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Die Entscheidung folgt dem Instinkt: Der Fotograf spürt einfach, wenn er das perfekte Bild vor Augen hat.

© Nadja Bossmann

Ostsee-Magazin 2019: Fokussiert auf den Darß

Bei der Fotoschule Zingst hat unsere Autorin den Darß mit der Kamera umrundet und gelernt, wie man auch bei bedecktem Himmel die Natur in Szene setzt.

Der erste Fehler, den man in Zingst machen kann, ist, ein Reetdach ein Reetdach zu nennen. Das heißt hier Rohrdach, kurz für Schilfrohrdach. Der zweite Fehler ist, ständig Rohrdächer zu fotografieren. Macht hier nämlich jeder und ist nichts Besonderes. Und um "besondere, eigene Bilder" geht es Frank Burger, unserem Führer auf der "Fotosafari Zingst".

Mit seinem geländegängigen Fahrrad und großem Rucksack steht er auf dem Vorplatz des Max Hünten Hauses, kurz Max, dem Zingster Zentrum für Fotografie, und wartet auf letzte Mitfahrer. Der Journalist und Fotograf ist in Stralsund geboren, wohnt in Barth und kennt den Darß wie die Taschen seiner Cargo-Shorts.

Die Foto-Rallye per Rad bietet er im Sommer jede Woche an. Auch an düsteren Tagen wie heute mit dunkelgrauen Wolkenbergen und heftigen Windböen. Das sei doch eine prima Gelegenheit für dramatische Bilder, ermuntert der Foto-Profi. Bei technischen Problemen helfe er gern weiter.

Auch bei starkem Wind macht der Leuchtturm von Darß eine gute Figur.
Auch bei starkem Wind macht der Leuchtturm von Darß eine gute Figur.

© Nadja Bossmann

In zehn Stunden knapp 50 Kilometer über die Halbinsel - die Tour ist eine Art Schnittchen-Büffet der Darßer Naturschönheit, serviert in rascher Häppchen-Folge und im Laufe des Aufenthalts für jeden noch mal in Ruhe abzugrasen. "Alles kommt auf euer Tempo an", sagt Frank. Wenn wir das vorgegebene Pensum nicht schaffen, können aus zehn Stunden auch schon mal zwölf werden. Noch herrscht Gelassenheit, während nach und nach die Safari-Teilnehmer eintrudeln, sieben Männer und fünf Frauen, alle zwischen Mitte 30 und Mitte 50, fünf Helmträger, drei E-Biker, zwei mit umgeschnalltem Stativ, alle mit Kameratasche und eigener Verpflegung.

Die Wartezeit lässt sich mit einem Blick auf die Stellwände vor dem Max überbrücken. Gezeigt wird "Helden der Meere", eine großformatige Foto-Ausstellung des Münchners York Hovest. Outdoor-Galerien wie diese sind über ganz Zingst verteilt. Auf dem Postplatz Großaufnahmen gefährdeter Tierarten von Tim Flach unter dem Titel "In Gefahr", "Täglich Brot" von Gregg Segal zeigt zwei Straßen weiter, was Kinder in aller Welt in einer Woche zu essen bekommen. Auf der Jordanstraße eine Gruppenausstellung der ortsansässigen "Kamera Kids".

"Fotografie ist wie Basketball, eine Balance zwischen Spaß haben und locker bleiben"

Zingst war mal Seefahrerort, bevor es zum Ostseeheilbad wurde. Als Teil der ehemaligen "Goldküste", stiller als Rügen und Usedom, schicker als Prerow und Wustrow, hat es schon immer Besucher angezogen. Die kamen vor allem für Kur und Natur. Kulturinteressierte stiegen im Nachbarort Ahrenshoop ab, der für seine Künstlerkolonie und die besonderen Lichtverhältnisse bekannt ist. Das Licht ist bei uns genauso gut, dachten sich vor elf Jahren die Zingster und verwandelten das Dorf am Darß kurzerhand in eine Foto-Metropole.

Die Kurtaxe wurde ins Max investiert, einen schicken Neubau, der gleichzeitig Fotoschule und -bibliothek ist, Zentrum für Bildbearbeitung und Fotodruck. Aus dem alten Zingster Bahnhof wurde eine Leica Galerie. Es folgten ein "Olympus Fotokunstpfad“, ein Foto-Frühling, eine Sommer-Akademie, und der Foto-Herbst zur Hirschbrunft im Darßwald und zum Graukranich-Zug nach Süden, wenn 60.000 Vögel auf dem Darß zwischenlanden und den Himmel über der Ostsee verpixeln. Highlight des Jahres ist das Umweltfotofestival "horizonte", bei dem sich mittlerweile auch die Großen der Branche sehen lassen, ihre Bilder ausstellen und zum Gespräch einladen. Das elfte "horizonte" bescherte dem 3.000-Seelen-Dorf Zingst gerade einen neuen Rekord von 42.000 Besuchern.

