frauenpolitische Diskussionen führen wie vor 20 Jahren. Wir müssen gerade an dem Thema noch deutlich intensiver arbeiten. Und was die 68er betrifft: Mir gefällt das Frauenbild von damals überhaupt nicht, genauso wenig wie die Selbstdarstellung. Diese zelebrierte Nacktheit, dieses Kommunenleben, in dem man sich doch wieder an Männer gekettet hat. Sich den BH auszuziehen alleine macht einen doch nicht frei!

STRÖBELE: Als ich an der FU Jura studierte, gab es in meinem Semester bei 350 Studenten zwei Frauen. Heute sind sie fast die Mehrheit. Und Frauen müssen nicht die Männer fragen, ob sie arbeiten dürfen. Das sind doch emanzipatorische Schritte dank der Frauenbewegung. Dass man über Aktionen der Apo streitet, ist normal. Wenn sie entgegenhalten, in anderen Ländern gab es ähnliche Emanzipationsbewegungen, stimmt das. Wir waren eben Teil einer weltweiten internationalen Bewegung. Emanzipatorischen Ideen kamen von überall. Von Berkeley USA, Lateinamerika, den Ländern des Westens, aber auch aus Prag. Das gilt auch für neue Protestformen wie Teach-ins, Sit-ins.

BÄR: Das ärgert mich, dass Sie sagen, man könne „über manche Aktionen streiten“. Da machen Sie es sich zu einfach. Es gab viel Gewalt, die Wurzeln der RAF liegen in 1968, Sex mit Kindern wurde schöngeredet. Aber das ist wieder typisch Deutsch. Alles, was links ist, auch wenn es ins Linksextreme geht, ist irgendwie aufregend und romantisch. Alles, was rechts ist, ist böse. Deswegen ist es wichtig, diese Zeit kritisch aufzuarbeiten und nicht zu glorifizieren.

STRÖBELE: Auf unsere Kritik, Proteste und Forderungen nach Veränderungen von Gesellschaft und Politik reagierten Staat und Establishment mit Repression und ungerechter Gewalt wie am 2. Juni 1967. (Am 2. Juni erschoss der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras bei Anti-Schah-Prostesten den Studenten Benno Ohnesorg; die Red.)

Eberhard Diepgen, früherer Regierender Bürgermeister von Berlin und CDU-Mitglied hat mal im FAZ-Interview gesagt: „Die 68er haben die Gesellschaft der BRD dialogfähig gemacht, notwendige gesellschaftliche Entwicklungen beschleunigt – und gesiegt hat die weiterentwickelte, parlamentarische Demokratie.“

BÄR: Immerhin kein CSU-Politiker, da bin ich ja schon mal beruhigt.

STRÖBELE: Die parlamentarische Demokratie könnte die beste Regierungsform hier bei uns sein, wenn die Bundestagsabgeordneten ihren Job ernster nähmen. Sie sind die erste Macht im Staat, die sie direkt vom Souverän, dem Volk, haben. Alle sollten unabhängige Vertreter des Volkes sein – nicht der Bundesregierung, um deren Politik umzusetzen. Eine Entwicklung dahin wünsche ich mir.

BÄR: Bundestagspräsident Norbert Lammert hat in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, das Selbstverständnis der Abgeordneten zu stärken.

STRÖBELE: Ich hätte ihn ja auch wiedergewählt. Auch zum Bundespräsident übrigens.

Hat 1968 eine fundamentale Liberalisierung der Republik in Gang gesetzt, oder ist das eine eitle Bedeutungszuschreibung der 68er, die damals eine absolute Minderheit waren?

STRÖBELE: Wir waren antiautoritär, haben alles, jede Autorität hinterfragt, nicht nur die von Eltern, Lehrern, Professoren, die zur Nazizeit bestenfalls geschwiegen hatten. Auch die der Politiker, die wieder nichts Kritisches sagten zum völkermörderischen Vietnamkrieg der USA und die sogar mit Diktatoren in der Dritten Welt paktierten. Wir waren nicht tolerant. Wenn Sie, Frau Bär, als RCDS-Vorsitzende vor TU-Studenten gesagt hätten, die Amerikaner in Vietnam seien unsere Verbündeten, wir sollten uns nicht einmischen – Sie wären nicht zu Wort gekommen. Heute bin ich für mehr Toleranz auch gegenüber denen auf dem falschen Weg, wenn sie die Menschwürde achten. Wir haben Fehler gemacht, wie alle revolutionären Bewegungen.

BÄR: Aber da hat sich doch nichts geändert. Linke, die Toleranz predigen, sind die Intolerantesten von allen. Wenn ein Linker „CSU“ hört, macht er die Schotten dicht, damals wie heute.

