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Pestrevolte: Moskauer lynchen den Erzbischof Ambrosius, weil sie ihn für einen Ketzer halten.

© Illustration: Charles-Michel Geoffroy/ mauritius images

Parallelen zwischen Pest und Corona-Epidemie: Erst wird die Seuche unterschätzt, dann eskaliert die Gewalt

Manches an historischen Seuchen-Erfahrungen klingt sehr aktuell. Ex-Senator Körting ist der Nachfahre eines Überlebenden der Pest von 1771 - hier sein Bericht.

Ehrhart Körting war von 1997 bis 1999 Justizsenator und von 2001 bis 2011 Innensenator des Landes Berlin. Und er ist ein Nachfahre des Arztes Johann Jakob Lerch, der die Pest in Moskau 1771 überlebte. Hier zitiert Körting aus den Erinnerungen seines Vorfahren und zieht Lehren für die Gegenwart.

Es ist faszinierend zu sehen, wie menschliches Verhalten sich in der Geschichte gleicht. Das gilt auch für die Reaktionen auf Epidemien. Wir haben in der Volksrepublik China erlebt, wie die Coronavirus-Epidemie zuerst totgeschwiegen wurde. Jetzt erleben wir von Verschwörungsfantasten und anderen nicht nur den Ruf nach berechtigten Diskussionen über Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie, sondern in Gewalt ausartende Demonstrationen.

Ein Vorfahre von mir, Johann Jakob Lerche, Arzt in Russland, hat in seiner 1791 in Halle erschienenen Lebensgeschichte die Vorgänge während der Pest in Moskau im Jahre 1771 beschrieben. Manches liest sich, als ob es heute wäre:

„Die Pest äußerte sich in Moskau schon im Dezember 1770 im Land-Hospital, und bald hernach in der großen Tuchfabrik. Die dortigen Mediziner waren sich nicht einig, und erklärten es für ein epidemisches faulendes Fleckfieber mit metastasierenden Geschwüren, dergleichen sie mehrmals gesehen hätten. Man publizierte eine gedruckte amtliche Mitteilung, dass die Krankheit in Moskau nicht die Pest wäre, und dass man das Volk umsonst bange gemacht hätte; folglich wurde die Zeit versäumt.

Unser Gastautor Ehrhart Körting.
Unser Gastautor Ehrhart Körting.

© Thilo Rückeis

Den 13. Juli langte ich gesund in Moskau an. Die Pest war nicht allein unter den Tuchmachern, sondern auch schon in vielen Teilen der Stadt ausgebreitet, welches jedoch die Doktoren Skiada und Kuhlmann, nebst etlichen Chirurgen, leugneten. Als ich aber hierher kam, und die Krankheit, an der so viele Menschen schleunig starben, für die Pest erkannte, erstatte ich darüber dem Generalleutnant Jeropkin, der die Kommission wegen der Pest hatte, einen schriftlichen Bericht ab. Und es beratschlagten sich alle Mediziner und Chirurgen, wie der Pest am besten vorzubeugen und abzuhelfen sei?

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Durch Prozessionen stieg die Zahl der Ansteckungen

Gegen das Ende des Augusts erhielt der Geheimrat und Senator Michaila Grigorjewitsch Sabakin vom Hof Befehl, sieben Teile der Stadt zu übernehmen. Die andere Hälfte, auch sieben Teile, behielt der General Jeropkin. Jeder Mediziner, Chirurg und Stabschirurg versah einen Teil. Die Pestkranken vermehrten sich täglich; den 7. August waren ihrer im simonowischen Kloster bis 300; und so viel von ihnen starben, so viel kamen aufs Neue hinzu. Es wurden überall Prozessionen gehalten, durch welche Vermischung die Pest alle Tage zunahm, so dass kein Retten war, weil das Volk sowohl aus gesunden als infizierten Häusern durcheinander lief.

Eskalierte Lage: So hat der Maler Ernst Lissner den „Pestaufstand“ von 1771 festgehalten.
Eskalierte Lage: So hat der Maler Ernst Lissner den „Pestaufstand“ von 1771 festgehalten.

© gemeinfrei

Die letzteren wurden nicht verschlossen, auch nicht genug Quarantänehäuser angeschafft, dahin man so viele Menschen aus angesteckten Häusern hätte bringen können. Es hieß, man habe nicht Vollmacht genug, zu verfahren, wie man wolle; es fehle auch an Leuten, die Kranken und Toten hinaus zu schaffen und zu begraben, denn die bisherigen wären fast alle gestorben; nachher nahm man Arrestanten dazu, welche auch häufig drauf gingen. Als hernach der Herr Grigorei Orlow den 27. September ankam, gingen die Anstalten besser von statten. Es ward kein Geld geschont, und es wurden Belohnungen versprochen.