"Ein gutes Foto muss weh tun"

Genug Einführung. Wir sind vollzählig, und Frank gibt die Streckenführung bekannt: Von Born über den Deich nach Ahrenshoop, entlang der Ostseeküste bis zum Darßwald, dann über den Weststrand, durch den Wald zum Darßer Nothafen, von dort zum Leuchtturm Darßer Ort und schließlich über Prerow zurück nach Zingst.

Aber erst mal geht es nur zum Hafen um die Ecke und auf die Fähre nach Born. In der Kajüte unter Deck erste Theoriestunde: "Gute Fotografie ist wie Basketballspielen, eine Balance zwischen Spaß haben und locker bleiben, aber auch ehrgeizig sein", erklärt Frank. Dabei sei fotografisches Sehen das Wichtigste und Technik nur Unterstützung. Equipment von 4.000 Euro werde in der Wertigkeit der Bilder oft von kleinen Billigkameras übertroffen, wenn nur der Blick stimme. Seine Zuhörer, bekennende Knipser und ambitionierte Hobbyfotografen, nicken bekräftigend zu jedem Satz. "Ein gutes Foto muss weh tun", fährt Frank fort. Man müsse sich dafür anstrengen, um vier Uhr morgens aufstehen, dreckig werden, sich lächerlich machen und in den Vordergrund drängen. Fotografen - das seien per se unbeliebte Menschen. Das Nicken der Runde fällt diesmal deutlich verhaltener aus.

Auch der Strand von Ahrenshoop ist ein schönes Fotomotiv.
Auch der Strand von Ahrenshoop ist ein schönes Fotomotiv.

© Nadja Bossmann

Frank fährt immer an der Spitze. Ein letzter Mann des Fahrradkorsos ist bestimmt, das erspart ewiges Durchzählen. Dies ist keine Trödelfahrt. Und kurze Vorwarnung: Von Born bis Ahrenshoop wird auf dem Deich geradelt. Das sei die anstrengendste Etappe unserer Tour. "Der Gegenwind ist hier der Berg", sagt Frank. Die fünf Kilometer sind bei mittlerem Tempo trotzdem locker zu schaffen. Mit Blick auf die Ostsee links und goldene, mit Mohn und Kornblumen gesprenkelte Felder rechts fährt man bei wenig Gegenverkehr nebeneinander, macht sich bekannt.

Jörg ist Feuerwehrmann aus Bottrop, hängt im Grauwertbereich zwischen Knipsen und Fotografieren fest und hätte gern mehr Zeit für Projekte wie dieses.

Claudia aus Lippstadt arbeitet beim Physiotherapeuten, hat schon mehrere Fotokurse gemacht und sich zum zweiten Mal in Ahrenshoop eingemietet. Die Mischung aus Naturentdeckung, Lokalgeschichte und Fotokurs hat sie auf die Safari gelockt.

Am Hafen von Althagen zwischen Zeesbooten und Räucherstuben mehr Theorie auf grüner Wiese: Im Schnelldurchlauf erklärt Frank anhand seines Tablets den Goldenen Schnitt, Perspektive und Reduktion. Für alle verständliches Fazit: Bildharmonie - das sei wie Hundehalter und Hund. Das Herrchen entscheide sich instinktiv für den Vierbeiner, der am besten zu ihm passe. Der Fotograf spüre einfach, wann er das perfekte Bild vor Augen habe.

Bröckelnde Küste im Sucher

Künstlermythos Ahrenshoop - gelbe, blaue, rote, schwarze Rohrdachhäuser mit Fledermaus-Gauben, Gärten voller Buschwindröschen und gestrichenen Lattenzäunen. Alles sehr malerisch, aber wir radeln stramm daran vorbei, machen nur einmal kurz Halt an einem besonders putzigen Kapitänshaus. Unser Etappenziel ist die Steilküste, der man beim Abbröckeln ins Meer mit genügend Muße zusehen kann. Die Küste wird hier jedes Jahr um mehrere Meter abgetragen und dann auf der anderen Seite des Darßer Ortes, am Nothafen, wieder angeschwemmt. Unten im Sand abgestürzte NVA Bunker, nicht identifizierbare Betonblöcke und endlose Reihen von Buhnen. Oben auf den Klippen eine rostige Metalltreppe, die jetzt ins Nichts führt. Frank gibt einen kurzen historischen Überblick: Die Halbinsel war mal Inselgruppe. Stralsund gehörte mal zu Schweden. Der alte Grenzweg trennt heute Meck und Pomm.

Neben endlos langen Stränden bietet Ahrenshoop auch Rohrdachhäuser in den verschiedensten Farben, in diesem Fall in Gelb mit einem Briefkasten in Hausform.
Neben endlos langen Stränden bietet Ahrenshoop auch Rohrdachhäuser in den verschiedensten Farben, in diesem Fall in Gelb mit einem Briefkasten in Hausform.

