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Eine Kegelrobbe schaut aus dem Stubber, einer Untiefe im Greifswalder Bodden.

© Thilo Rückeis

Ostsee-Magazin 2019: Warten auf Gisela

Nach vielen Jahren kehren die Kegelrobben in den Greifswalder Bodden zurück. Junge Naturschützer helfen, sie zu zählen.

Ein träger Samstagmorgen im Jachthafen von Lauterbach. Helena und Anna schauen vom Steg aus hinaus auf den Greifswalder Bodden, der den südöstlichen Teil Rügens vom Festland trennt. Der Himmel ist bedeckt, eine leichte Brise geht, perfekte Bedingungen für eine Ausfahrt! Die beiden Schülerinnen, 17 und 15 Jahre alt, gehen an Bord eines Polyesterbootes. An Deck warten bereits Falko Bindernagel und Michael Kolberg auf sie, hauptamtliche Ranger des Biosphärenreservats Südost-Rügen. Heute fahren sie gemeinsam hinaus, um Kegelrobben zu zählen. Eine schöne Aufgabe, denn die Tiere waren lange aus dem Ostseeraum verschwunden.

Helena und Anna sind sozusagen live dabei, wie die Tiere sich ihren Lebensraum zurückerobern. Die beiden wohnen auf Rügen, Anna geht aufs Gymnasium Bergen, Helena auf die Realschule Garz. Und beide sind Junior Ranger, ehrenamtliche Naturschützer. Die Ausflüge zu den Robben sind nur eine von vielen Aufgaben, die sie übernommen haben. "Wir haben schon Nistkästen für Waldkauz und Dohlen gebaut, an Sommercamps teilgenommen und auf der Rügener Holzmesse Infostände betreut" sagt Helena.

Die Kegelrobbe ist das größte Raubtier Deutschlands

Rumpelnd jagt das Boot übers Wasser, angetrieben von einem kräftigen Außenbordmotor. Kolberg steuert es nördlich an der Insel Vilm vorbei, Richtung Lubmin. Die Mädchen erklären unterdessen, was an der Kegelrobbe so interessant ist. "Sie ist das größte Raubtier Deutschlands" sagt Helena. Und Anna ergänzt: „Solange der Bär sich nicht wieder ansiedelt, bleibt sie das auch.“ Bis zu 2,30 Meter lang werden Kegelrobben, die erwachsenen Tiere wiegen gerne mal 200 Kilo und mehr. Und wie unterscheidet man sie von Seehunden? "Na die sind viel kleiner", sagt Helena.

Die Juniorrangerinnen Helena und Anna helfen freiwillig beim Beobachten und Zählen der Robben.
Die Juniorrangerinnen Helena und Anna helfen freiwillig beim Beobachten und Zählen der Robben.

© Thilo Rückeis

Ranger Bindernagel hat so eine Ahnung, dass heute nicht allzu viele Robben zu sehen sein werden. Im Frühjahr 2018, als der kalte Winter so schnell in einen ungewöhnlich warmen Frühling umgeschlagen war, tummelten sich hier so viele Kegelrobben wie seit Jahrzehnten nicht. "Neunzig wurden auf der Oie gezählt, zweihundert im Bodden", sagt Bindernagel. Doch das war eine Ausnahme. "Die Robben waren den Heringsschwärmen gefolgt. Nach zwei, drei Wochen waren sie auch wieder weg."

Die vielen Robben im Frühjahr waren sozusagen Gäste. Sie haben einen großen Aktionsradius. An einem Tag von Bornholm herunter in den Bodden und zurück - das ist für eine Kegelrobbe keine ungewöhnliche Strecke. Auf Dauer leben im Greifswalder Bodden bisher nur um die 30 Tiere. Paare mit Jungen sind bislang nicht dabei. "Ob sie hier an Land gehen und Junge aufziehen, entscheiden allein die Tiere", sagt Kolberg trocken und schaut dabei über die Schulter.

