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Das Fahrrad von Barbara Schäfer vor der endlos scheinenden Ostsee.

© Barbara Schäfer

Gesellschaft: Rückenwind

Links die Ostsee, rechts der Bodden - verfahren kann man sich nicht. Eine Tour mit dem Rad von Wustrow an den westlichsten, nördlichsten und östlichsten Punkt von Fischland-Darß-Zingst.

Elf gebräunte junge Menschen, alle in knallroten T-Shirts und Shorts, schauen aufs Meer. „Mir sin blos für zwei Wochä do“ sagt ein junger Mann, offensichtlich Badener, sie waren schon in den Vorjahren an der Ostsee. Sie sind Ehrenamtliche bei der DLRG, der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft, und verbringen ihren Urlaub in der Ortsgruppe Fischland. Am Strand, so erklärt der Badener, könne viel passieren. „Wenn einen die Wellen beim Schwimmen gegen die Wellenbrecher werfen, kann man sich alle Knochen brechen“, sagt er. Und erst die Buhnen, diese Holzpflöcke im Wasser! „Kinder balancieren gerne darauf. Aber die sind mit Muscheln bestückt, da kann man sich böse Schnittwunden holen, wenn man abrutscht.“ Ich beobachte die Retter noch eine Weile, wie sie dasitzen und aufmerksam schauen. Hier passiert rein gar nichts, zum Glück. Also gehe ich zurück, hinauf auf den Deich. Da oben führt ein wunderbar geteerter Radweg entlang. Ich schwinge mich in den Sattel, ich habe ja noch etwas vor. Von Wustrow aus, einem Dorf auf dem Fischland, will ich gemütlich in ein paar Tagen an den nördlichsten, westlichsten und östlichsten Punkt der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst radeln: hinauf zum Leuchtturm, nach Osten bis Pramort, und auf der Boddenseite zurück, 140 Kilometer weit.

Der kilometerlange Sandstrand, welcher parallel zur Radstrecke verläuft.
Der kilometerlange Sandstrand, welcher parallel zur Radstrecke verläuft.

© Barbara Schäfer

Verfahren kann man sich hier nicht. Katen ducken sich unter Kiefern, und es geht immer in eine Richtung: Bodden rechts und links das Meer oder besser „die Ostsee“, wie sie hier sagen.

In Ahrenshoop wartet eine erhöhte Aussichtsterrasse, empfehlenswert, denn Erhöhungen sind hier landschaftlich selten. Ein Schild erklärt: Von hier malte Paul Müller-Kaempf sein Bild „Weiter Blick über das Dorf“. Darauf sind hier alle stolz, sagt eine Frau neben mir. Nur von hier sehe man die Ostsee und die reetgedeckten Häuser so gut. Allein: Man sieht nichts, nur Büsche, der Blick ist zugewachsen. Da sollte mal einer mit der Heckenschere rein. Aber nein, entrüstet sich die Einheimische, das sei doch Natur. Na entweder oder, denke ich mir, Kunst oder Natur, aber ich verzichte darauf, sie in der Frage zu einer Entscheidung zu drängen.

Ahrenshoop nennt sich Künstlerort. Es liegt beschaulich, man würde die Staffelei auspacken, wenn man malen könnte. Im Kunstmuseum Ahrenshoop ist zu sehen, was dabei herauskäme. „Licht, Luft, Freiheit - 125 Jahre Künsterkolonie Ahrenshoop“ heißt die Dauerausstellung zu Werken der Gründergeneration um Paul Müller-Kaempf, die alte Fischerkaten zeigen, Kuhweiden vor endlosen Horizonten und Dünen im nordischen Licht. Die Bilder werden immer mal ausgewechselt, „wir haben so viele im Depot“, erklärt die Museumsmitarbeiterin.