Antiautoritäres Verhalten gibt es heute selbst in der CSU. In der Jungen Union gehört es dazu, dass man der Vorsitzenden deutlich die Meinung sagt.

BÄR: Entscheidend ist: Geht es um eine andere Meinung oder um Respektlosigkeit. Die Autorität der Kanzlerin wird nicht in Frage gestellt, und der absolute Respekt ist vorhanden. Damals aber gab es keinerlei Respekt vor Autoritäten. Ich kann deshalb mit Antiautorität nicht viel anfangen. Es hat sich auch in der Erziehung gezeigt, dass das nicht funktioniert. Gerade Kinder brauchen Halt und Führung – jeder kann machen, was er will, keiner muss sich an irgendwelche Grenzen halten, das ist mir zu wurstig. Oder dass Werte diffamiert werden, wie es etwa Lafontaine Schmidt vorwarf, mit Pflichtgefühl und Verlässlichkeit lasse sich auch ein KZ leiten. Alles in Frage stellen, nichts als gegeben hinnehmen, finde ich grundsätzlich positiv. Aber nicht aus Wurstigkeit, sondern mit eingeschaltetem Hirn.

STRÖBELE: Wir haben doch nicht aus Langeweile protestiert und demonstriert. Eine wichtige Motivation war das Fehlen der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit. Überall entdeckten wir Leute, auch Professoren, die sich in der Nazi-Zeit schuldig gemacht hatten. Sogar im Bundesgerichtshof gab es alte Nazis, auch solche, die an Todesurteilen beteiligt waren. Eine Generation schwieg überwiegend, weil sie dabei war. Deshalb der Aufstand – von manchen gegen die eigenen Eltern, gegen Lehrer, für die Wehrmachtsoldaten noch „unsere“ Helden und Deserteure Verbrecher waren. Es sollte keine unhinterfragte Autorität geben. Wir wollten Veränderungen in allen Lebensbereichen der Gesellschaft, hier und weit darüber hinaus in anderen Ländern

Chancengleichheit, Umweltschutz, also Bewahrung der Schöpfung, individuelle Freiheitsrechte – das alles ist auch ein Erbe von 68. Ist das nicht im besten Sinne konservativ?

BÄR: Bewahrung der Schöpfung und Umweltschutz – auch da haben wir die 68er nicht gebraucht. Das erste Umweltministerium – nicht nur in Deutschland, sondern der Welt – wurde 1970 in Bayern von der CSU gegründet, von Ministerpräsident Alfons Goppel.

STRÖBELE: Sie wollen doch nicht sagen, Umweltschutz sei für die Union schon immer ein Herzensthema gewesen. Angela Merkel, Umweltministerin unter Helmut Kohl, hat als Kanzlerin die beschlossene Laufzeitbegrenzung von Atomkraftwerken erstmal aufgehoben, bis sie von Fukushima eines Besseren belehrt wurde. Wenn es die Anti-AKW- und Umweltbewegung nicht gegeben hätte, wäre nichts geschehen, keine Energiewende, kein Umweltschutz. Ohne die Schwulenbewegung kämen Homosexuelle weiter ins Gefängnis, statt vor den Traualtar.

Es gibt heute bei diesen Themen viele Berührungspunkte zwischen Grünen und Union, die Grundlage schwarz-grüner Koalitionen sein können.

BÄR: Deswegen hätte ich mich gefreut, wenn ein Jamaika-Bündnis zustande gekommen wäre. Wir haben in Baden-Württemberg einen Ministerpräsidenten, der näher an der CSU ist als an allen anderen Parteien. Seehofer und Kretschmann machen gemeinsam sehr gute Politik für den Süden der Republik. Da hat sich natürlich was bewegt. Als ich vor 16 Jahren in den Bundestag kam und sagte, wer als Flüchtling kommt, muss Deutsch lernen, wurde das von den Grünen noch als Zwangs-Assimilierung verurteilt. Heute vertritt jede Fraktion im Bundestag, dass Sprache natürlich der Schlüssel zur Integration ist.

STRÖBELE: Seit den ersten Gastarbeitern lernen Migranten Deutsch. Selbstverständlich. Gegen Jamaika war ich von Anfang an. Man soll nicht zusammenbringen, was nicht zusammenpasst. CSU und Grüne haben in vielen Bereichen verschiedene Werte und Vorstellungen, was wichtig, richtig, notwendig ist. Da kann man nicht einfach sagen, wir treffen uns in der Mitte, ohne dass eine Seite ihre Seele verkauft.

