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Restaurierte Giebelhäuser in der Kröpeliner Straße.

© Getty Images/iStockphoto

Ostseeküste Mecklenburg: Hanse im Glück

Rostock hatte es nicht leicht. Nach der Wende ging es mit der Fischerei und dem Schiffsbau bergab. Doch die Stadt hat sich berappelt - und feiert in diesem Jahr ihr 800. Gründungsjahr.

Was sind schon 23 Jahre im Vergleich zu 800? 23 Jahre, so lange rechnete der Rostocker Manfred Schukowski astronomische Konstellationen durch, mit Papier und Bleistift, und er wollte fertig werden, wenn seine Heimatstadt ihren 800. Geburtstag feiert. Die Berechnungen dienen jetzt dazu, die Astronomische Uhr von 1472 in der trutzigen Backsteinkirche St. Marien am Neuen Markt für die nächsten 133 richtig einzustellen. Der Mann ist 89 Jahre alt, in der DDR war er Mathematiklehrer, er hat miterlebt, wie es mit Rostock auf- und abwärtsging - und zuletzt wieder etwas aufwärts. Die Stadt überstand den Wandel so stoisch wie ihre Bewohner.

Immer schön mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben, so sind sie, die Rostocker. Früher lebten die Menschen hier von Schiffsbau, von der Handelsschifffahrt und der Fischerei. Heute ist das vorbei, aber Rostock ist nicht Wismar oder Stralsund. Diese Stadt lebt nicht vom Hübschsein, hier wird sich gegen Wind und Wetter gestemmt und malocht. Doch wer sucht, findet den Charme dieser Stadt. Direkt am Neuen Markt liegt eines der ältesten Gebäude, das Rathaus mit barocker Fassade. Dort beginnt auch Mecklenburg-Vorpommerns geschäftigste Fußgängerzone, die Kröpeliner Straße, mitten drin sprudelt der Brunnen der Lebensfreude, ein beliebter Treffpunkt. Nur ein paar Meter weiter und man steht im ruhigen Hof des Zisterzienserinnenklosters zum Heiligen Geist. In diesen fast 750 Jahre alten Backsteinmauern ist das Kulturhistorische Museum mit einer Ausstellung über die Geschichte Rostocks untergebracht. Und in der Östlichen Altstadt, bei den beiden ältesten Rostocker Kirchen St-Petri und St-Nikolai ahnt man, wie alt die Stadt tatsächlich ist: Vor 800 Jahren bestätigte der mecklenburgische Fürst Heinrich Borwin I. das Rostocker Stadtrecht.

Als Mitglied der Hanse begann für Rostock im 13. Jahrhundert eine erste arbeitsreiche Blüte, 1419 wurde hier die erste Universität Nordeuropas gegründet, die 2019 ihr 600-jähriges Jubiläum feiert. Seither veränderten Stadtbrände, Epidemien, wirtschaftliche Krisen und Kriege das Stadtbild immer wieder. Zuletzt wurde Rostock im zweiten Weltkrieg fast zur Hälfte zerstört. Am Ufer der Warnow befand sich ein Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie. Doch 1960 kam wieder ein Aufschwung. In Rostock wurde der einzige Überseehafen der DDR erbaut. Es wurde investiert, die Einwohnerzahl verdoppelte sich, rund um den alten Stadtkern entstanden Neubauviertel mit geometrischen Straßenzügen, Parks und Kaufhallen mit freischwingenden Dächern. Insgesamt kamen ab Ende der 50er Jahre bis zur Wende 54 000 neue Wohnungen hinzu. Von überallher zogen Menschen her. Diese Mischung macht die Stadt heute noch aus.

Einer, der damals kam, ist Rolf Jürgen Petzold, ein kleiner Mann, der mit seinen 79 Jahren immer noch drahtig ist und dem man es sofort glaubt, wenn er sagt: „Ich arbeite gern.“ Der Ex-Kapitän steht am Aufgang der „Dresden“, eines ehemaligen Stückgutfrachters, der am Kai des Geländes der Internationalen Gartenbauausstellung von 2003 vertäut liegt und so aussieht, als warte sie nur auf Passagiere, um in See zu stechen. Dabei beherbergt sie Vergangenheit. Seit 1970 ist die „Dresden“ Teil des Rostocker Schiffbau- und Schifffahrtsmuseums, das von Werften und der Fischerei in der Stadt erzählt und wo man auf der Kommandobrücke stehen und vom Motorraum bis zur Kombüse das Schiff erkunden kann.