Das einzige Café, das erhöht liegt und von dem aus man sehen könnte, wie die Sonne malerisch im Meer untergeht, macht um 18 Uhr zu. „Aushilfe gesucht“, überall hängen Schilder in Schaufenstern und Schankräumen. Die Wirte finden kein Personal. Saisonarbeit mit langen Arbeitszeiten ist unbeliebt, und: Es gibt praktisch keinen Wohnraum auf der langgezogenen Halbinsel, für Geringverdiener schon gar nicht. Man braucht ein Auto, die Busse fahren nicht so, dass man pendeln könnte. Aber wovon das Auto bezahlen? Ein Dilemma. Die Gäste helfen sich selbst. Wenn es kein Lokal mit Meerblick gibt, dann ziehen sie eben abends mit Sack und Pack und einer Flasche Wein in den Sand.

Das gediegene Publikum flaniert die Hauptstraße entlang, man trifft sich in der Bunten Stube, Buchhandlung und Kunsthandwerk-Laden heute, früher Trödelstube, Frisör-Salon, Kurzwarenladen. An den geschwungenen Flachbau von 1922 setzte 1929 der Rostocker Bauhausarchitekt Walter Butzek den Turm, rostrot gestrichen. Ich blättere durch Künstlerbiographien und den neuesten Küstenkrimi, der enthüllt, dass am Bodden „längst nicht alles so idyllisch ist, wie es scheint“. Misstrauisch fahre ich weiter, nach Norden.

Schafe weiden auf einem Deich nahe des Radweges in Ahrenshoop.
Schafe weiden auf einem Deich nahe des Radweges in Ahrenshoop.

© Barbara Schäfer

Die Landschaft wird wilder, es geht in den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, der 1990 ausgerufen wurde und mit fast 800 Quadratkilometern der drittgrößte Deutschlands ist. Farn wuchert an schwarzmodrigen Gräben; Moose erobern Totholz; Kiefern, Eichen und Buchen breiten ihre Kronen aus.

Am Parkplatz Drei Eichen wartet Ranger Holger Beu auf mich, grauer Drei-Tage-Bart, schwarzes Brillengestell, olivfarbenes Käppi. Beu war mit einem Kollegen schon um halb sechs hier, nicht etwa zur Vogelbeobachtung, sondern zur Parkplatzkontrolle. Wenn da ein Auto steht, wird Beu wachsam. „Dann gehen wir an den Strand, Zelte suchen.“ Zelten ist nirgends erlaubt. Immer wieder stöbern sie heimliche Übernachter auf. „Das Feuermachen ist das schlimmste.“ Neuerdings gebe es auch so Abenteurer, die Urlaub machen in einer Ferienwohnung, „aber dann zieht Vati eine Nacht mit den Kindern los, Mutti bleibt in der Wohnung.“ Sie lassen Glasflaschen zurück und Einweg-Grills. Die Ranger schreiten sofort ein. „Wehret den Anfängen“, sagt Beu.

Seit 2000 arbeitet Beu für den Nationalpark. Er stammt aus Gelbensand bei Rostock, war Forstwirt und hat sich umschulen lassen zum Natur- und Landschaftspfleger. Anfangs sei die Bevölkerung skeptisch gewesen, habe immer gesagt: „der“ Nationalpark. Die Leute fürchteten, man würde ihnen das Sammeln von Pilzen und Blaubeeren verbieten. Doch dann kamen Urlauber, um das Rotwild und die Kraniche zu beobachten, die Saison wurde immer länger, dauert nun bis in den Herbst. „Und jetzt sagen die Leute: unser Nationalpark“. Und außerhalb der Kernzone könnten ja immer noch alle Pilze sammeln.

Ein großes Thema auf dem Darß ist das Abbröckeln der Steilküste. Schilder warnen davor. Beu sieht es entspannt. „Das ist eben Natur. Auch wenn der Sand abgetragen wird - der Darß wird nicht kleiner.“ Es verlagere sich nur vom Weststrand zum Nordstrand. „Da geht kein Sandkorn verloren.“

Insgesamt habe sich das Naturbewusstsein postiv verändert. „Die Leute sind interessierter und wissen mehr“, meint Beu. Ständig wird er gefragt, welche Tiere man beobachten könne. Dann erzählt Beu von den Seeadlern, fünf Brutpaare leben im Park. „Einmal habe ich hier am Parkplatz auf Gäste gewartet, da höre ich was in der Luft. Schau ich hoch: Da waren elf Seeadler, die über mir kreisten! Die waren wohl aus Skandinavien. So eine Junggesellentruppe, die haben einen Ausflug gemacht. Das vergesse ich nie mehr.“

