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Ikonen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Willy Brandt und der Vordenker seiner Ostpolitik Egon Bahr, hier bei einem Waldspaziergang 1979.

© Fritz Fischer/dpa

100. Geburtstag von Egon Bahr, Architekt der Ostpolitik: Glückwunsch an einen Unverstandenen

Der Erfolg der Entspannungspolitik beruhte auf Stärke gegenüber Moskau. Das haben viele verdrängt. So wurde Deutschland erpressbar durch Putin. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ein Schatten liegt über dem Jubiläum. Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre, wäre in dieser Woche 100 Jahre alt geworden.

In normalen Zeiten wären das Festspiele für die SPD: Sie hat die historische Kompetenz für Friedens- und Entspannungspolitik. Sie weiß besser als andere, wie Interessenausgleich mit Moskau geht.

Was Bahr begonnen hatte, mündete in den Fall der Berliner Mauer und die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Ein Gewinn an Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung mit Mitteln der Diplomatie.

Doch es herrscht Krieg in Europa. Wladimir Putin möchte die Wende von 1989 mit Gewalt zurückdrehen. Diplomatie kann bislang wenig dagegen ausrichten.

Schlimmer noch: Vieles, was wechselnde Bundesregierungen in den letzten drei Jahrzehnten unter Berufung auf Egon Bahrs Ostpolitik und seine Formel „Wandel durch Annäherung“ mit Moskau vereinbart haben, wirkt im Rückblick wie ein Brandbeschleuniger für den jahrelangen Konflikt in der Ukraine.

Der Ausbau des Handels hat nicht zu gegenseitiger Abhängigkeit geführt, die Frieden garantiert, sondern zu einseitiger deutscher Abhängigkeit von russischer Energie. Berlin kann die Palette ökonomischer Sanktionen nicht voll nutzen, um den Krieg zu beenden.

Putin droht mit Lieferstopp. Beide Seiten kalkulieren, dass Deutschland einen Boykott russischer Energie nicht so lange durchhält wie Russland einen Ausfall der Petrodollar.

Das Ergebnis des Glaubens an die Friedensdividende, die Verlässlichkeit von Verträgen über Rüstungsbegrenzung und eine Partnerschaft der Nato mit Russland ist: Die Bundeswehr steht blank da. Putin hat eine hochgerüstete Armee.

Mauerbau und Schießbefehl zeigten die Schwäche Moskaus

Der traurige Stand der Dinge ist nicht Egon Bahrs Schuld, sondern Folge einer falschen Interpretation der Gründe für den Erfolg seiner Ostpolitik. Als der vormalige Tagesspiegel-Journalist Bahr die „Politik der kleinen Schritte“ unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt begann, handelten beide aus einer Position der Stärke.

Die Sowjetunion und das Regime in der „Zone“, wie man damals sagte, hatten das Ringen um Berlin politisch, ökonomisch und militärisch verloren. Mehrere Versuche, den freien Teil der Stadt vom Westen abzuschneiden, waren misslungen.

Die Bürger liefen ihnen davon. Es folgten Mauerbau und Schießbefehl. Auf den Beistand der USA aber war Verlass, das zeigten die dramatischen Bilder der Panzer am Checkpoint Charlie. Und bald darauf der Besuch des Präsidenten John F. Kennedy. "Ich bin ein Berliner."

Um das menschliche Leid zu lindern, verhandelte Bahr in Brandts Auftrag Passagierscheinabkommen. West-Berliner durften ihre Verwandten im Osten an Feiertagen besuchen. Es war der Probelauf für die neue Ostpolitik: die Anerkennung des Status Quo als Voraussetzung, um ihn aufzuweichen.

Brandt und Bahr hatten Erfolg dank militärischer Stärke

Aus einer Position der Stärke verhandelten auch der Kanzler Brandt und sein Emissär Bahr bei den Verträgen über eine Normalisierung der Beziehungen mit den Regierungen in Moskau, Warschau und Berlin (Ost). Der Wehretat der Bundesrepublik lag damals über vier Prozent vom BIP, fast drei Mal so hoch wie heute. Mehrere Hunderttausend Soldaten der Alliierten schützten den kalten Frieden.

Ironie der Geschichte: Auch Bahr ignorierte mit dem Verlauf der Zeit die Vorbedingungen des Erfolgs der Ostpolitik. Und mit ihm die SPD. Das Ziel des Wandels geriet aus den Augen, die Annäherung an die DDR und an Moskau wurden zum Selbstzweck.

Hochmütige Empfehlungen an die Freiheitsbewegung Solidarnosc

Der polnischen Freiheitsbewegung Solidarnosc rieten die Sozialdemokraten, sie solle, bitte, den Frieden in Europa nicht gefährden. Im Herbst 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, nannte Bahr den Glauben an die Wiedervereinigung "Heuchelei" und "politische Umweltverschmutzung". Selbst in den Tagen nach dem Mauerfall 1989 bezeichnete er es als "Lebenslüge, über Wiedervereinigung zu reden".

Willy Brandt hingegen sagte, unter Rückgriff auf ein Zitat aus der deutschen Teilung: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.

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Deutschland und die SPD dürfen Egon Bahr am Freitag feiern, trotz des Kriegs in der Ukraine. Auch wenn der eine Folge der Lebenslüge ist, auf die Verteidigungsfähigkeit komme es nicht mehr an. Nur sollte man dabei die Realität der Ostpolitik in den 1960er und 1970er Jahren nicht verdrängen.

Entspannung gelang damals, weil Brandt und Bahr auf die politische, ökonomische und militärische Stärke der Bundesrepublik und des übrigen Westens bauen konnten. Und darauf, dass Moskau keinen Zweifel hatte, dass sie sie, wenn nötig, nutzen würden.

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