Petzold führt an Bord und erzählt von der maritimen Geschichte Rostocks, von der DDR-Hochseefischerei und von seiner eigenen Geschichte, die eng damit zusammenhängt. Er war von Anfang an dabei, obwohl er 1938 als Landratte, weit weg vom Meer, in Sachsen zur Welt kam. Als er in der Volksschule einmal gefragt wurde, was er werden wolle, sagte er voller Stolz: „Kapitän“. Seine Schulkameraden lachten ihn aus. Doch mit 14 Jahren brachte ihn sein Großvater nach Rügen, dort bestieg er ein Schiff und ließ sich im damals neuen Beruf des Hochseefischers ausbilden. Mit 24 schipperte er als Kapitän mit 30 Mann Besatzung über die Meere. „Der Fisch, den wir fingen, wurde bis 1990 im Fischereihafen an der Warnow verarbeitet, aber mit der Wende war damit schlagartig Schluss“, sagt Petzold.

Wie viele andere Fischer und Werftarbeiter, die mit der Wende abgewickelt wurden, stand er plötzlich ohne Arbeit da. Er orientierte sich neu, wandelte das Wohnheim für Fischer zu einem Hotel um und ging mit Anfang 60 noch einmal an die Universität, machte sein großes Kapitänspatent und heuerte auf dem Kreuzfahrtschiff MS Deutschland als zweiter Offizier an. Noch einmal ferne Länder bereisen, auf der Kommandobrücke stehen und Passagieren den Sternenhimmel erklären - man merkt, Petzold ist zufrieden mit seinem Leben. Doch längst nicht alle haben die Umbrüche so genutzt, wie er. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang schwand auch etwas vom Selbstverständnis der Rostocker. Es hat lange gedauert, bis sich die Stadt wieder berappelte. Heute ist Rostock die einzige Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, die keine Schulden mehr macht und 2017 sogar einen Überschuss von 90 Millionen Euro erwirtschaftete.

Man merkt, dass sich etwas tut. In den verwaisten Fischereihafen nördlich der Altstadt etwa, kehrt nach langem Stillstand wieder Leben ein. Entlang der Warnow entstehen neue Wohnhäuser, werden alte Speicher, Lagerhallen und Werkstätten umgestaltet. Wo einst der Fisch anlandete, wird er heute in einem Fischmarkt verkauft - frisch aus der Ostsee. Während der gekachelte Lagerraum fast unverändert ist, wurde ein Raum mit Blick auf den Fluss zu einem modernen Restaurant umgebaut. Dort essen Einheimische mittags gerne einfache Küstengerichte wie gebratene Scholle oder Matjes.

Nicht weit vom Fischereihafen liegt auch der einzige Kunsthallenneubau der DDR, den ein Rostocker Zahnarzt betreibt. Er hat es geschafft, den sachlichen Backsteinbau, der mit weißem Kunststein verkleidet ist, zu einem Treffpunkt in der Stadt zu machen und zu einem kulturellen Hotspot an der Ostseeküste. Auch wenn Spötter die Vernissagen als Schickimicki bezeichnen und immer mal wieder Ausstellungen, wie die über das DDR-Modemagazin „Sybille“, der Ostalgie frönen. Ein Besuch an einem Samstagnachmittag macht klar: der Versuch, die Leute in die Kunsthalle zu locken, ist gelungen. Im Café duftet es nach frischen Waffeln, im „White Cube“, einem überdachten Innenhof mit weißen Wänden, hat der Grafikdesigner und Künstler Andree Volkmann direkt mit schwarzer Tusche und Bleistift riesenhaft vergrößerte Szenen aus dem Fernsehen auf die Wände gezeichnet. Volkmann lebt schon lange in Berlin, doch er wuchs in der DDR-Plattenbausiedlung Lütten Klein im Nordwesten der Stadt auf.