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Den 6. September starben im simonowischen Lazarett 80 Menschen, in der Stadt 460, den 7. September 498, den 8. September 677, im Lazarett 88, und im troizkischen Dorf von denen in der Quarantäne 23 Mann. Den 11. September in der Stadt über 800, und im Lazarett 80; den folgenden Tag in der Stadt 150 weniger. Den 13. September stieg die Anzahl der Toten am höchsten, auf 895; und in den folgenden Tagen auf 800 und 700.

Wenn man täglich so viel zusammenzählt, so kommt eine erschreckliche Summe heraus. Man hat nachgehends im Dezember da die Pest nachgerade aufhörte, über 60 000 Verstorbene gerechnet, obwohl doch nur der vierte Teil der Menschen in Moskau geblieben war. Denn man empfahl den Herrschaften, sich auf das Land zu begeben, und es folgten ihnen viele Tausende andere; sie sollten zwar aus gesunden Häusern sein, doch wer wollte es ihnen wehren? Folglich fing die Pest auch auf dem Lande an, grausam zu wüten, und in vielen Städten sich auszubreiten, so dass zum wenigsten 30 000 das Leben einbüßten.

Tote wurden aus den Häusern auf die Straße geworfen

Das Elend in Moskau war unbeschreiblich. Täglich sah man in allen Straßen Tote und Kranke hinausführen; einige lagen hin und wieder auf den Straßen, die tot niedergefallen oder aus den Häusern hingeworfen waren. Es waren nicht mehr Leute und Wagen genug bei der Gesundheitspolizei, so dass viele Tote drei bis vier Tage in den Häusern liegen blieben.

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Aber dieser Jammer wurde durch einen schrecklichen Aufruhr des Volks noch schlimmer. Ein gemeiner Kaufmann, der eine Lähmung am Fuß gehabt haben soll, gab vor, dass ihm das Marienbild von der warwarischen Pforte erschienen sei, und sich wegen der schlechten Verehrung beklagt, aber doch versichert habe, es wolle an ihm ein Wunder tun, auch die Pest bald dämpfen.

Dieser Mensch kam gesund zum Marienbilde, erzählte das Wunder dem Priester und dem durchgehenden Volk. Einer sagte es dem andern, und es war gar bald ruchbar durch die ganze Stadt. Die Leute liefen herzu, beteten zur heiligen Mutter Gottes, zierten das Bild aufs beste, und brachten in wenig Tagen viel Geschenke an Geld und Juwelen.

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Darauf fingen die Prozessionen an, und hatten kein Ende; die Pest war ärger als zuvor. Der Erzbischof Ambrosius wollte das Unwesen steuern, und bat den General Jeropkin um Hilfe, der ihm fünf Soldaten gab. Diese schickte er mit seinen Leuten hin zur warwarischen Pforte, am späten Abend, um den Kasten mit Gelde samt dem Marienbilde abzuholen und in Verwahrung zu nehmen.

Allein es war viel Volk da und die Soldaten wurden zurück gejagt. Das geschah am 15. September abends. Das Volk war auf den Erzbischof erbittert und schalt ihn einen Ketzer. Alsbald liefen sie zu den Kirchtürmen, läuteten die Sturmglocken, um mehr Volk zusammen zu rufen. Sie erreichten ihren bösen Endzweck; jedermann glaubte, es wäre Feuer; aus jedem Haus liefen Leute dahin, obwohl sie kein Feuer sahen. Diese hatten wohl nichts Böses im Sinn; als sie aber hörten, was vorging, gaben sie Beifall, und machten mit den andern ein Komplott aus.

Sie töteten den Erzbischof und trieben die Kranken heraus

Der Erzbischof floh ins donskische Kloster außerhalb der Stadt. Früh morgens spürten ihn die Aufrührer auf. Ein Schwarm derselben lief nach der Kirche, in der er noch den Gottesdienst hielt. Man schleppte ihn hinaus aus dem Kloster, und riss ihm die Oberkleidung ab. Einige wollten ihn nach dem Kreml führen, wo er ihnen Abbitte tun sollte. Andere aber hatten daran nicht genug, zerschlugen ihm sogleich den Kopf und stachen ihn mit Messern vollends tot. Sein Körper blieb noch bis auf die folgenden Tag liegen.

Nach dieser Tat liefen die Aufrührer zum danilowschen Kloster, wo 180 Pestkranke waren, die sie alle heraustrieben, den Chirurgen und den Hilfschirurgen aber misshandelten. Sie ließen auch die Leute aus dem Quarantänehaus bei der serpuchowischen Pforte. Zu den andern weiter entlegenen kamen sie nicht, sondern zurück nach der Stadt. Ihre Kameraden plünderten schon das bischöfliche Haus, brachen Kisten und Keller auf, teilten sich das Beste, das Übrige zerbrachen sie.