So eingestimmt fahre ich weiter durch den Nationalpark, bis das ferne Rauschen einer mehrspurigen Autobahn an mein Ohr dringt. Moment mal: Hier gibt es doch gar keine Autobahn. Ich biege links ab, holprig geht es über Wurzelwerk bergab zum Weststrand. Ich stelle das Fahrrad vor der Düne ab, und was da so rauscht, ist natürlich sie: die Ostsee. Mit Macht wirft sie sich an den schönsten Strand der Halbinsel, bringt Treibholz mit auf Wellenkronen.

Der Leuchtturm steht am nördlichsten Zipfel des Darß.
Der Leuchtturm steht am nördlichsten Zipfel des Darß.

© Barbara Schäfer

Weiter geht es an den nördlichsten Punkt, zum Leuchtturm, 35 Meter hoch, 1848 aus roten Ziegeln gebaut. Er beherbergt eine Außenstelle des Meeresmuseums Stralsund, das sich der Natur der Halbinsel widmet. Eine junge Mutter steht mit ihrer sechsjährigen Tocher im Innenhof, zwischen Museumseingang und Aquarium, und sagt: „Da willst du doch nicht hoch, oder?“ Das Mädchen lässt sich nicht beirren: „Doch!“ 134 Stufen geht es hinauf, oben drückt sich die Mutter an die Wand, das Kind rennt um das Lampenhaus herum. Weit kann man hier kucken, das Leuchtfeuer sollte die Ostsee zwischen Darßer Ort und der dänischen Insel Falster sicherer machen.

Zelte, Strandkörbe, Buden - all das gibt es hier nicht, der Leuchtturm steht in der Kernzone des Nationalparks. Man findet sie jedoch nicht weit von hier in Prerow, der nächsten Station. In der Fußgängerzone drängen sich die Urlauber, das Rad muss ich schieben. In der Abfolge von Schmuckläden, Fischbrötchenbuden, Souvenirshops steht ein Schild: DDR-Softeis. „Ohne Schemie!“, sagt der Mann in der Bude und betätigt einen blassweißen Hebel an einer Maschine. „Ist die aus der DDR?“ Nein, der Apparat sei neu, es komme auf die Zutaten an. Und die sind? „Na ebent Milchpulver, wie jedes andere Softeis auch.“ Aha, und in der DDR wurde das ohne Chemie hergestellt? „Also jedenfalls mit weniger Schemie“, sagt er zunehmend ungehalten, „ist so.“

Es bewölkt sich, die Schwalben fliegen so tief über den Deich, dass sie mir durch die Speichen segeln könnten. Es sieht nach Niederschlag aus, und tatsächlich, am nächsten Tag regnet es Bindfäden. Also fahre ich mit dem Bus nach Barth auf der Festlandseite des Boddens, das Rad darf mit, im Anhänger. Das funktioniert super, ohne Murren steigt der Busfahrer immer wieder aus, zieht sich Arbeitshandschuhe an, klappt den Anhänger auf, lädt die Räder ein.

Barth ist ein Kleinstädtchen von einst großer Bedeutung. Die Barther Werften bauten im 19. Jh. über 500 Segelschiffe, heute fahren nur noch Ausflugsschiffe vom Hafen ab. Auf Fischland-Darß-Zingst liegen alle Häfen hinter der Halbinsel, am Bodden, also in ruhigerem Fahrwasser.

Vielleicht war Barth sogar die sagenhafte Stadt Vineta, der Überlieferung nach in einer Sturmflut untergegangen. Lange waren Forscher überzeugt: Wollin ist Vineta! Andere suchten bei Rügen. 1994 aber verorteten zwei Wissenschaftler Vineta neu, bei Barth. Hier wollte man das gerne glauben. Das Barther Heimatmuseum heißt nun „Vineta-Museum“, die Stadt ließ sich die Bezeichnung „Vineta-Stadt“ patentieren.

