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Ellen Wisniewski bei sich zuhause in Zauchwitz, einem Ortsteil von Beelitz.

© Kai-Uwe Heinrich

Ortsvorsteherin mit 92 Jahren: Ellen Wisniewski lebt für die Politik

Ellen Wisniewski ist Bürgermeisterin von Zauchwitz. Und aufhören kann sie doch jetzt nicht, wo ihre SPD jede Hilfe braucht! Dabei wird sie im Juni 93.

Nach einigen Stunden Gespräch steht die Frau vor ihrem Haus in Zauchwitz, dem kleinen Ortsteil von Beelitz, neben einer Kiste voller Stiefmütterchen. „Die habe ich gestern gekauft, die müssen noch in den nächsten Tagen in die Erde, das mache ich auch selber“, sagt sie entschieden. Das also auch noch. Zwischen den vielfältigen Ortsanliegen, Straßenbau, Kindertagesstätte, Spielplatz, Wünschen an die Freiwillige Feuerwehr. „Frau Wisniewski, warum können Sie nicht aufhören?“ Ellen Wisniewski wird im Juni 93 Jahre alt. Sie war Bürgermeisterin von Zauchwitz und ist, seitdem der Ort in Beelitz eingemeindet wurde, Ortsvorsteherin.

Wisniewski, klein von Statur, groß im Herz, runzelig im Gesicht, aber mit hellwachem Verstand. Braucht ein bisschen für die Antwort. „Ich gebe Ihnen jetzt mal eine politische Antwort. Schauen Sie sich doch mal meine SPD an, oder die Grünen, die CDU, die Linken, die FDP, die andere mit den drei Buchstaben, diese Alternative, nehme ich nicht mal in den Mund, da müsste ich ja kotzen nach diesem, meinem Leben“, sagt sie. „Schauen Sie die alle an. Ich bin anders erzogen und aufgewachsen. Wo gibt es bei den allen noch Disziplin und Verantwortlichkeit? Da kann ich doch nicht aufhören.“ Wie könnte man dem widersprechen?

Ellen Wisniewski kommt etwas stockend und hinkend zur Tür, weil, wie sie später erzählt, der rechte Knöchel schmerzt. Gibt mit links die Hand, weil sie in der rechten das Telefon hält und mit lauter, kräftiger Stimme hineinspricht. Bittet gestisch, Platz zu nehmen, redet und redet. „Weil ich meiner Partei wieder zum Aufschwung verhelfen will“, erklärt sie. Zum Aufschwung, vor der Wahl in Brandenburg im Herbst.

1945 trat sie in die SPD ein

Ihre SPD hat einen Aufschwung nötig, „und wenn ich die Nahles mal vor die Brust bekomme, werde ich sie mir zur Brust nehmen“, wird die alte Dame an diesem Tag noch sagen, und da weiß man schon, dass das kein Zuckerschlecken für die Parteivorsitzende würde und dass „die Nahles“ nach dieser Ansprache ziemlich ermattet und erschlagen davonschleichen müsste.

Denn Ellen Wisniewski ist sehr meinungsstark, sehr durchsetzungsfähig, sehr polternd, unten in Bayern würde man sie als krachledern bezeichnen. So in der Art, wie es Franz-Josef Strauß war oder sein sozialdemokratischer Kontrapart Herbert Wehner. Man muss schon weit in die Historie der Republik zurücktauchen, um so eine Kämpin wie Ellen Wisniewski einordnen und begreifen zu können. Heiliger Willy, schafft zwei, drei, viele Ellens herbei, dann kann die Sozialdemokratie wieder kämpfen.

Macht sie ja, versucht ja gerade, ihre Wurzeln zu entdecken und wieder Volkspartei zu werden, die sie mal war, damals 1945, als Ellen Wisniewski in die SPD eintrat. Aber sagt das nicht etwas über den Zustand der Partei aus, wenn eine alte Genossin sich bemüßigt fühlt, bei der Wurzelbehandlung zu helfen?

