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Patisserie: Die Ghostbäcker

2000 Desserts für Bankette - woher kommen die so schnell? Meist aus der Großwerkstatt der Brüder Walter, die Patisserie für die Fine-Dining-Branche liefert.

Von Susanne Leimstoll

Kies, Steine, Felsen, Moos. „Kare-san- sui“ ist eine essbare Zengarten-Landschaft. Der Boden aus Zwetschgen-Gel ist frisch mit dem Rechen bearbeitet, die glatten, grauen Felsen füllt Schokolade, Getreide-Crumble mimt Kieselsteinchen, der krümelige Boden besteht aus Raucherde und die drei Moosschwämmchen sind aus Grüntee-Biskuit. Perfekte Bühne für das letzte pflaumenrote Element, eine zart schmelzende Nocke Zwetschgensorbet. Eine Augen- und Gaumenweide, ein Dessert aus der Ideenwerkstatt von Sternekoch und Molekularküchen-Anhänger Juan Amador.

Anrichten und servieren kann das jeder mit ruhiger Hand. Das Dessert wird als Bausatz geliefert, schockgefrostet, aufzutauen in sechs Stunden. Die beiliegende Bauanleitung ist, pardon, idiotensicher: aus dem Dressierbeutel eine Wurst Zwetschgen-Gel auf den Teller drücken, den mitgelieferten Garnierkamm zum Verstreichen und Rillen ziehen nutzen, Steine positionieren, Moosfetzen platzieren, Crumblehäufchen setzen, zum Schluss die Eisnocke an den Rand – voilà, so sieht aufwändige Patisserie aus. Im Logo am Rand der Anleitung macht sich klitzeklein ein pinkfarbenes Wichtelmännchen mit einem geschulterten Löffel aus dem Staub, die Schultern hochgezogen als würde es singen: Ach, wie gut, dass niemand weiß ...

Desserts werden zusammen mit Spitzenpatissiers entwickelt

Wahrscheinlich weiß kein Gast, wie häufig er schon in Restaurants, bei Banketten, bei Events solch ein aufwendiges, hochwertiges Dessert aus der Großwerkstatt eines mittelständischen fränkischen Unternehmens gegessen hat, während er noch grübelte, wie ein kleines Küchenteam vor Ort in so kurzer Zeit wohl 2000 Portionen davon wuppen konnte. Wie jetzt, Convenience-Food? Das böse Wort, das meint, dass es sich hier jemand in der Küche mit Fertigkost ganz einfach macht, drängt sich auf.

Doch nie traf es weniger zu als in diesem Fall.

Die Väter der Wichtelidee sind die Brüder Uwe und Udo Walter. Uwe, 53, der Koch und Konditormeister und Udo, 47, der Betriebswirt und Koch. Die Eltern besaßen einen Dorfgasthof, die Söhne erlebten, was Dienstleistung in der Gastronomie heißt: mit Zeitdruck, Innovationsdruck, Konkurrenzdruck, finanziellem Druck umgehen. Sie wollten etwas ganz anderes: innovativ sein, nachhaltig produzieren, Raum für Experimente schaffen, Spitzenprodukte fertigen. Ungleiche Brüder mit klar verteilten Aufgaben: Uwe, der Handwerker, steht für Produktentwicklung und -umsetzung und für qualifizierte Nachwuchsförderung. Udo, der Organisator und Marketingmensch, lenkt die Firmenstrukturen, pflegt Kontakte, reist durch die Welt und bringt neue Ideen mit.

40 Konditoren, Köche und Bäcker sind in der Firma beschäftigt

Ihre Patisserie-Produktion, rund 85 Angestellte, davon um die 40 Konditoren, Köche, Bäcker, betreiben sie im Maintal zwischen Spessart und Odenwald, im Industriegebiet von Kleinheubach, einem Unterzentrum mit weniger als 4000 Einwohnern und etwa 2000 Arbeitsplätzen. Ein modernes Unternehmen mit jungen Angestellten und kluger Konzeption. Das Label mit dem Wichtel mag Konfektion liefern, doch die schmeckt wie Prêt-à-Porter in Patisserie. Für spezielle Entwicklungen holt man sich Fachleute aus der Sternegastronomie, Patissiers des Jahres wie Christian Hümbs und Andy Vorbusch.

