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Zerstörungen durch ägyptisches Militär in der geteilten Stadt Rafah.

© AFP

Ägyptens Armee auf dem Nordsinai: Zwangsvertreibungen aus Rafah

Nach dem schwersten Anschlag gegen Sicherheitskräfte auf dem Sinai seit einem Jahr gilt nun für die Region der Ausnahmezustand. Kairo errichtet eine Pufferzone zum Gazastreifen.

Auf Twitter haben sie ihre Abschiedsfotos verbreitet. Verzweifelte Gesichter, Eselskarren hochbepackt mit Hab und Gut. Auf anderen Internetbildern sind grelle Explosionen zu sehen, die aus den Wohnhäusern in Augenblicken Trümmerhaufen machten. Bulldozer schieben die Reste zusammen. Und viele der Zwangsvertriebenen auf dem Sinai stehen zwischen ihren Ruinen und wissen nicht wohin. „Unser Haus in Rafah ist mehr als 60 Jahre alt“, twitterte einer der betroffenen Bewohner. Ein Armeeoffizier habe der Familie befohlen, das Haus sofort zu verlassen. „Als wir uns weigerten, erklärte er, er werde morgen wiederkommen und das Haus mitsamt seinen Insassen in die Luft sprengen.“

Seit dem Autobombenattentat am vergangenen Freitag gegen das Militärlager Karm al Qawadees auf dem Nordsinai, bei dem 33 Soldaten starben und mehr als 30 teilweise schwer verletzt wurden, gehen Ägyptens Generalstab und Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al Sisi aufs Ganze. Der Anschlag war der schwerste seit dem Sturz von Mohammed Mursi im Juli 2013. Insgesamt kamen in den vergangenen anderthalb Jahren mehr als 600 Soldaten und Polizisten durch Terrortaten ums Leben.

Die Pufferzone ist 500 Meter breit und 14 Kilometer lang

In der von der Gaza-Grenze geteilten Stadt Rafah begann die Armeeführung nun, einen 500 Meter breiten und 14 Kilometer langen Korridor durch die Wohnviertel zu pflügen, um „Terrornester auszuheben“ und die letzten noch verbliebenen Schmuggeltunnel zu zerstören. Mindestens 10.000 Bewohner von 800 Häusern sind betroffen. Viele erfuhren von ihrem Schicksal erst per Megafon und wurden innerhalb von Stunden davongejagt. „Ausländische Hilfe“ sei bei dem Attentat im Spiel gewesen, deklamierte Präsident Sisi und meinte damit offenbar Extremisten aus dem Gazastreifen. Seit Monaten schon darf kein Journalist den Nordsinai mehr betreten. Im Norden und im Zentrum der unwirtlichen Halbinsel ließ Sisi für die kommenden drei Monate den Notstand ausrufen und eine nächtliche Ausgangssperre verhängen.

Gleichzeitig nutzt das Regime in Kairo die Terrorkrise, um die noch verbliebene Opposition – Studenten, Muslimbrüder und Mitglieder der Demokratiebewegung – nun endgültig zu ersticken. Per Dekret weitete Präsident Sisi die Zuständigkeit der Militärgerichte so erheblich aus, dass jetzt sogar festgenommene Demonstranten, protestierende Studenten oder Schüler von diesen Schnellgerichten verurteilt werden können. Öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Kraftwerke, aber auch Autostraßen wurden unter den Schutz der Armee gestellt. Wer auf einer Fahrbahn protestiert und den Verkehr behindert, kann künftig kurzfristig zu einer jahrelangen Gefängnisstrafe verurteilt werden.

Nur weniger Kritiker wagen es noch, Zweifel an der Führung zu äußern

Angesichts dieses öffentlichen Hurra-Patriotismus wagen es nur noch wenige Kritiker, Zweifel an Ägyptens hyperautoritärer Politik zu äußern. „Wir sehen jetzt bestätigt, was wir schon seit Monaten denken“, erklärte Gamal Eid vom Arabischen Netzwerk für Menschenrechte. „Ägypten erstarrt in der Herrschaft von Polizei und Militär.“ Spöttisch verbreiten Aktivisten im Internet „das neue ägyptische Monopoly“: auf allen Feldern steht nur noch „Gehe sofort in das Gefängnis“. Schätzungsweise 20 000 politische Häftlinge sitzen hinter Gittern, darunter 2000 Studenten. Abertausende von ihnen wissen nicht, was ihnen vorgeworfen wird. Mehr als 100 eingesperrte Aktivisten befinden sich im Hungerstreik. Einige sind bereits so geschwächt, dass sie nicht mehr allein laufen können.

Das politische Klima im Land sei zutiefst polarisiert, urteilte das Zentrum des amerikanischen Ex-Präsidenten Jimmy Carter, das seit dem Arabischen Frühling Wahlbeobachter nach Ägypten geschickt hatte. Jetzt machte die Organisation ihr Büro am Nil dicht. Aktivisten, Oppositionsgruppen und kritische Journalisten würden unterdrückt, kombiniert werde dieser Druck „mit scharfen Restriktionen für zentrale Freiheiten wie Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit“, hieß es zur Begründung.

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