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1. September 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein.

© imago images / United Archives

1939, 1989, 2019: Der politische Wille zur Erinnerung wirkt merkwürdig gebremst

Aus 1939 und 1989 ergibt sich eine Verantwortung, Europas Zukunft zu sichern, gerade auch für die große Wirtschaftsmacht in Europas Mitte. Ein Kommentar.

Innehalten. An das Unfassbare erinnern. Und die Millionen Opfer als Menschen und Individuen auferstehen lassen, indem wir ihrer gedenken.

Vor 80 Jahren begannen die Deutschen den Zweiten Weltkrieg: mit dem Überfall auf Polen, im Bündnis mit Stalin, der 16 Tage später von Osten einmarschierte. Auf die Vorstöße der Wehrmacht folgten die Ermordung der polnischen Intelligenz, die Vertreibungen aus Gebieten, um Deutsche anzusiedeln, der Angriff auf die Sowjetunion und der Genozid an den europäischen Juden. Sie hatten zum Großteil in Polen gelebt, so errichteten die Nazis dort ihre Vernichtungslager.

Noch immer wissen viele Deutsche wenig von den Gräueln und Zerstörungen in ihrem Nachbarland. Der Fall der Mauer 1989 – auch da spielte Polen eine Schlüsselrolle dank des Widerstands der Gewerkschaft Solidarnosc gegen die kommunistische Diktatur – und Polens EU-Beitritt haben neue Möglichkeiten zur Begegnung eröffnet. Die Wissenslücken aber sind geblieben. Es ist gut, dass mehr als 200 Bundestagsabgeordnete die Idee eines Gedenkorts in Berlin für die polnischen Opfer der NS-Zeit unterstützen. Es bleibt freilich ein Makel, dass die Volksvertreter sich nicht rechtzeitig auf ein Projekt einigten, mit dem sie Polen am 80. Jahrestag gegenübertreten. Das hätte helfen können, den Streit um polnische Reparationsforderungen zu mildern.

Der politische Wille zur Erinnerung wirkt im Gedenkjahr 2019 merkwürdig gebremst. Das gilt für die Scham über die Kriegsverbrechen wie für die Freude über die friedliche Befreiung Mitteleuropas. Dabei gehören 1939, 1989 und die Lehren daraus zusammen. Der laue Impetus lässt sich erklären. Die Beziehungen zu den Partnern, die im Mittelpunkt stehen müssten, sind gestört.

Die richtige Balance finden

Polen war das erste Kriegsopfer, hat gemessen an der Bevölkerungszahl mehr erlitten als andere und war Vorreiter bei der Wende 1989. Heute wird es von der nationalpopulistischen PiS regiert; sie missachtet Grundwerte wie eine unabhängige Justiz und freie Medien. Das tut auch Viktor Orban in Ungarn. Dennoch: Ungarn hat mit der mutigen Entscheidung, die Grenze 1989 für DDR-Flüchtlinge zu öffnen, den ersten Stein aus der Mauer gebrochen. Soll Deutschland sich wegen der aktuellen Unzulänglichkeiten nicht zu historischer Schuld und Dankbarkeit bekennen?

Weit schwieriger ist der Umgang mit Russland. Die Sowjetunion war zu Kriegsbeginn Mittäter. Erst im Kriegsverlauf wurde sie zu einem Opfer und dann zur Siegermacht. Boris Jelzin hat die Doppelrolle eingestanden. Putin ist nicht dazu bereit. Polen lädt ihn nicht zum Gedenken ein. Wohl aber den Bundespräsidenten. Deutschland leugnet seine Schuld nicht, lässt aber seine Macht wieder spüren. Es neigt vermehrt dazu, Nachbarn Vorgaben zu machen, von Migrations- bis zu Energiefragen – nicht gestützt auf Panzer wie einst, sondern in der Attitüde, als hätten die Deutschen mehr als andere aus der Geschichte gelernt und seien an Einsicht und Moral überlegen.

Gewiss, aus 1939 und 1989 ergibt sich eine Verantwortung, Europas Zukunft zu sichern, gerade auch für die große Wirtschaftsmacht in Europas Mitte. Deutschland muss zu klaren Worten und zu Engagement bereit sein. Aber in Maßen. Jahrestage wie der 1. September dienen als Mahnung, sich zu vergewissern: Finden die Deutschen die richtige Balance zwischen ihrer Verantwortung für die Vergangenheit und der für die Zukunft?

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