Kreativarbeit. In der Lehrwerkstatt wird probiert, kombiniert, sollen Mitarbeiter und Auszubildende auf neue Dessertideen kommen. Teamwork – wie alles bei Patisserie Walter.
Kreativarbeit. In der Lehrwerkstatt wird probiert, kombiniert, sollen Mitarbeiter und Auszubildende auf neue Dessertideen kommen. Teamwork – wie alles bei Patisserie Walter.

© Patisserie Walter/promo

Zweimal im Jahr zeigt ein schick gestalteter Katalog, was Walter servierfertig liefern kann: Parfait, Sorbet und Eis, Fingerfood-Patisserie, Törtchen in diversen Größen und Varianten, Süßes als Präsent für Events, veganes Backwerk, Kuchen im Weckglas – und eben ganze Desserts im Baukasten mit sämtlichem Beiwerk. 200 ständig lieferbare Artikel, 200 zusätzliche Rezepturen aus eigener Werkstatt. Die Kundschaft aus der Gastronomie bekommt auf Wunsch das Komplettpaket mit Logistik und Beratung.

Ein Event? Walter braucht nur Eckdaten und macht den Plan für ein Buffet, Menü oder Flying Buffet, stellt Fachpersonal und Geräte, schult Mitarbeiter fürs Handling mit den bestellten Produkten auf Wunsch in der firmeneigenen Lehrwerkstatt, rechnet die benötigten Mengen vor: Was geht am besten, was essen Frauen, was Männer? Fragen des Geschmacks und der Rentabilität, von denen der Hersteller behauptet, dass er sie am besten beantworten kann – aus Erfahrung.

Auch Kanzlerin Merkel dürfte schon manches Dessert probiert haben

Die Kleinheubacher können auch Haute Couture. Wenn der Sternekoch anfragt, wie seine Dessertidee für ein großes Catering umzusetzen ist, fangen sie bei Walter an zu tüfteln. Wenn Tim Mälzer ein spezielles Dessert mit Milch vorschwebt, holt Udo Walter als Entwickler Andy Vorbusch ins Boot. „Die Spitzenköche haben die Idee, wir machen die Produktion“, sagt Udo Walter locker. Ein von Hümbs entworfenes Walddessert hat sich im ersten Jahr 10.000 mal verkauft. Walter allerdings musste die Maschine anschaffen, mit der die Tannennadeln speziell für dieses Dessert gefriergetrocknet wurden. Wer Desserts aus der fränkischen Großwerkstatt wahrscheinlich am häufigsten gegessen hat? „Frau Merkel“, sagt Udo Walter. Auf unzähligen Banketten. Und es muss nicht immer die Entwicklung für die Sterneküche sein. „Zu uns kommen auch die großen Player wie Oetker.“

Walter, die Ghostbakery? Auftraggeber, die dazu stehen, ihre Großaufträge von seinem Unternehmen erledigen zu lassen, gebe es immer mehr, sagt Udo Walter. Harald Wohlfahrt beispielsweise mache kein Geheimnis draus. Vor Jahren, sagt Walter, sei das noch anders gelaufen. Da fuhr er bei einem Wiesbadener Hotel mit dem Firmenwagen vor und bekam zu hören: Das Auto mit der Werbung verschwindet aber. So was nervt. „Warum reden die über mich nicht wie über einen Winzer?“, fragt Udo Walter. „Erzählt in euren Restaurants doch mal unsere Geschichte und nicht die des Weinguts!“ Auf den Insiderveranstaltungen der Fine-Dining-Branche sieht man ihn kaum. So viel Akzeptanz herrscht dann doch wieder nicht. „Da sind all jene, mit denen ich im Alltag vertrauensvoll arbeite. Aber dort grüßen die mich nur kurz – und dann sind sie weg.“ Mit diesem Zulieferer will eben noch nicht jeder gesehen werden.

