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Ein Demonstrant der "Gelbwesten" schwenkt eine französische Flagge während einer Demonstration am Internationalen Tag der Arbeit.

© Francois Mori / AP / dpa

1. Mai: Jour Fixe der Rebellion

Die Berliner haben wohl die Fackeln des 1. Mai an die Pariser gereicht: Hier war ein Familiensparziergang möglich, dort herrschte Ausnahmezustand. Eine Kolumne.

Noch vor wenigen Jahren war Kreuzberg, genauer gesagt das SO 36, die Hochburg der traditionellen Straßenschlachten am 1. Mai. Und erst recht erinnern sich die Berliner nur zu gut an die 80er und 90er. Einmal im Jahr lag damals die Kampfzone direkt vor der Haustür: brennende Autos, Barrikaden, Tränengaswolken, Pflastersteine und Flaschen, die durch die Luft flogen, rot-schwarze Fahnen und schwarz vermummte Gruppen von jungen Leuten. Autonome, Antifa, Hausbesetzer, Punks und Randalierer aller Art strömten für diesen Tag nach Berlin. Besser man mied die Oranienstraße und den Görli, wenn man in Ruhe spazierengehen wollte, und verlegte sich auf die ruhigen Stadtviertel im Süden von Berlin. Zwischen Tennisclub und Grunewaldvilla war die Welt noch in Ordnung.

In Frankreich rieb man sich die Augen. Dieses so ordentliche Deutschland, dieses Modell des sozialen Friedens, gönnte sich einmal im Jahr seinen jour fixe der Rebellion.

Damals zeigte sich Paris von seiner friedlichen Seite: Am Morgen des 1. Mai sah man auf der Straße vor allem brave Familienväter mit einen Kuchenkarton in der einen und einem Strauß Maiglöckchen als Glücksbringer für die zauberhafte Ehegattin in der anderen Hand. Ausgiebige Familienmittagessen, gefolgt von einem Mittagsschläfchen. Draußen demonstrierten die Gewerkschaften in Reih und Glied hinter ihren Bannern auf den großen Boulevards. Der 1. Mai war ein Festtag. Der Tag der Arbeiterbewegung. Wer Revolution machen wollte, musste den Rhein überqueren und bis nach Berlin reisen.

Heute steht die Welt auf dem Kopf. In Kreuzberg und Friedrichshain herrschte am Mittwoch fast so etwas wie eine träge Stille, ideal für einen Familienspaziergang. In Grunewald hingegen protestierte ein Demonstrationszug gegen die horrenden Immobilienpreise und störte die Ruhe der Reichen. Der Sprecher der Berliner Polizei verkündete: „Es war ein überwiegend störungsfreier 1. Mai.“ Und alle stießen einen Stoßseufzer der Erleichterung aus: Die deutschen Demonstranten waren nicht auf die Idee gekommen, es den Gelben Westen nachzumachen.

Ausnahmezustand in Berlin

Ein wenig scheint es so, als hätten die Berliner die Bürgerkriegsfackel an die Pariser weitergereicht. Denn am Mittwoch herrschte in Paris der Ausnahmezustand: 7400 Polizisten und Gendarmen im Einsatz, 28 000 Demonstranten laut Polizei, 40 000 laut den Veranstaltern. 380 Festnahmen und 250 Ingewahrsamnahmen. 24 verletzte Demonstranten, 14 verletzte Polizisten. Die Avenue des Champs Elysée mit ihren Luxusboutiquen und die Place de la Concorde abgeriegelt. Dronen, die potentielle Gewalttäter unter den Demonstranten ausmachen sollen. Anarchisten, Gelbe Westen, Schwarzer Block: Aus ganz Frankreich waren die wütenden Demonstranten in die Hauptstadt gekommen. Randale, brennende Autos, Barrikaden und Tränengaswolken – dieses Jahr spielte die antikapitalistische Musik in Paris.

Die Bürgermeisterin von Paris fragt sich verzweifelt, ob das irgendwann ein Ende haben wird - Tage mit riesigem Polizeieinsatz, verwüstete Geschäfte und Monumente, die Montagmorgen wieder instandgesetzt werden müssen. Das geht nun schon sechs Monate so. Für die Gelben Westen war der 1. Mai nur ein kleines Zwischenspiel, diesen Samstag geht es für sie weiter. Es ist dann für sie bereits der 25. Akt.

Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.

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