„Ich mache Ihnen erst mal einen Kaffee“, sagt Ellen Wisniewski und humpelt in die Küche. Man trifft es wohl recht genau, wenn man Ellen Wisniewski als umtriebig, lebensnah und lebensfreudig charakterisiert. Draußen, im Carport, war ihr Auto zu sehen, „aber klar fahre ich noch Auto“, sagt sie lachend, „meine Freunde sagen immer, ich soll nicht so schnell fahren. Aber das bin doch nicht ich, das ist doch mein Auto, das 140 fährt.“

Sie kandidiert jetzt wieder

Bei der letzten Kommunalwahl erhielt die SPD – und damit deren einzige Ortsbeiratskandidatin Ellen Wisniewski – 55 Prozent der Stimmen in Zauchwitz. Man mag das nivellieren, weil Zauchwitz nur 300 Einwohner hat, von denen 254 wahlberechtigt sind, aber immerhin hat Wisniewski mehr als die Hälfte jener 145 Wähler, die schließlich zu Wahl gegangen sind, überzeugt mit ihrer kommunalpolitischen Arbeit.

Sie ist stolz, dass sie all die Landlust suchenden, zugezogenen „alten Bundesbürger“ – sie sagt bewusst nicht Wessis – hat einbinden können. Zum Beispiel, indem sie vor dem Ort Parkplätze hat anlegen lassen, damit der dörfliche Charakter nicht zugeblecht wird. Das kommt an im Dorf, hat sie beliebt gemacht, „die Ellen“, hört man im Café Zum Kirschbaum, „setzt sich ein für uns und setzt sich durch“.

Ellen Wisniewski, seit 1979 ununterbrochen Bürgermeisterin von Zauchwitz, zunächst für eine andere Partei, die SED, kandidiert jetzt wieder. Ministerpräsident Dietmar Woidke hat sie persönlich darum gebeten, „da kann ich mich doch nicht davonstehlen“. Zusätzlich sitzt sie in der Stadtverordnetenversammlung von Beelitz als eine von zwei SPD-Vertretern, versäumt keine Sitzung, ist damit die wohl älteste aktive Politikerin Deutschlands. Aber vor allem ist sie Zeitzeugin. Drei Epochen dieses Landes hat sie durchlebt. Sie sagt: „Es gibt zwei Sachen, über die ich mich ärgere. Erstens, dass ich eine Frau bin, weil man als Mann leider immer noch mehr Einfluss nehmen kann. Wir haben zwar die Kanzlerin. Noch. Auch ein paar andere Frauen, aber die Wirtschaft wird von Männern bestimmt. Zweitens: Dass ich eine alte Frau bin. Ich würde mich gerne noch gewaltig einmischen.“ Man glaubt das sofort, dass sie im Leben steht, auch wenn sie schlecht hört.

Kindheit bei Pflegeeltern

Und was für ein Leben! Nachprüfbar sind viele Details heute nicht mehr, auch nicht, ob sich nicht manches verklärt hat in all den Jahren. Aber die Erinnerungskraft dieser Frau voller Mut und Entschluss verleiht Glaubwürdigkeit.

Neun Jahre alt war die kleine Ellen, als ihr ein wenig feinfühliger Lehrer in Großlehna mitteilte, dass sie doch Hamann heiße und nicht Glock, und dass die Frau und der Mann, die sie für ihre Eltern hielt, gar nicht ihre Eltern waren, sondern Pflegeeltern. Seitdem weiß sie, dass sie eine Mutter hat, die sie zur Welt brachte, und eine Mama, die sie großgezogen hat. Das erzählt Frau Wisniewski anfangs lapidar, aber dann kommen ihr auch heute immer noch die Tränen, und man ahnt, wie sehr sie das geprägt hat.