Ein anderer Künstler, der Illustrator Matthias Dettmann, sitzt an diesem Samstag in der Kantine der Kunstschule „Frieda“ in der Friedrichstraße, die in einem einst grauen Plattenbau untergebracht ist, der saniert und mit einer großzügigen Glasfassade an der Stirnseite ausgestattet wurde. Die Kunstschule gibt es nur, weil Künstler der Stadt zehn Jahre lang dafür gekämpft haben, dass Kinder und Erwachsene dort malen, töpfern, Comics zeichnen und Filme machen können. Die Kinder und Jugendlichen sind zum Teil nie aus den Neubauvierteln Lütten Klein oder Lichtenhagen rausgekommen, das man von den rassistischen Unruhen 1992 kennt. Manche provozieren, schmieren auch heute wieder Hakenkreuze an die Wand. Dettmann, selbst ein Plattenbaukind, weiß: Man muss auf sie zugehen, Angebote schaffen. Sein eigenes Leben spielte sich in Toitenwinkel ab, dem letzten neu gebauten Viertel vor der Wende. Hier rappte er mit dem mittlerweile berühmten Musiker Marteria im Jugendtreff, hier sprühte er Wände an - bis er anfing Comics zu zeichnen. Mit den Jugendlichen baute er im vergangenen Jahr einen vier Meter hohen Moby Dick aus Ästen und Kabelbindern. Zum ersten Mal begriffen sie, dass sie als Gruppe etwas mit ihren eigenen Händen schaffen können. „War mal was anderes als T-Shirts zu bedrucken“, sagt der 37-Jährige.

Als Künstler hat er es nicht leicht in einer Stadt, in der für viele Kultur gleichbedeutend ist mit dem jährlichen Hafenfest Hansesail und dem größten Weihnachtsmarkt Norddeutschlands. Dettmanns Lieblingsmotiv ist Rostock, immer wieder hat er die Gebäude, das Meer und die Küste gezeichnet. 2015 gründete er die Illustrade, ein Festival mit Ausstellungen und einem Wettbewerb für Illustrationen. Zum 800. Stadtgeburtstag hat er nun das Buch „Rostock, mein Arkadien“ herausgegeben, eine Sammlung von Rostock-Texten berühmter Autoren, und seine Zeichnungen dazugestellt. Über Jahre sammelte er Literatur, die, wenn auch oft nur am Rande, mit seiner Stadt zu tun hat. In den abedruckten Erzählungen, Briefen und Romanausschnitten fährt Erich Kästner durch Rostock, Kempowski spaziert durch die Gassen der Altstadt, Thomas Mann lässt Lotte aus Weimar Urlaub am Meer machen. Besonders in drei Epochen wurde viel über Rostock geschrieben: um 1800, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Stadt scharenweise Badegäste aus Berlin anzog, und dann noch mal zu DDR-Zeiten.

Wenn man weiter durch Rostock spaziert, etwa durch die Lange Straße mit ihren langgezogenen Backsteingebäuden, das Rostocker Pendant zur sozialistischen Vorzeigestraße Karl-Marx-Allee in Berlin, kommt man in die bewegte Kröpeliner-Tor-Vorstadt. In der „KTV“, wie Rostocker das junge Szeneviertel nennen, gibt es nette Cafés und Geschäfte, schön sanierte Wohnhäuser und rund um den Doberaner Platz sind viele junge Familien unterwegs. Hier entsteht ein neues Selbstbewusstsein der Stadt.

Wie jung und lebendig Rostock sein kann, merkt man auch auf den langgezogenen Stufen im Stadthafen entlang der Warnow, die bis zur Uferkante heruntereichen. Zwischen alten Lagerhäusern, Industriedenkmälern, blauen Frachtkränen und Segelbooten treffen sich hier Studenten und andere junge Rostocker, bringen etwas zu trinken mit, machen Musik, quatschen in den Abend hinein. Auf Pollern sitzen drei junge Männer und singen voller Inbrunst den Refrain eines arabischen Liedes mit, das aus einem Handy scheppert.

