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Vom Wähler links liegengelassen: Bis auf die Grünen verzeichnen viele Parteien Mitgliederschwund.

© ullstein bild - Boness/IPON

Parteienforschung: Im Aufwind, im Sturzflug oder stabil?

Anfang Juli erscheint die neue Studie des Politologen Oskar Niedermayer. Der Leiter des Otto-Stammer-Zentrums an der Freien Universität untersucht seit 2001 jährlich die Entwicklung der Mitgliederzahlen aller großen deutschen Parteien.

Noch verbreiten sie Zuversicht am Morgen des 15. Mai im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Das Präsidium der Partei ist zusammengekommen, um über die Wahlniederlage im Genossen-Stammland Nordrhein-Westfalen zu beraten. Die Worte des Parteivorsitzenden klingen kämpferisch. Doch die Körpersprache der Partei-Granden ist eine andere: Nach drei verlorenen Landtagswahlen in Folge scheint der „Schulz-Zug“ für die SPD abgefahren.

Es ist wie ein Sinnbild für die SPD im Frühling 2017: Der perfekten Inszenierung des Übergangs von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz folgt die Bruchlandung. Noch im Januar nennen die Medien die Erdrutschsiege der Partei in den Umfragen den „Schulz-Effekt“. Die Partei findet den Glauben an sich wieder, ist stolz auf mehr als 10.000 neue Mitglieder. Doch dem Jubel um den Messias aus Würselen folgen Wahlabende mit Karfreitagsstimmung in Saarbrücken, Kiel und Düsseldorf.

Professor Oskar Niedermayer, Leiter des Otto-Stammer-Zentrums, der Arbeitsstelle Empirische Politische Soziologie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit der Struktur politischer Parteien und ist vom raschen Ende des so genannten Schulz-Effektes wenig überrascht. Er untersucht die politische Stimmung nicht anhand von Meinungsumfragen und Wählertrends, sein Ansatz sind die Parteien selbst: Die Entwicklung ihres Mitgliederstammes, erfasst nach Alter, Geschlecht, Religion.

„Die politischen Parteien in Deutschland haben seit den 1980er Jahren mit teilweise massiven Mitgliederverlusten zu kämpfen“, sagt er: „Es gibt zwar immer wieder Ereignisse, die kurzfristig zu neuem Interesse an Politik führen, doch das strukturelle Problem der Parteien bleibt ungelöst. Es fehlt der Nachwuchs.“

Seine Datenbank reicht bis ins Jahr 1990 zurück

Seit 2001 versucht der Politologe, seine Untersuchungen auf eine immer breitere Datenbasis zu stellen. Mittlerweile hat er eine Datenbank aufgebaut, die bis ins Jahr 1990 zurückreicht. Die Parteien erheben dazu seit 2008 einheitliche Daten für den Wissenschaftler und leiten sie mit Stichtag 31. Dezember eines jeden Jahres an ihn weiter. Sie sind Grundlagen für seine Parteienstudie, die alljährlich im Sommer in der Zeitschrift für Parlamentsfragen erscheint.

Niedermayer kennt nicht nur die Mitgliederzahlen, sondern auch die Altersverteilung, den Geschlechteranteil und die regionale Verteilung in den jeweiligen Landesverbänden. Sie zu deuten, erfordert seine empirische Fachkenntnis. So streiten etwa SPD und CDU seit Jahren um den Titel „Mitgliederstärkste Partei in Deutschland“. Lange war die SPD vorne, dann überholte sie die CDU, mittlerweile haben die Genossen den Spitzenplatz wiedererobert. „Betrachtet man jedoch das Reservoir, aus dem die beiden Parteien schöpfen können, ist die CDU schon lange die erfolgreichere Partei“, sagt Niedermayer. Denn während die Christdemokraten nur Nichtbayern ab 16 Jahren aufnehmen, kann der SPD jeder Bundesbürger ab 14 Jahren beitreten.

Keine der etablierten Parteien hat Grund zur Freude

Betrachtet man die Zahlen seit 1990 nüchtern, gibt es in keiner der etablierten Parteien Grund zur Freude: Die beiden großen, CDU und SPD, haben seitdem rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Beide zählen heute gut 400 000 Mitglieder.

Noch stärker ist der Einbruch bei den Linken und der FDP: Die Sozialisten stürzten alleine von 1989 auf 1990 von mehr als zwei Millionen Mitgliedern auf knapp 300 000 ab; seitdem ist die Zahl ihrer Anhänger auf knapp über 50 000 zurückgegangen.

Auch die Liberalen, die nach der deutschen Vereinigung von den Mitgliedern der DDR-Blockparteien profitierten und dem populären, in Halle geborenen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, verloren in den folgenden Jahrzehnten massiv an Mitgliedern: von knapp 170.000 im Jahr 1990 ging die Zahl auf heute rund 50 000 zurück.

Nur die Grünen konnten seit 1990 deutlich an Mitgliedern gewinnen: von rund 40 000 auf aktuell etwa 60 000. Im Jahr 2011, als die Reaktorkatastrophe in Fukushima die Welt entsetzte, habe die Partei ihre Mitgliederzahl um mehr als zehn Prozent steigern können, sagt Niedermayer. „Doch auch bei den Grünen stellen wir langsam eine demografische Alterung fest und stagnierende Mitgliederzahlen.“

Einzig die AfD habe 2016 kräftig zugelegt, sagt Niedermayer. „Doch wie nachhaltig diese Entwicklung ist, wird die Partei noch beweisen müssen.“ 2015, als der Mitbegründer und Euro-Kritiker Bernd Lucke von den nationalkonservativen Kräften um Frauke Petry gestürzt wurde, brach auch die Mitgliederzahl um 20 Prozent auf 16 000 ein. Auch wenn sich die Partei 2016 sehr gut davon erholen konnte, droht der erneute Richtungsstreit sich nun wieder negativ auf die Mitgliederzahl auszuwirken.

Vor allem junge Menschen kehren der Politik den Rücken

„Die Parteien haben insgesamt noch kein Mittel gefunden, den Wegfall der sie tragenden Milieus dauerhaft zu kompensieren“, resümiert der Politologe. Deshalb sind in allen Parteien junge Menschen unterrepräsentiert, und auch Frauen fühlen sich offenbar nicht genügend von der Politik angesprochen.

Auch wenn Oskar Niedermayer Anfang Juli an der Freien Universität emeritiert wird: In den Ruhestand möchte er noch nicht gehen. „Die Parteienstudie werde ich, so Gott will, auch 2018 wieder veröffentlichen.“ Doch dass die Parteien ihren Abwärtstrend bei den Mitgliederzahlen dann stoppen können, glaubt er nicht: „Für einen nachhaltigen Wechsel braucht es mehr als einen einmaligen Effekt.“

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