Die Tiere haben ein "pfiffiges Verhalten" entwickelt

Lange waren Kegelrobben sogar komplett aus der Bucht südlich von Rügen verschwunden. Der Grund: Im 19. Jahrhundert wurde in der Ostseeregion ein Kopfgeld auf erlegte Kegelrobben gezahlt - vor allem, weil die Fischer um ihren Fang fürchteten. "Wenn Kegelrobben ein volles Fischernetz im Meer sehen, ist das wie wenn ein Wolf eine eingezäunte Schafherde sieht. Das ist ein gedeckter Tisch für sie", erklärt Helena. Und in den letzten Jahren wurde immer öfter eine ziemlich pfiffiges Verhalten beobachtet. "Sie beißen außen die Fische ab, die aus den Maschen herausragen. Die Fischer haben dann nur noch angebissene Fischköpfe im Netz", sagt Helena. "Das spricht sich dann beim nächsten Robbenfamilientreffen herum. Die Tiere lernen."

Nachdem das Kopfgeld die Robben dezimiert hatte, machten Umweltgifte ihren Lebensraum unbewohnbar, in den 70er- und 80er-Jahren wurden DDT und PCB in die Ostsee eingeleitet. Die Junior Rangerinnen holen eine Studie des WWF hervor, in der genau nachzulesen ist, wie sich die Bestände entwickelt haben. Darin steht: Weltweit sind Kegelrobben zwar nicht gefährdet, aber in der Ostsee stehen sie auf der roten Liste der bedrohten Arten. Von ursprünglich 100.000 Tieren im Ostseeraum waren Anfang der 1980er-Jahre gerade einmal 2400 übrig. Immerhin haben sich die Bestände in den letzten 30 Jahren deutlich erholt - nun sind es wieder um 35.000 Tiere. Wie viele wir davon wohl heute zu sehen bekommen?

Helena und Anna erklären unserem Autor, wie man die Kegelrobben erkennt.
Helena und Anna erklären unserem Autor, wie man die Kegelrobben erkennt.

© Thilo Rückeis

Kolberg drosselt den Motor, das Boot verlangsamt seine Fahrt. "Wir sind da", ruft Helena. "Wie man sieht, sieht man keine Insel." Kolberg deutet geradeaus, wo ein leichtes Kräuseln auf der Wasseroberfläche zu erkennen ist: eine Untiefe. Die Sandbank "Großer Stubber" liegt eine handbreit unter Wasser. Da halten sich die Robben gerne auf.

Eigentlich.

Skipper, Ranger und Junior Rangerinnen spähen in alle Richtungen: Hier ist nur Wasser zu sehen. Nicht eine Robbe. Vielleicht sind wir doch zu spät dran heute? Erleben wir die erste "Nullsichtung" seit acht Jahren? "Manchmal", sagt Anna, "kommen die Robben bis ans Boot. Sie sind nämlich neugierig!" Wenn die Robben mitbekommen, dass wir da sind, schauen sie vielleicht einmal nach uns. Dass sie uns bemerkt haben, ist ziemlich sicher. Kegelrobben haben ein ausgezeichnetes Gehör, und unter Wasser verbreiten sich Schallwellen über viele Kilometer.

Unser Boot dümpelt. Dümpeln heißt: Es fährt nicht, dafür hüpft es wie ein Ball auf dem bewegten Wasser. Ständig wird es von kurzen, gar nicht einmal so flachen Wellen geschaukelt. Der Horizont dreht sich um mehrere Achsen gleichzeitig. Die Mädchen legen orange Rettungswesten an, setzen sich raus aufs Vordeck und suchen mit Ferngläsern das Wasser ab. "Ich folge immer einer Linie, bis ich an etwas stoße", sagt Anna, "an einen Stein, der aus dem Wasser ragt - oder an eine Robbe."

"Da ist Gisela!" ruft Helena plötzlich und zeigt nach Backbord. Und tatsächlich: Zwischen den Wellen guckt, vielleicht zwanzig Meter entfernt, ein kräftiger, dunkler Kopf hervor. So weit, dass man klar erkennt: Das ist kein Stein. Ranger Bindernagel schaut in die Richtung und meint: "Guckt sie euch nochmal genauer an. Vielleicht ist eure Gisela ja eher ein Gisbert."

