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Zakia Khudadadi verlor ihren Auftaktkampf gegen Ziyodakhon Isakova aus Usbekistan mit 12:17 Punkten.

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Para-Sport in Afghanistan unter den Taliban: „Es macht mich zuerst traurig und dann sehr wütend“

Trotz der Machtergreifung der Taliban schafften es zwei afghanische Athleten zu den Sommer-Paralympics. Was ist aus ihnen geworden? Und wie steht es in ihrem Heimatland um den Para-Sport?

Von Delia Kornelsen

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Als Zakia Khudadadi und Hossain Rasouli im vergangenen Sommer in Paris aus dem Flugzeug steigen, ist das der Zeitpunkt, in dem sie wissen, dass es klappen wird, dass sie nun doch teilnehmen werden. Die Wochen zuvor waren für die Sportlerin und den Sportler aus Afghanistan von Todesangst und großer Ungewissheit geprägt – wie geht es unter der Herrschaft der Taliban weiter? Schaffen sie es zu den Paralympics nach Tokio, schaffen sie es nicht? Ihre Heimat haben die Taekwondoin und der Leichtathlet seither hinter sich gelassen – wer weiß, für wie lange.

Wenige Wochen vor Beginn der Spiele hatte sich Khudadadi in einem Handyvideo an die Weltöffentlichkeit gewandt – verzweifelt, denn sie fühlte sich nach der Machtergreifung der Taliban nicht einmal sicher genug, das Haus ihrer Verwandten zu verlassen, und doch gewillt, es trotzdem irgendwie nach Japan zu schaffen.

Die damals 22-Jährige hatte die erste weibliche Para-Athletin im Taekwondo werden sollen, die für das afghanische Team bei den Paralympics antritt. Mehrere Sport- und Menschenrechtsorganisationen, Nationale Paralympische Komitees und Einzelpersonen organisierten riskante, bürokratische und tagelang andauernde Evakuierung. Erst nach der Eröffnungsfeier trafen sie nach einer Reise mit Zwischenstopp Paris im paralympischen Dorf ein.

Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) machte sich ihre Geschichte zu eigen. Das IPC schirmte die Sportlerin und den Sportler während der Spiele von den Medien ab und erzählte stattdessen selbst von „emotionalen Begegnungen“ und ihrem Schicksal. Ein halbes Jahr später ist es erstaunlich ruhig um sie geworden. Was ist aus der Aufmerksamkeit geworden und wie geht es ihnen?

Das IPC hält sich nach den Spielen raus

„Beide sind in Sicherheit und trainieren regelmäßig in ihrem Sport“, sagt Arian Sadiqi. Der Chef de Mission des afghanischen Teams lebt in London und half bei der damaligen Evakuierung mit. Sein Bruder hatte Khudadadi und Rasoulie zum umlagerten Flughafen in Kabul gebracht, Sadiqi selbst war ihre Bezugsperson während der Paralympics. Nach den Spielen erhielten Khudadadi und Rasouli die Möglichkeit, nach Paris zu gehen. Dort halten sie sich bis heute auf.

Hossain Rasouli startete im Weitsprung und nicht wie ursprünglich geplant über 100 Meter. Dass er dabei Letzter wurde, spielte überhaupt keine Rolle.
Hossain Rasouli startete im Weitsprung und nicht wie ursprünglich geplant über 100 Meter. Dass er dabei Letzter wurde, spielte überhaupt keine Rolle.

© imago images/AFLOSPORT

Sadiqi fühlte sich vom IPC damals in Tokio unterstützt, „aber als die Spiele vorbei waren, sind sie alle in ihre jeweiligen Länder zurückgekehrt und das NPC Afghanistan blieb zurück, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte“. Während Khudadadi, Rasouli und Sadiqi abreisen konnten, wurden andere Delegierte in Japan zurückgelassen. „Nach den Spielen versuchten wir das IPC zu kontaktieren, um anderen Athletinnen und Athleten und Trainerinnen und Trainern in Afghanistan zu helfen“, berichtet Sadiqi: „Aber uns wurde gesagt, dass das IPC bei der Evakuierung und allem weiteren nicht helfen kann.“

Der Chef de Mission macht sich große Sorgen um alle Para-Sportlerinnen und -Sportler, die sich aktuell noch in Afghanistan aufhalten. „Die derzeitige Situation ist entsetzlich und furchtbar“, sagt Sadiqi. Aufgrund von Armut, der politischen Lage, aber auch internationalen Sanktionen gegen das Taliban-Regime kämpfen Para-Sportlerinnen und -Sportler vor Ort um ihr Überleben.