In der Lobby hängen Porträts aller Beschäftigten

So viel Piefigkeit ist nicht der Stil der Brüder aus Kleinheubach. Ihr Betrieb in einem kleinen Industriegebiet auf der grünen Wiese wirkt, als sei er permanenter Anwärter auf den Unternehmen-des-Jahres-Preis. Motivation und Wohlfühlatmosphäre scheinen oberstes Gebot. Im Hygienebereich der Werkstatt sehen sie anonym aus wie Klinikpersonal, tragen Häubchen, Bartbinde und weiße Schutzkleidung, aber in der Lobby sehen einen 170 Augenpaare an: Da hängt eine ganze Wand mit Porträts aller Beschäftigten. Frauen arbeiten hier in allen Bereichen, besonders viele in der Produktion: Zutaten aus- und einpacken, monatlich 3000 Bleche wuchten oder täglich den 50-Liter Handkessel. Dafür werden alle 27 Mitarbeiterinnen neben einer Fotostrecke im Katalog mit Vornamen genannt – und die elf Männer als Fußnote. Frauen, sagt man bei Walter mit einem freundlichen Augenzwinkern, sind die besseren Kräfte – wenn die richtige Anzahl Männer sie unterstützt.

Auf dem Gelände draußen stehen Hochbeete mit Nutzpflanzen, für alle, die in ihrer Pause gärtnern wollen oder zu Hause keinen Balkon haben. Den Spieltrieb befriedigen und dabei den Bezug zur Ware pflegen. Derzeit entsteht ein Neubau mit größerer, gemütlicherer Kantine und Terrasse – ein Ort als Ausgleich für den Schichtbetrieb zwischen elektronischen Maschinen, Computern und Edelstahlbehältern, für all die Arbeitseinheiten unter Kühlhaus-Bedingungen oder die patschnassen Putzdienste in Gummistiefeln, in denen die Walter-Frauen und -Männer die Hälfte der Werkstatt wöchentlich selber reinigen und desinfizieren. Die Lehrwerkstatt hat Eichenparkett und Tische aus Travertin – hochwertig wie die Ware, für die sie Ideen entwickeln sollen.

Auf gerade Lebenswege kommt es den Chefs nicht an

Wer hier einsteigt, soll sich entfalten können. Auch wenn die Törtchen-Fertigung, in der einfach alles, jeder Arbeitsplatz computergesteuert und -überwacht ist, eher wie Malen nach Zahlen wirkt. Die meisten Azubis und Angestellten blieben, sagt Udo Walter. Aber wenn einer dann den zweiten Platz bei der WM der Konditoren belegt oder eine Mitarbeiterin sich in Sydney mit eigenem Café selbstständig macht, sind die Chefs stolz wie Bolle. Und wenn einer, der anderswo als Lehrling gefeuert wurde, bei Walter zum Bereichsleiter aufsteigt, freuen sie sich nicht weniger. „Mein Lebenslauf ist auch nicht gerade“, sagt Udo Walter.

Sein Bruder und er leiten ein minutiös funktionierendes Unternehmen zwischen Kreativwerkstatt und Fließbandproduktion. Das nächste Projekt hat in ihren Köpfen längst Gestalt angenommen: Wieso sollte nur Spitzenpatisserie en gros hergestellt werden können? Der Vorspeisen-Sektor der Gourmet-Gastronomie wartet wahrscheinlich schon auf Kleinheubacher Wertarbeit. Nichts scheint unmöglich. „Doch, doch“, sagt Udo Walter, „wir können nicht alles. Ein A-la-minute-Konzept geht nicht. Sonst hätte die normale Fine-Dining-Küche ja keine Existenzberechtigung mehr.“ Gottseidank, die Wichtel sind eben doch nicht überall.

Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" im Tagesspiegel erschienen – jeden Sonnabend in der Zeitung. Hier geht es zum E-Paper-Abo. Weitere Genuss-Themen finden Sie online auf unserer Themenseite.

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