Die Mutter war 16 bei der Geburt, sie hatte sich mit einem Mann eingelassen, der 26 Jahre alt war und sich dann schnell aus dem Staub machte. Später lernte sie die Mutter kennen, sie war „bildhübsch, sie hatte dunkle Haare, pechschwarze Augen, nach der Vorfahrengeschichte könnte sie, wie es damals hieß, Viertel- oder Achteljüdin gewesen sein“. Aber 1926, dem Geburtsjahr von Ellen, spielte das noch keine relevante Rolle. „Aber 16 Jahre alt, ein uneheliches Kind von einem unbekannten Vater, ich verstehe, dass sie mich zu einer Pflegefamilie gegeben hat.“

Sieben Jahre später wurde den Nazis leichtfertig und furchtbar fatal die Macht übergeben. Ellen Wisniewski formuliert das so historisch korrekt, „weil ich mich noch heute aufrege, wenn von Machtübernahme gesprochen wird, gerade so, als habe der Hitler die Deutschen mit einem Putsch überrumpelt“. Nicht nur die Sozialdemokratie könnte eine so klarsichtige Frau gut gebrauchen.

Wenn Ellen Wisniewski erzählt, fängt sie bei der Wurzel an, fügt da noch eine Anekdote ein, da noch eine Episode.

Politik statt Familie

„Ich habe so 1000 kleine Schubfächer, und wenn ich eine aufmache, kommen alle Erinnerungen raus.“ Wie die vom Kennenlernen ihres Mannes, da war sie schon Bürgermeisterin in der DDR, in Caputh, 1967 ernannt, delegiert von der Partei, privilegiert, wie sie zugibt. Zum Urlaub quartierte sie sich im Gasthof in einem Buchenwald ein, wo die DDR-Bonzen gerade eine Jagd abhielten. Plötzlich kam der Sohn des Wirtes herein. Elf Jahre hat sie für ihn gekocht, nach der Hochzeit an Heiligabend 1964, „ich habe Fasan besorgt und Wildschwein“.

1975 ließ sie sich von dem zwölf Jahre jüngeren Mann scheiden, weil der sich in eine wiederum zwölf Jahre jüngere Frau verliebt hatte, „das war ja die Zeit, in der Oben-Ohne aufkam und Minirock und Jeans, und 24 Jahre holt man nicht auf“. Seitdem lebt Ellen Wisniewski, Kinder gibt es nicht, allein. Und dann keimt der Gedanke, dass die Politik an die Stelle von Familie gerückt ist. „Mitmachen, mitmischen, das war immer mein Thema, ich war immer eine rote Socke und war auch, doch ja, überzeugt von diesem Land.“

Ob sie ehrgeizig war oder ist? „Ich wollte mich schon durchsetzen“, sagt sie, „aber das hat ja alles nicht geklappt.“ Segelfliegerin wollte sie werden, aber dabei ist sie aus drei Metern Höhe abgestürzt, was ihr bis heute körperliche Lasten bereitet. Auslandskorrespondentin wollte sie werden, musste dann aber Kontoristin lernen, was man wohl heute mit Buchhalterin übersetzen kann. Ist streng religiös erzogen worden auch in der DDR, wollte im Kirchenchor singen, konnte aber nicht, weil sie bei den Kirchenliedern immer vor Rührung weinen musste. Im Kriegshilfsdienst arbeitete sie in Bromberg erst als Schaffnerin, dann als Bahnfahrerin und konnte nicht mehr weiterfahren, wenn es am Friedhof vorbei ging, auf dem die Mama und der Papa lagen, die ursprünglich aus der Gegend stammten. Erst der Papa, der die Kriegserlebnisse nie überwunden hatte, dann die Mama in hohem Alter, aber die Tränen kamen immer noch. „Bis mir ein Mann mit Goldzähnen gesagt hat, dass mich meine Trauer nur stärker machen würde.“