Der Himmel klart auf, ich radle zurück an die Ostsee. Der Radweg führt entlang der alten Bahnstrecke nach Zingst. Brombeeren und wildwachsende gelbe Pflaumen fallen mir quasi direkt in den Mund. Noch leckerer wird es, als ich dem Schild „Sanddorneis, Holundereis“ folge. Das Eiscafé Schumann in Bresewitz nennt sich nicht neumodisch Manufaktur, das Eis ist trotzdem selbstgemacht. Für das Holundereis kochen sie den Sirup aus Blüten, das Sanddorneis wird aus dem Saft hergestellt. „Dann mit Sahne?“ „Ja, und mit schön viel Butter!“ Aha, da werde ich wohl heute noch etwas abstrampeln müssen.

Was die alten Maler für Ahrenshoop sind, stellen junge Fotografen in Zingst dar: Sie sind allgegenwärtig. Großformatig prangt ihre Kunst im ganzen Ort. Ich könnte mir im Max-Hünten-Haus Kameras ausleihen, Fotokurse belegen, an Workshops teilnehmen. Um Max Hünten nachzueifern, der vor hundert Jahren auf einer Weltreise allen Instagramern von heute etwas vormachte: Sein Nachlass umfasst 500 Glasplattennegative und 300 Negative. Ich trete wieder in die Pedale; nach Osten soll es nun gehen.

Der Aussichtspunkt an der Hohen Düne ganz im Osten von Fischland-Darß-Zingst.
Der Aussichtspunkt an der Hohen Düne ganz im Osten von Fischland-Darß-Zingst.

© Barbara Schäfer

Es wird immer einsamer. Hinter der Sundischen Wiese darf man sich nur noch zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegen. Ich bleibe eisern auf dem Radweg, denn die Wiesen links und rechts sind „kampfmittelbelastet“, wie Schilder warnen. Hier liegen noch Bomben, Munition und Handgranaten, hauptsächlich von der Nationalen Volksarmee verborgen. Die Kühe auf der Weide scheint es nicht zu stören.

Die Landschaft wird flacher, wenn das überhaupt noch geht. Auf dem Deich macht das Radfahren nun richtig Spaß, es ist kaum etwas los, und das Rad schnurrt nur so dahin, herrlich! Schwupps bin ich schon in Pramort angekommen, an der Vogelausguckstation ist der Radweg zu Ende. Der Wind fegt über das Röhricht. 250 Vogelarten leben hier, und im Herbst kommen noch Zehntausende Kraniche zu Besuch.

Ich schaue lange in die Landschaft, ein paar kleinere Vögel fliegen auf. Ich fahre zurück und sehe ein Schild: Wanderweg Hohe Düne. Nee, jetzt wieder das Fahrrad anschließen, zu Fuß gehen? Dafür bin ich doch nicht hierhergekommen. Und dann mache ich es doch und finde so meinen Lieblingsort dieser Reise. Zur Hohen Düne führen Bohlenwege in die Kernzone des Nationalparks. Am Ende des Pfads baut sich die bewachsene, 13 Meter hohe Düne auf, darauf ein Aussichtsturm. An ihrem Saum breitet sich ein weißer Strand aus, der Nordstrand, der nicht betreten werden darf, grünes Wasser in lang auslaufenden Wellen mit weißen Schaumkronen.

Ich löse mich, spaziere zurück zum Fahrrad. Jetzt erst merke ich: Das Fahrrad schnurrte nicht deshalb so herrlich nach Pramort, weil ich so gut im Training bin - sondern weil ich Rückenwind hatte. Was heißt Wind: Sturmböen blasen mir nun ins Gesicht, ich krümme mich auf dem Fahrrad, stemme mich dagegen. Mir kommen Ausflügler entgegen, locker pedalierend. Ihr werdet Euch noch wundern! Ich habe mir noch nie so sehr ein E-Bike gewünscht. Was freu ich mich auf das nächste Fischbrötchen, sollte ich irgendwann einmal in Zingst ankommen.

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