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An der Pforte des Einsteinufers. Eines Tages steht Juan Camilo Alfonso vor Thomas Bintigs Pförtnerhaus. „Ich kann Dich malen“, sagt er.

© Marion Borriss

Pfortengespräche an der UdK Berlin: „Jeder kann Kunst. Jeder ist jeder“

Pforten-Gespräche an der UdK Berlin: Die Geschichte einer bereichernden Begegnung.

Thomas Bintig möchte sich malen lassen. Das hat sich unter den Studierenden mittlerweile herumgesprochen: Der Pförtner der UdK Berlin wünscht sich ein Porträt. Keine Zeichnung, wie sie einst jemand auf einem Rummel von ihm gefertigt hat. Nein, Bintig möchte etwas Besseres. Und er weiß, dass er davon profitieren kann, an der größten Kunsthochschule Europas zu arbeiten.

Seit zweieinhalb Jahren sitzt Bintig an den Pforten der UdK Berlin, spricht mit den Leuten, interessiert sich dafür, was sie machen und wo sie herkommen. Der 59-jährige Berliner aus Hellersdorf händigt Schlüssel aus und kontrolliert, ob abends alle Fenster geschlossen sind. Er besucht UdK-Ausstellungen, kennt die Professorinnen und die Studenten, weiß, wer spät abends noch an seinem Schreibtisch sitzt und wer morgens schon um sechs Uhr für einen Auftritt probt.

Eines Tages steht ein Mann vor dem Pförtnerhaus am Einsteinufer. Er ist um die 30, hat schwarze Locken, trägt einen Dreitagebart und ein gelbes T-Shirt, das den Blick freigibt auf schlanke Arme mit einigen Tattoos. Sein Lächeln geht fast über das ganze Gesicht. Er sagt zu Bintig: „Ich kann Dich malen.“

Der junge Mann heißt Juan Camilo Alfonso und ist Bildender Künstler aus Kolumbien – mit einer besonderen Vorliebe für Street Art. Aktuell studiert er den Master „Kunst im Kontext“. „Ich mache Kunst, um solche Begegnungen zu schaffen“, erzählt Alfonso, „dafür lebe ich.“ Kunst hat für Alfonso immer unmittelbar etwas mit seiner Umgebung zu tun. In seiner Heimatstadt Bogotá hat Alfonso Bildende Kunst studiert - an der Universidad de los Andes. Er weiß, was für ein Privileg das ist. „Ich war immer der Typ von der Uni da“, erzählt er. Die Ungleichheit ist in Lateinamerika viel stärker ausgeprägt als in Europa, zwischen den sozialen Schichten klafft ein großes Loch. „Diese Art von Begrenzung war etwas, was ich überwinden musste. Street Art hat mir geholfen, die Stadt anders kennenzulernen.“

Liebhaber der verlorenen Orte

Alfonso mag die verlorenen Orte – in Bogotá, in Ägypten, Griechenland oder auch in Leipzig und Halle. Dunkle oder dreckige Orte, die niemand anguckt, an denen die Leute gerne schnell vorbeigehen. „Wenn man da hingeht und ein pinkfarbenes Wandbild malt, bringt das Licht an diesen Ort. Es bringt Leben.“ Nach dem Studium ist der Künstler ein Jahr lang durch Lateinamerika gereist und hat auf den Straßen gemalt. Gearbeitet. „Street Art ist sehr körperliche Arbeit“, sagt er, „es ist sehr anstrengend.“ Alfonso mag es, Orte tief zu durchdringen. Bei der Arbeit auf der Straße lernt er sie aus einer anderen Perspektive kennen. „Ich lerne die street dynamics“, erzählt Alfonso. „Wo ist es ruhig, wo nicht? Was ist los mit der Frau, die immer in dieser Ecke steht? All diese kleinen Details, die nicht so oberflächlich sind. Das macht uns Mensch. Das ist unsere Kultur.“

Alfonsos Dynamik, seine Kunst, seine Erzählungen – Bintig ist davon sofort begeistert. „Was sagt Albert Einstein?“, wirft er in die Diskussion ein: „Man soll niemals aufhören, Fragen zu stellen. Das ist auch mein Motto: Quatscht miteinander, dann könnt ihr was bewegen!“

Alfonso möchte zunächst verstehen, was sich Bintig von einem Porträt erwartet. Als sich beide darauf einigen, dass es wieder eine Zeichnung werden soll, macht der Student viele Fotos, besorgt Papier und drei verschiedene Bleistifte und zeichnet in seinem Atelier. Zunächst die helleren Töne, dann die dunkleren, zuletzt die Details. Jeden Zwischenstand dokumentiert Alfonso und schickt ihn Bintig aufs Smartphone. Der versucht erst gar nicht, seinen Stolz zu verbergen. „Gucken Sie mal, wie detailgetreu. Sogar die Schatten auf der Brille sind richtig getroffen, der Schnurrbart, die Augen, selbst die Altersfalten!“ Das Porträt hat einen Ehrenplatz verdient: Es hängt in Bintigs Schlafzimmer über seinem Bett.

"Mein Maestro"

„Mein Maestro“ nennt Bintig den Studenten fortan. Bintig möchte wissen, womit sich Alfonso sonst beschäftigt. Der erzählt ihm, dass es ihm vor allem die Kunst im öffentlichen Raum angetan hat. Einer der Schwerpunkte des Masters Kunst im Kontext. Er möchte Strategien entwickeln, um Menschen aktiv an Kunstprojekten teilhaben zu lassen. So hat er es auch in Bernau Süd gemacht. Er ist mit einem mobilen Malstudio durch die Siedlung gefahren und hat sich Bernauer Geschichten und Legenden erzählen lassen. An den „Zickenschulze aus Bernau“, zum Beispiel, „aus Zilles und Nantes Zeiten“, erinnert sich auch Bintig noch gut. Diese Geschichten hat Alfonso mit Kindern aus Bernau neu interpretiert und mit ihnen an die Wände gemalt. Jeder kann Kunst, findet Alfonso. Er will den Menschen den falschen Respekt davor nehmen.

Als Alfonso eine partizipative Ausstellung in Bernau hat, besucht ihn Bintig. Dort kann er Linolschnitt selber ausprobieren. Er macht viele Fotos, dokumentiert die Werkzeuge, mit denen Alfonso die Geschichte der jüdischen Familie Lehmann aufgearbeitet und ausgestellt hat. Auch auf Instagram folgt er dem Künstler. Manche Bilder guckt er sich lange an. „Kunst braucht Zeit“, sagt er. „Dieses Bild zum Beispiel, das hab ich mir angeguckt und gedacht: Mensch, was ist das? Ist das ein Auto? Ein Motorrad? Eine Krabbe? Eine Ameise? Oder ist das ein Untier? Sagenhaft!“ Wegen Bintig hat Alfonso angefangen, auch mal auf Deutsch zu posten, nicht immer nur auf Spanisch.

„Und, kannst Du Kunst jetzt?“, fragt Alfonso und strahlt. „Werd’ ich nie können“, erwidert Bintig, „ich kann nicht Kunst.“ – „Doch.“ – „Nein.“ – „Doch.“ – „Niemals. Ich sehe mir Kunst gerne an. Und wenn sie Auswirkungen hat, wie auf Deine Kinder in Bernau, dann ist das toll. Aber ich kann das nicht“, sagt Bintig und wirkt dabei rundum zufrieden. Dass er Spaß am Töpfern hat und mit Photoshop umgehen kann, verschweigt er. Doch Alfonso ist sich sicher: „Jeder kann Kunst. Jeder ist jeder.“

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