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Eine Windkraftanlage in Brandenburg

© dpa/Patrick Pleul

Pfadabhängigkeit in der Energiewende: Wege aus der fossilen Sackgasse

Die Energiewende ist in Deutschland eine Erfolgsgeschichte, jedoch kein Selbstläufer. Die Theorie der Pfadabhängigkeit erklärt, warum der Umstieg auf Windkraft schwerfällt.

Das Jahr 2020 war ein Meilenstein für die Produktion von Windenergie in Deutschland. Mit einem Anteil von einem Viertel an der Stromerzeugung hat sie erstmals Kohle als wichtigste Energielieferantin abgelöst. Auch wenn das Wachstum nun stocken könnte, ist Windenergie in Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Sie ist zentral für die Energiewende und hat zahlreiche Arbeitsplätze in der Fertigung von Windkraftanlagen geschaffen.

Ihr Siegeszug war jedoch kein Selbstläufer. Das zeigt der internationale Vergleich: In Japan etwa spielt Windenergie bei der Energiegewinnung kaum eine Rolle – über diese Energieform wurde 2017 weniger als ein Prozent des verbrauchten Stroms produziert. Verantwortlich dafür seien Pfadabhängigkeiten, sagt Jörg Sydow, Professor für Unternehmenskooperation an der Freien Universität. „Im Energiesektor muss man erhebliche Investitionen tätigen, um sich zu etablieren. Das führt zur Entwicklung eines pfadabhängigen Systems“, sagt der Betriebswirt.

Neue, eigentlich überlegene Techniken können sich nicht durchsetze

Pfadabhängigkeit bedeutet mehr als nur, dass vergangene Entscheidungen uns weiterhin beeinflussen. Vor allem geht es darum, wie die Wirtschaft durch das Streben nach Effizienz so gut auf eine etablierte Technologie abgestimmt wird, dass neue, eigentlich überlegene Technologien sich nicht durchsetzen können. Ganze Wirtschaftszweige können so zu Opfern ihres eigenen Erfolgs werden. „Unternehmen sind nicht so frei, wie es in einer freien Marktwirtschaft scheint. Sie sind Gefangene ihres eigenen Pfads“, sagt Jörg Sydow.

Ein Beispiel: der sogenannte Formatkrieg in den 1980er-Jahren, bei dem sich das VHS-Videoformat gegenüber dem Konkurrenten Betamax durchsetzen konnte. Ganz egal, welches Format technisch besser war – je mehr Abspielgeräte und Filmverleiher VHS verwendeten, desto weniger Chancen hatten die anderen Kassetten auf dem Markt. In der Fachliteratur spricht man von Netzwerkexternalitäten und Koordinationseffekten. Auch Skaleneffekte sind am Werk: Je größer die Produktionsmengen, desto geringer die Stückkosten.

In der Energiebranche sind ähnliche Effekte zu beobachten. Das beschreiben Jörg Sydow und zwei weitere Betriebswirtschaftsprofessoren – Georg Schreyögg von der Freien Universität sowie Takahiro Endo von der Hitotsubashi- Universität in Japan – in einem Beitrag im „Oxford Handbook of Industry Dynamics“, das in diesem Jahr erscheint. Die Autoren nehmen vier Länder unter die Lupe, neben Deutschland sind das Japan, Großbritannien und China. Die Schlussfolgerung: Für den Erfolg der Windkraft braucht es beharrliche Förderung und ein erfolgreiches Zusammenspiel aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. In Deutschland hatte die Förderung der erneuerbaren Energien mit einem festen Einspeisetarif großen Anteil an ihrem Ausbau. Und obwohl dieser mitverantwortlich dafür ist, dass Deutschland heute die höchsten Strompreise weltweit hat, wurde der Tarif in vielen Ländern kopiert – denn eine ausbleibende Energiewende wäre noch teurer.

Ingenieure aus Baden-Württemberg waren technologische Vorreiter

Heute kann ein einziges Windrad mehrere Tausend Haushalte mit Strom versorgen. In den 1980er Jahren war man davon weit entfernt. Zu den wichtigsten Pionieren zählten damals Ingenieure in Süddeutschland. Geforscht worden sei zwar auch an britischen Universitäten und in japanischen Unternehmen wie Mitsubishi, sagt Jörg Sydow, doch als wirtschaftlich praktikable Energiequelle habe man die Windkraft dort nicht ernstgenommen.

Anders bei den baden-württembergischen Ingenieuren: Sie waren nicht nur technologische Vorreiter, sondern auch außerordentlich gut vernetzt: mit den Technischen Universitäten ebenso wie politisch. „Die Anti-Atom-Bewegung hat bewirkt, dass die Tüftelei politischen Rückenwind bekommen hat“, sagt Jörg Sydow. Diese Vernetzung sei auch maßgeblicher Antrieb dafür, dass sich in Deutschland eine profitable Windenergieindustrie entwickeln konnte, in Großbritannien aber nicht. Die lebhafte Gründerszene Süddeutschlands traf im Norden auf ideale Bedingungen, um moderne Windräder zu fertigen: Der Niedergang der Werftindustrie schickte zahlreiche Fachkräfte im Metallbau auf Jobsuche – und an Wind mangelt es an der Küste nicht. Inzwischen besteht die Branche aus wenigen Großproduzenten, darunter Weltmarktführer wie der Onshore-Windradspezialist Enercon. In Großbritannien hätte es ähnlich gute Bedingungen gegeben: Auch die traditionsreiche Werftindustrie im Nordosten Englands konnte der internationalen Konkurrenz nicht standhalten. Die heute wirtschaftlich schwache Region hätte von der Windkraftindustrie enorm profitieren können. Eine vertane Chance, sagt Jörg Sydow.

China ist nicht so monolithisch, wie es scheint

Die größten Produzenten von Windkraftanlagen finden sich mittlerweile in China, auch wenn Windkraft bislang nur einen kleinen Anteil des chinesischen Stromverbrauchs deckt. Innerhalb des Landes gebe es große Unterschiede, sagt Jörg Sydow. „China ist nicht so monolithisch, wie es scheint, die Provinzen haben in der Wirtschaftspolitik einige Autonomie.“ Anders als in Deutschland wurde der Ausbau der Windenergie dort politisch koordiniert und mit massiven Investitionen von Staatskonzernen vorangetrieben.

Wie breit die Theorie der Pfadabhängigkeit angewendet werden kann, zeigen die mehr als 1700 wissenschaftlichen Zitationen eines Fachartikels aus dem Jahr 2009, den Jörg Sydow mit Georg Schreyögg und dem früheren Institutsmitarbeiter Jochen Koch, heute Professor an der Europa-Universität Viadrina, verfasst hat. Das Journal – die weltweit führende Theoriezeitschrift „Academy of Management Review“ – hat den Artikel 2019 mit dem „Decade Award“ ausgezeichnet. „Die klassische Ökonomik kann nicht erklären, warum wirtschaftlicher Wandel oft so lange dauert, obwohl überlegene Lösungen vorhanden sind. Dafür braucht es eine geschichtliche Perspektive“, sagt Jörg Sydow. Nimmt man diesePerspektive ein, entdeckt man Pfadabhängigkeiten an vielen Orten. Ein Beispiel: Die deutsche Automobilindustrie habe den Verbrennungsmotor perfektioniert, statt auf Elektromobilität zu setzen und stehe nun vor großen Herausforderungen.

Jonas Huggins

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