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Noch war keiner, der ihnen Einhalt tat: Der Brigadier Maraonow redete ihnen zwar zu, kam aber mit blutigem Kopf nach Hause. Wenn sie im Kreml fertig sein würden, wollten sie weitergehen, zuerst den General Jeropkin überfallen und dann die Doktoren und Chirurgen aufsuchen und umbringen, weil sie ihnen Schuld gaben, dass sie die Pest verursacht hätten.“

Auch die Schuldvorwürfe gegen die Mediziner finden sich leider heute, nach 250 Jahren, in Deutschland wieder, wenn Virologen wie Drosten beschimpft und bedroht werden:

„Des Doktor Martens Haus zerstörten sie. Er selbst aber hatte sich zuvor in das Findelhaus begeben. Sodann wollten die Aufrührer nach dem General-Land-Hospital kommen. Auf dieses Gerücht entflohen alle, der Doktor Shafonski, der Oberchirurg Weil, der Operateur Engel und der Apotheker. Andere Mediziner flüchteten auf das Land. Da war viele Tage an eine Untersuchung der Kranken nicht zu denken und die Pestanstalten waren vernichtet. Nun wusste man nicht mehr die Anzahl der Kranken und Toten. Es musste aber durch die Vermischung von Kranken und Gesunden das Übel ärger werden.“

Nach dem Tumult nahm die Pest zu

Der Aufstand wurde durch Soldaten des Generals Jeropkin niedergeschlagen. Über 250 Aufständische wurden getötet.

„Ich blieb während des Aufruhrs im Hause, wo ein Oberstleutnant von der Artillerie logierte und gute Wache hielt. Einen großen Teil der Rebellen machten die Arbeiter von den Segel-, Seide-, Tuch- und Goldfabrikanten aus, welche jederzeit die verwegensten Leute gewesen, zu denen sich hernach viel herrschaftliche Bediente und Gesindel schlug.

Ob nun wohl der Tumult gestillt war, so glimmte doch noch etwas unter der Asche, wie sich es hin und wieder zeigte. Ich fuhr den 23. September am Mittag durch eine Straße, wo 12 bis 15 Kerle standen, von denen einer an meinem Gesicht vorbei einen Stein warf, der zum Glück doch nur ein Glas zerbrach. Das geschah noch ein weiteres mal, als ich aber nicht im Wagen saß.

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Nun wurden die im Aufruhr Gefangenen scharf befragt, welche noch mehr angaben, besonders auch diejenigen, die Hand an den Erzbischof gelegt hatten. Man fand sie, der eine war ein Knecht, der andere ein Handlungsgehilfe. Beide wurden bei dem donskischen Kloster, wo sie den Mord begangen hatten, aufgehangen.

Nach dem Tumult nahm die Pest zu, vom 1. bis 9. Oktober starben daran 5400 Menschen. Nachgehends bei zunehmender Kälte verminderte sich die Krankheit und es starben täglich nur 600 bis 700, und in den Pestlazaretten 120 bis 100. Den 21. Oktober nur 400 in der Stadt, und den 15. November 150, nachher immer weniger, bis das Sterben vom 6. Januar an aufhörte.“

Wesentlichen Anteil daran hatte wohl der Graf Orlow, der am 27. September nach Moskau geschickt wurde.

„Er errichtete eine Sanitätskommission wegen Abwendung der Pest, in welcher General Jeropkin präsidierte. Außer dem simonowischen und danilowischen Kloster wurde auch im pokrowischen ein Lazarett errichtet, und dann auch im großen La Fortischen Palais, damit die Kranken nicht mehr so weit hinausgeführt werden mussten.

Es wurde auch ein Haus für Waisenkinder aus den infizierten Häusern angelegt, desgleichen mehrere Quarantänehäuser in der Nähe. Die Eingeschlossenen verpflegte man wohl. Und bei der Entlassung bekamen sie neue Kleider, Pelze und fünf Rubel dazu. Es sind freilich sehr wenige Pestkranke mit dem Leben davon gekommen.“

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So weit der gekürzte Bericht von Johann Jakob Lerche. Manches können wir aus dieser historischen Epidemie in Russland und aus anderen Epidemien lernen. Mit jeder Epidemie ist eine der Grundfragen menschlichen Seins verbunden. Die Frage nach dem Warum? Warum trifft es uns? Warum trifft es mich?

Diese Grundfrage führt bei manchen dazu, dass die Epidemie geleugnet wird. Alles ist nicht so schlimm und darf nicht zu einer Veränderung des täglichen Lebens führen. Es gibt scheinbar einfache Möglichkeiten, mit der Epidemie umzugehen. Im Moskau des Jahres 1771 war es das Gebet an einem Marienbild. Heute sind es die Xi Jinpings, Trumps und Bolsonaros und in Deutschland die Rechtspopulisten der AfD, die jede Gefahr herunterspielen.

Und wenn dies nicht hilft, werden Schuldige gesucht. Ich erspare mir Vergleiche zum Jahr 2020. Schließlich gibt es, 1771 wie heute, die Bereitschaft zum Krawall, wobei sicherlich damals wie heute bei einigen die Epidemie nur der willkommene Anlass zum Krawall ist.

Ehrhart Körting

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