Der Rollstuhlbasketball-Boom

Ähnlich sorgenvoll beobachtet Jess Markt, Berater für Behindertensport und Inklusion beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC), die aktuelle Situation im afghanischen Para-Sport. Er war in der letzten Dekade für die Gründung zahlreicher Rollstuhlbasketball-Teams im Land als Erweiterung des Rehabilitations-Programms des ICRC mitverantwortlich. „Es war ein großartiger Erfolg“, sagt Markt. Zuletzt gab es 600 Spielerinnen und Spieler in zehn verschiedenen Provinzen, 150 davon waren weiblich. Eine von ihnen ist Nilofar Bayat. Die Juristin fing ursprünglich aus Spaß mit dem Sport an, wurde später Teamkapitänin der Nationalmannschaft und merkte, welche Außenwirkung ihre Präsenz hat – als Frau, als Frau mit Behinderung, als afghanische Frau mit Behinderung. Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist es zu zeigen, „dass Behinderung uns nicht einschränken kann“.

Nilofar Bayat und ihr Mann Ramesh Naik flohen während der Luftbrücke mit Hilfe der spanischen Regierung und des Basketballverbandes aus Kabul.
Nilofar Bayat und ihr Mann Ramesh Naik flohen während der Luftbrücke mit Hilfe der spanischen Regierung und des Basketballverbandes aus Kabul.

© imago images/Agencia EFE

Jess Markt, der selbst als Rollstuhlbasketballer in den USA spielte, führte jährlich mehrtägige Trainingslager in Afghanistan durch, coachte auch Bayat. Das restliche Jahr über trainierten die Teams mit eigenen Coaches, schafften es mit eigenen Leuten ihre Ligen zu verwalten und Vereinsstrukturen aufzubauen. In lokalen Turnieren besuchten zahlreiche Menschen aus den Städten und Provinzen die Spiele, seit einigen Jahren konnten die Teams internationale Erfolge als Nationalmannschaft verzeichnen, wollten sich für die Paralympics in Tokio qualifizieren. „Im Bali Cup habe ich zum ersten Mal unter afghanischer Flagge gespielt“, erzählt Bayat über eines ihrer Schlüsselmomente, die Teilnahme am Bali Cup 2017, ihr erstes internationales Turnier. „Eine Frau auf dem Turnier sagte mir, ich käme aus einem ‘Terroristen-Land’. Sie schaute uns zu und am nächsten Tag sah ich, wie sie mit einer Afghanistan-Flagge kam. Sie hat uns unterstützt. Ich werde niemals diesen Moment und diese Frau vergessen.“

Klare Worte für eine ungewisse Zukunft

Die Machtergreifung der Taliban änderte alles. „Plötzlich standen wir vor der Situation, dass wir nicht wussten, wie es für Para-Sportlerinnen und -Sportler weitergeht“, erzählt Jess Markt vom ICRC. Die Männer-Mannschaften konnten vorerst weitertrainieren. Ob und wie Frauen Sport treiben dürfen, dazu hat sich die Taliban-Regierung noch nicht offiziell geäußert. Allein in Kabul befanden sich fünf der insgesamt zehn Frauen-Teams.

Rollstuhlbasketball erlebte auch unter Frauen einen Boom in Afghanistan. In Kabul befanden sich fünf der insgesamt zehn Teams.
Rollstuhlbasketball erlebte auch unter Frauen einen Boom in Afghanistan. In Kabul befanden sich fünf der insgesamt zehn Teams.

© imago/Xinhua

Einige Spielerinnen sind geflohen und konnten ihr Training in anderen Ländern wieder aufnehmen. Nilofar Bayat hatte Angebote von unterschiedlichen Klubs in Spanien und entschied sich für das Profiteam Bidaideak BSR Bilbao. Mittlerweile spielt sie dort gemeinsam mit ihrem Ehemann in einer gemischt-geschlechtlichen Mannschaft. Auch die ehemalige Trainerin des Frauen-Teams konnte fliehen und befindet sich in Albanien. „Aber das bedeutet immer noch, dass es über hundert Rollstuhlbasketballerinnen vor Ort gibt“, sagt Jess Markt. „Wir hoffen wirklich sehr für sie, dass sie einen Weg finden, der es ihnen ermöglicht, zu spielen.“

Nilofar Bayat beschäftigt die aktuelle Situation in Afghanistan weiterhin stark. Sie wünscht sich mehr Unterstützung, mehr Solidarität von anderen Ländern. Dass das möglich ist, sieht sie gerade aktuell: „Ich sehe heute, wie sich die Welt in Bezug auf die Ukraine verhält. Ich bin sehr, sehr traurig darüber, was dort gerade passiert“, sagt sie: „Und dann sehe ich, dass die Welt uns nicht beachtet hat, als wir sie brauchten. Es macht mich zuerst traurig und dann sehr wütend.“

Für die Zukunft hat sie einen großen Wunsch: „Ich hoffe, dass ich eines Tages – nicht wichtig, wann – mit meinem Team wieder spielen kann. Ich möchte für Afghanistan spielen.“

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