© Nadja Bossmann

Weiter geht's entlang der Küste. Wir radeln jetzt mit Rückenwind. Woher der weht, wird von den schief liegenden Kiefern angezeigt, die hier Windflüchter heißen.

Der Weststrand heißt so, weil er der einzige nach Westen liegende Strand an der Ostsee ist. Und er ist so ausnehmend schön, weil ihn niemand aufräumt. Gleich hinterm Sand beginnt der Darßwald. Wenn von dort ein Baum auf den Strand kippt, bleibt er liegen, zerlegt sich in salzigem Wellengang und Winterstürmen allmählich in bizarre Holzinstallationen und wird dabei von Fotografen endlos oft abgelichtet. Wie gestrandete Robben liegen auch wir über den Strand verstreut auf dem Bauch, um Kunst auf Augenhöhe zu schaffen.

Aufgesammeltes Strandgut: zwei Eselsbrücken. "Kleine Männer, große Klappe" erklärt den Blendenzahl-Umkehrwert und "Große Klappe, nix dahinter" das Verhältnis von Blendenöffnung und Schärfentiefe.

Der Darßwald war bis zur Wende Nutzwald und Jagdrevier

Der Sand in den Schuhen reibt wie Schmirgelpapier, aber zum Ausleeren ist keine Zeit. Wir erreichen den Darßwald. Dicht und dunkel wie im Märchen steht er da. Am Wegesrand überwachsene Tümpel, mannshohe Farne und die Wurzelberge umgefallener Baumriesen. Was sich wie Urwald anfühlt, war bis zur Wende Nutzwald, NVA-Gebiet und Jagdrevier. Seitdem darf der Wald als Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft verwildern, und das Rotwild nur noch per Teleobjektiv geschossen werden.

Kurzer Stopp für ein Experiment. Einmal eine Baumgruppe vornehmen, die Blendenautomatik einstellen, mit einer 30stel Sekunde belichten und während dieser Zeit die Kamera kippen, dirigiert Frank. So entstünden wunderbar verschwommene Bilder. Wir parken die Räder und nehmen Bäume ins Visier. Aber auch eine 30stel Sekunde ist verdammt lang, wenn plötzlich eine Armada zahnstocherlanger Stechmücken aus dem Sumpfland aufsteigt. Wir fassen uns diesmal freiwillig kurz.

Rote Fischer-Flaggen vor der Ostsee stellen einen schönen farblichen Kontrast dar.
Rote Fischer-Flaggen vor der Ostsee stellen einen schönen farblichen Kontrast dar.

© Nadja Bossmann

Frank hat gelogen. Die anstrengendste Strecke ist nicht die am Deich im Gegenwind, sondern anderthalb Kilometer über alte Betonstreben mitten im Wald, die sich durch Regen und Baumwurzeln gegeneinander verschoben haben. Ein Schüttelkurs für Hintern und Hirn und bei Blasenschwäche nicht zu empfehlen.

Wir erreichen den Nothafen, die einzige Stelle zwischen Rostock und Stralsund, an der Segelboote anlanden können. Ein Leuchtsignal, viele Buhnen und der Seenotkreuzer "Theo Fischer" - der Hafen liegt einsam da. Seine Tage sind gezählt. Noch wird er zweimal im Jahr für gut 500.000 Euro ausgebaggert und vom angespülten Sand befreit, aber der WWF hat erreicht, dass der Nothafen ab 2021 renaturiert wird. Stattdessen ist der Ausbau der Seebrücke in Prerow zum Außenhafen geplant. Was bleiben wird, sind spektakuläre Sonnenaufgänge.

Der Leuchtturm im Darßer Ort wurde bereits 1848 erbaut

Wir drehen um und radeln zurück durch den Wald in Richtung Leuchtturm am Darßer Ort, die letzte Etappe unserer Rundfahrt. Der 35 Meter hohe Turm wurde 1848 von den Preußen gebaut und ist immer noch in Betrieb. Seit 1978 wird die Beleuchtung allerdings per Funk geregelt. Der letzte Leuchtturmwärter bietet heute im Vorhof Kutschfahrten durch den Darßwald an. Für eine Turmbesteigung ist keine Zeit, aber für einen kurzen Strandspaziergang und den Versuch, Windflüchter, wachsende Dünenlandschaft und Leuchtturm nach dem Goldenen Schnitt ins Bild zu verhelfen.

Über Prerow geht's auf dem Deich zurück nach Zingst. Herzliche Verabschiedung am Kurhaus nach ziemlich genau zehn Stunden. Es hätte für alle gern noch weitergehen können. Auf dem Heimweg radele ich an Garagentoren vorbei, auf die sich die Bürger von Zingst riesige Fotos der vergangenen "horizonte" Ausstellungen haben drucken lassen. "Mein Foto für Zingst" heißt die Aktion. Ich halte bei jedem einzelnen Bild.

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