„Ich habe mich auf jeden Fall gefreut, als die Mauer fiel“

Und, hat sie? Ellen Wisniewski springt jetzt durch die Zeiten. Wie sie als junges Mädchen, noch in Kriegszeiten, einem jungen Holländer, der als Kriegsgefangener in einen Sägemaschine geriet und einen Arm verlor, das Leben gerettet hat, ebenso einem Franzosen, der in einen Kessel kochend heißen Wassers gefallen war und mit schwersten Verbrennungen davon kam. Dann wurde sie Lagerleiterin beim Reichsausbesserungswerk und musste dabei ein Fass von 100 Litern mit Reinigungsmitteln auf eine Rampe wuchten, um Waggons von unten abzuspritzen. „Die Männer haben vorher gelacht, was ich als Frau bei dieser Arbeit wolle, aber ich habe es geschafft. Ich habe immer versucht, zu beweisen, dass eine Frau ebenso Karriere machen kann wie ein Mann.“ Emanzipation, sagt sie weiter, „das Wort kannte man ja damals noch gar nicht, schon gar nicht in der SED.“

An dieser Stelle wird Frau Wisniewski etwas kleinlaut. „Tja, die SED, da bin ich ja als SPD-Mitglied automatisch hineingerutscht, soll ich heute sagen, dass mir das nicht gepasst habe? Ich sage es so, ich war halt dabei.“ Die Auswüchse, die Stasi, die Mauertoten, „ach, das haben wir auf dem Land doch nicht so mitbekommen. Wir haben uns um die Landwirtschaft gekümmert, das andere war weit weg.“

Ist das Ihr Ernst? „Ich mache Ihnen noch einen Kaffee“, sagt sie. Und als sie wiederkommt: „Ich habe mich auf jeden Fall gefreut, als die Mauer fiel.“ Sie erzählt dann gleich, wie sie sich angelegt habe mit einem SED-Kader, der nach der berühmten Rede vom damaligen Außenminister Genscher in Prag alle Ausreisewilligen als Asoziale beschimpft hatte. „Ja, bist du bekloppt“, habe sie den angebrüllt, „das sind alles Menschen, ich würde auch mitreisen.“ Da war sie schon Bürgermeisterin von Ferch, wieder delegiert von der Partei, obwohl sie doch lieber nach Seddin gegangen wäre.

In die große Politik wollte sie nie

Dann wurde sie nach Zauchwitz versetzt, in der Nachwendezeit als ehrenamtliche Bürgermeisterin. Aber Geld verdienen musste sie auch, also arbeitete sie als Toilettenfrau in einem Restaurant in Michendorf. „Im Dorf habe ich aber lieber erzählt, dass ich den Abwasch mache.“

In die große Politik habe sie nie gewollt. „Ich bin Kommunalpolitikerin, durch und durch, glauben Sie, dass meine Zauchwitzer irgendetwas berührt, was die Trumps dieser Welt verhandeln? Nur am Stammtisch beim Bier.“

Was in diesem Leben war speziell sozialdemokratisch? „Ich bin gut aufgewachsen, behütet, sehr religiös, aber nicht im kirchlichen Sinne, mehr im christlichen. Da steht man ein für die, denen das Leben nicht alles bereithält.“

„Nicht so wie die A…“, sagt sie und meint die AfD. „Was die wollen, habe ich schon einmal mitgemacht als Kind. Das will ich nicht mehr erleben, auch, wenn ich vielleicht nicht mehr lange lebe. Dieses Land muss demokratisch bleiben, am besten sozialdemokratisch“, sagt Ellen Wisniewski. Wenn sie demnächst wieder mit so einem großen Stimmenanteil gewählt werde wie beim letzten Mal, dann „wollen das die Zauchwitzer auch“. Die nächste Kommunalwahl ist am 26. Mai.

Ellen Wisniewski geht bei der Verabschiedung noch einmal in die Küche, holt sich ein Glas Milch, hat die Milch in ein Martini-Glas geschüttet, schweigt dann. Es ist, als lasse sie alles noch mal an sich vorüberziehen. Dann schaut sie auf und lächelt: „Doch, doch, ich hatte eine gute Zeit. Aber die ist noch nicht vorbei. Ich kann doch nicht aufhören.“

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