Der Ranger Falko Bindernagel ist schon seit Jahren auf der Suche nach Robben im Greifswalder Bodden.
Der Ranger Falko Bindernagel ist schon seit Jahren auf der Suche nach Robben im Greifswalder Bodden.

© Thilo Rückeis

Gisbert oder Gisela - kann man das Geschlecht auf die Entfernung wirklich erkennen? Die Mädchen erklären das abwechselnd. Also: Die Männchen haben einen massigeren Kopf und buchstäblich einen dickeren Hals. Die Weibchen sind schmaler und graziler. Das Brustfell der Männchen ist dunkel mit hellen Punkten, bei den Weibchen ist es umgekehrt. Inzwischen ist ganz gut zu erkennen, dass wir es doch mit Gisbert zu tun haben. Er taucht weit genug auf, dass man die dunkle Brust erkennt. Er ist ein gutes Stück nähergekommen. "Guck mal, der post richtig", sagt Anna, ohne das Fernglas abzusetzen. Fast eine halbe Stunde sieht es so aus, als bliebe Gisbert heute die einzige Robbe. Doch dann taucht, etwas weiter entfernt, noch ein Kopf aus dem Wasser auf, verschwindet kurz zwischen den Wellenbergen. Kopf und Hals sind recht zierlich, der Bauch grau - die Sache ist klar: Nun ist doch noch eine Gisela aufgetaucht! Und es zeigen sich noch mehr Köpfe. Die Mädchen vergeben Namen: "Da, Monika!" "Und Luigi!" Luigi und Gisbert, Monika und Gisela zeigen sich allerdings nicht gleichzeitig. Wie kann man da so sicher sein, dass Gisbert nicht einfach woanders aufgetaucht ist und jetzt doppelt gezählt wurde? "Es lag keine Minute zwischen dem Abtauchen und dem Auftauchen", erklärt Helena. "Normalerweise bleiben sie länger unter Wasser. Deshalb bin ich der Meinung, dass es zwei waren." Und tatsächlich, etwas später sind Luigi und Gisbert gleichzeitig zu sehen. Bei einer weiteren Robbe ist der Fall nicht so sicher zu entscheiden.

Besucher und Touristen sind erwünscht

Auch Touristen können zu den Robben fahren. Die Dampfer der Weißen Flotte sind sogar Teil des Monitorings. An Bord erklärt ein Biologe die Geschichte der Kegelrobben in der Region. Die Tiere, die die Besucher zählen, werden in die offizielle Statistik aufgenommen. "So sind die Lücken zwischen den Zählungen der Junior Ranger kleiner", erklärt Bindernagel. "Außerdem freuen sich die Touristen, dass sie einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erfassung der Robben im Bodden leisten." Ein eleganter Weg, Tourismus und Umweltschutz vor der Küste Rügens zusammenzubringen.

Im Yachthafen von Lauterbach starten die Ausfahrten der Junior Ranger.
Im Yachthafen von Lauterbach starten die Ausfahrten der Junior Ranger.

© Thilo Rückeis

Die Junior Rangerinnen warten noch eine Weile ab, aber mehr Robben kommen heute nicht. Der Skipper wirft den Motor an. Noch während der Rückfahrt füllen Helena und Anna den Berichtsbogen aus. "Dann haben wir das weg", meint Anna. Sie notieren: Datum, teilnehmende Personen, Wetterbedingungen, störende Einflüsse - das können zum Beispiel die Stellnetze der Fischer sein. Zahl der gesichteten Tiere: vier bis fünf, zwei Weibchen, die anderen Männchen.

Auf dem Rückweg hat der Skipper es weniger eilig, die Fahrt ist deutlich gemächlicher. Während die Helena und Anna schon wieder auf dem Vorderdeck sitzen, zieht in der Ferne ein Schwarm Kormorane im Tiefflug über das Wasser. Anna schaut sich das an und sagt: "Also ich mag meine Ostsee."

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