Nur ein paar Meter weiter, im Mau, dem größten Musikclub der Stadt, stehen die schweren Metallschiebetüren der ehemaligen Lagerhalle offen, rumpelnde Gitarrensoli kreuzen sich mit dem Gesang einer Rockband. Nebenan, in der Bühne 602, ist gerade ein Wettbewerb für junges Theater in Mecklenburg-Vorpommern zu Ende gegangen. Genüsslich haben sich die Schauspielstudenten über Klischees hergemacht, die ihr Land zu bieten hat: Knorrige Alte treffen auf der Bühne auf Flüchtlinge. Hier, an der Warnow, versteht man, dass Rostock auch das ist, was der Hafen nahelegt: eine weltoffene, dem Meer zugewandte Stadt.

Für das neue Rostock steht auch Hannes Winter. Genaugenommen für Warnemünde, einen nördlichen Stadtteil Rostocks, der nicht am Fluss liegt, sondern am Meer. Schon Winters Onkel war Stehbrett-Segler, so nannte man Surfer zu DDR-Zeiten. Sein Neffe reitet sprichwörtlich auf der Welle, die Warnemünde zu bieten hat. Der gebürtige Rostocker mit den zerzausten Haaren hat einen Surfer-Laden in der hübschen Friedrich-Franz-Straße. Das Kopfsteinpflaster unterstreicht die dörfliche Atmosphäre, die nur ein paar Straßen weiter undenkbar ist. Zu grell ist auf der Warnemünder Flaniermeile am Alten Strom der Wille, den Touristen billiges Vergnügen mit Bratfisch unbekannter Herkunft, Polyestermode und Scheppermusik zu bieten. Geht man den Strom bis zu seiner Mündung, kommt man erst zum Leuchtturm und dann an die Mole. Von hier kann man die großen Fähren beobachten, die aus Dänemark und Schweden kommen und die Welle verursachen, die unter Surfern legendär ist. Eine junge und sehr treue treue Surferszene hat sich wegen ihr in Warnemünde etabliert.

Auch Winter hat von der Welle profitiert. Schließlich ließ sich prima damit planen, weil sie täglich zur gleichen Zeit anrollt. Sein ganzes Studium hat er nach den Fähren ausgerichtet: Zwei Stunden BWL, dann schnell nach Warnemünde Wellenreiten, danach zurück an die Uni. Seinen Abschluss schrieb er über die Fertigung von Surfbrettern, die er heute im Hinterhof baut. Für ihn bedeutet das Meer vor allem Freiheit. Rostock war für ihn immer die Stadt, in der er leben will. Nicht nur, weil er inzwischen eine eigene Familie hat - auch, weil er hier so gut mit dem Wind und den Wellen arbeiten kann.

Tipps

Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum Rostock. Ein Museum im Bauch des ehemaligen Frachtschiffs Dresden. Schmarl-Dorf 40, 18106 Rostock, Tel. (0381) 12 83 13 64, schifffahrtsmuseum-rostock.de

Rostocker Fischmarkt. Frischer Fisch von stolzen Fischern - und jeden Mittag leckere Fischgerichte. Warnowpier 431, 18069 Rostock, Tel. (0381) 811 12 21 rostocker-fischmarkt.de

Kunsthalle Rostock. Ausstellungen zu zeitgenössischer und DDR-Kunst. Hamburger Straße 40, 18069 Rostock, Tel. (0381) 381 70 00, kunsthallerostock.de

Kunstschule Rostock. Die Kunstschule bietet auch offene Kinderkurse in den Ferien. Friedrichstraße 23, 18057 Rostock, Tel. (0381) 36 76 78 80, kunstschule-rostock.de

Waldenberger Törtchenlokal. Ein Grund mehr, die Kröpeliner Tor-Vorstadt zu erkunden: Hier gibt es 1a-Törtchen und Strudel!, Waldemarstraße 52, 18057 Rostock, Tel. (0176) 23 31 45 81, waldenberger.org

Kaffeerösterei da joir ma. Hier wird geröstet und kräftig eingeschenkt. Neue Werderstraße 42, 18057 Rostock, kaffee-dajoirma.de

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