Einerseits argumentieren Sie, Frau Bär, viele Entwicklungen hätte es auch ohne 68 gegeben, andererseits dienen die 68er immer wieder als Feindbild. Ihr Parteifreund Alexander Dobrindt hat sich bei seiner Forderung nach einer „konservativen Revolution“ auf 68 bezogen und als Erbe von 68 einen schleichenden Freiheitsverlust durch linksgrüne Ideologie konstatiert sowie einen Zug hin zum bevormundenden Staat.

BÄR: 1968 ist eine medial sehr stark prägende Zeit. Jeder hat diese Fotos aus Kommunen oder von gewalttätigen Demonstrationen im Kopf. Alexander Dobrindt hat diesen Artikel in der „Welt“ geschrieben, weil spürbar ist, dass die Medien und die veröffentlichte Meinung näher an den 68ern sind, als es in der normalen Bevölkerung der Fall ist. Das ist ein Ungleichgewicht.

STRÖBELE: Die Kommunen haben es Ihnen angetan. Es ging um den Bruch mit verklemmter Sexualmoral. Wir waren gegen den Staat. Wie man darauf kommt, die 68er sind für den Staat, der die Menschen bevormundet, das ist doch absurd.

BÄR: Aus dem Aufbruch der Studenten wurde ein ideologischer Feldzug gegen das Bürgertum mit dem Ziel der Umerziehung der bürgerlichen Mitte. Alexander Dobrindt hat ganz klargemacht, dass aus der Partei, die mal dafür gekämpft hat, den Staat abzuschaffen, jetzt eine Verbotspartei geworden ist, die den Leuten vorschreiben will ...

STRÖBELE: Ach nee. Was denn – etwa den Veggie-Day? Fleischlose Freitage predigt auch Ihre Kirche.

BÄR: Das ist nur ein Punkt. Auch im Verkehrsausschuss erlebe ich, dass es bei den Grünen immer eher ums Verhindern als ums Gestalten geht. Die Grünen wollen viel mehr als die Union ein Lebensmodell vorschreiben. Als wir das Betreuungsgeld diskutiert haben, ist nie akzeptiert worden, dass die CSU allen Lebensmodellen eine Chance geben will – auch der Frau, die wegen der Kinder zu Hause bleibt. Das sind die Frauen, die sich heute rechtfertigen müssen, dass sie nicht direkt vom Kreissaal gleich wieder in den Acht-Stunden-Tag gehen.

STRÖBELE: Verhindern wollen wir, dass Autos die Umwelt verpesten. Und es sagt doch keiner von uns einen Pieps, wenn sie nach der Geburt zur Hause bleiben, um für das Kind zu sorgen oder in katholischer Familie leben. Mich ärgert, wenn man in 68 etwas Falsches reininterpretiert. Niemand sagt doch, alle müssen in Kommunen leben. Alle sollen leben, wie sie wollen, in der Klein- oder Großfamilie, verheiratet oder nicht, allein - oder in Wohngemeinschaften.

BÄR: Aber sie haben die Ehe abschaffen wollen.

STRÖBELE: Ja, als allein selig machende Form des Zusammenlebens. Als Folge der Diskussionen der 68er leben heute viele anders zusammen als früher in der oft gar nicht so „heiligen“ Familie.

Sind die AfD-ler die heimlichen Erben der 68er? Ist der Lügenpresse-Vorwurf die Fortsetzung von „Bild lügt“ und der Gegenöffentlichkeit von 68?

BÄR: Eine spannende Frage. 68 war der Versuch, ein System von Innen heraus zu zerstören und aus der Vernichtung von Institutionen persönliches Kapital zu schlagen. Und auch bei der AfD wird heute vieles, was erarbeitet und aufgebaut wurde, nicht aus hehren Gründen infrage gestellt. Für mich versucht die AfD durch ihre vermeintliche Opferrolle und den Missbrauch von sozialen Medien, die demokratische Gewalt auszuhebeln. Da besteht meines Erachtens eine Gefahr für die Demokratie.

STRÖBELE: Also niemand in der Apo wollte persönliches Kapital aus was auch immer schlagen. Die AfD ist in allen Bereichen das genaue Gegenteil der antiautoritären alternativen Bewegung von damals. Ihre Ideale sind nicht unsere. Wir stehen für Internationalismus und Würde für alle Menschen.

Das Gespräch moderierten Ruth Ciesinger und Gerd Nowakowski.

Mehr Tagesspiegel-Artikel sowie Gastbeiträge zum Thema 50 Jahre Studentenrevolte können Sie hier lesen. Wie der Tagesspiegel vor 50 Jahren berichtete, erfahren Sie hier.

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