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Morgens auf dem Krankenhausflur: Christin Budzinski wartet auf ihre Operation.

© Mike Wolff

Ohr: Wenn das Fell zu dünn wird

Das Trommelfell überträgt Schallwellen. Ist die dünne Membran dauerhaft beschädigt, führt dies zu einem schleichenden Gehörverlust. In einer Operation können Ärzte das Trommelfell wiederherstellen.

Christin Budzinski ist nervös. Unruhig rutscht die 34-Jährige auf der mit braunem Kunstleder bezogenen Bank im Klinikflur hin und her. Es ist ein Freitagmorgen im Januar, kurz vor acht Uhr. Vor etwas mehr als einer Stunde ist Christin Budzinski ins Vivantes Klinikum im Friedrichshain gekommen. 4. Stock, Station 6, Hals-Nasen-Ohren-Abteilung. Am Montag wird sie das Krankenhaus wieder verlassen, mit einem neuen Trommelfell. Aber vorher muss sie erst einmal drei Stockwerke nach unten - in den OP.

»Ich hatte schon als Kind Probleme mit den Ohren«, sagt Christin Budzinski. Sie litt häufig unter Mittelohrentzündungen, hörte schlecht. »Irgendwann wurde es zum Glück besser«, sagt sie und streicht ihr schulterlanges dunkelblondes Haar hinters linke Ohr.

Es ist das Ohr, das ihr jetzt wieder Probleme macht, mit dem sie nur noch zu weniger als 50 Prozent hören kann, mit dem sie kein Flüstern mehr versteht. Denn das Trommelfell in diesem Ohr ist fast vollständig zerstört, existiert nur noch zu einem Viertel. Deshalb soll es jetzt in einer Operation, der sogenannten Tympanoplastik, rekonstruiert werden.

Das Trommelfell ist eine milchig-durchsichtige Membran, die sich über das hintere Ende des Gehörgangs spannt und ihn so gegen das Mittelohr abgrenzt. Es hat einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter und ist nur 0,1 Millimeter dick. »Das Trommelfell schützt davor, dass Fremdkörper wie etwa Wasser oder Bakterien von außen tiefer ins Ohr eindringen können«, sagt Parwis Mir-Salim, Chefarzt der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde im Vivantes Klinikum am Friedrichshain. 

Aber auch für das Hören sei das Trommelfell von großer Bedeutung. Denn die elastische Membran fängt die von außen kommenden Schallwellen ab, gerät durch sie in Schwingung und gibt die akustischen Signale so an seiner Innenseite an die Gehörknöchelchen des Mittelohrs weiter. Diese Dreierkette aus Hammer, Amboss und Steigbügel verstärkt den Schall und überträgt ihn in Form von Impulsen weiter zum Innenohr. Ist das Trommelfell dauerhaft verletzt, kann sich im Ohr eine chronische Entzündung entwickeln, die auch die Gehörknöchelchen angreift und so zu einem erheblichen Gehörverlust führt - wie bei Christin Budzinski.

Die häufigste Ursache von Trommelfell-Defekten sind Mittelohrentzündungen, bei denen Eiter die dünne Membran durchbricht. Sie operativ wieder zu verschließen, ist aber nicht immer notwendig. »Häufig verheilt das Trommelfell von alleine«, sagt Mir-Salim, der sich auf die Ohr-Chirurgie spezialisiert hat.

Bei Christin Budzinski verheilte es jedoch nicht. Etwa zwei Jahre schleppt sie ihren Trommelfell-Defekt nun schon mit sich herum. »Ich habe mir damals gerade die Ohren mit einem Wattestäbchen gereinigt, als mein Sohn plötzlich schrie«, sagt die alleinerziehende Mutter eines Sechsjährigen. »Ich habe mich erschrocken - und dabei das Stäbchen ins linke Ohr gerammt.« Ein Schmerz durchzuckte sie, Blut lief aus dem Gehörgang. Zum Arzt ging Budzinski trotzdem nicht. Auch nicht, als sich das Ohr immer wieder entzündete. »Ich habe als Kind einfach zu viele schlechte Erfahrungen mit Ohrenärzten gemacht«, sagt sie. »Das passiert leider häufig«, sagt Chefarzt Mir-Salim. Viele erwachsene Patienten, die im Kindesalter am Ohr operiert wurden, hätten Angst vor einer Behandlung. »Sie kommen deshalb erst, wenn das entzündete Ohr sehr unangenehm riecht, wenn ständig Eiter heraussuppt oder das Gehör schon stark geschädigt ist.« Dabei sei diese Furcht mittlerweile in den allermeisten Fällen unbegründet. »Die Ohrenheilkunde hat sich in den vergangenen Jahren stark weiterentwickelt, Eingriffe sind heute viel schonender und weniger schmerzhaft.«

Christin Budzinski ist trotzdem aufgeregt. Eigentlich hätte die Managerin von Immobilien-Fonds bereits im vergangenen Mai operiert werden sollen. Doch einmal musste sie den Termin aus beruflichen Gründen verschieben, ein zweites Mal, weil sie kurz vorher erkrankte. Nun soll es endlich so weit sein. »Natürlich bin ich froh, dass das jetzt gemacht wird«, sagt sie. Sie freue sich, wenn ihr Gehör nach dem Eingriff wieder besser sei, auch wenn es sich nicht vollständig erhole. »Aber ich habe trotzdem Angst, dass bei der OP etwas schiefgeht«, sagt sie und zwirbelt auf der braunen Bank im Klinikflur die Enden ihres wie Leopardenfell gemusterten Halstuchs zwischen den Fingern.

Großer Eingriff an einem kleinen Sinnesorgan: Chefarzt Mir-Salim schaut bei der OP durch ein Mikroskop, das Bild wird auch auf einen Monitor übertragen.
Großer Eingriff an einem kleinen Sinnesorgan: Chefarzt Mir-Salim schaut bei der OP durch ein Mikroskop, das Bild wird auch auf einen Monitor übertragen.

© Mike Wolff

Komplikationen seien zwar durchaus möglich, sagt Parwis Mir-Salim etwa eine Stunde später und drei Stockwerke tiefer. So verliefen beispielsweise der Gesichts- und der Geschmacksnerv frei durch das Mittelohr und könnten bei der OP verletzt werden. Auch das Gehör an sich könne geschädigt werden, ebenso wie das Gleichgewichtsorgan. »Tatsächlich passiert das aber nur sehr selten, höchstens in einem Prozent der Fälle, bleibende Schäden sind deutlich seltener.«

Der HNO-Chefarzt sitzt auf einem Hocker im OP-Saal, vor ihm liegt Christin Budzinski auf dem Operationstisch. Ihr Körper ist vollständig von sterilen grünen Tüchern bedeckt, nur das linke Ohr liegt frei. Über ihr hängt an einem Schwenkarm ein großes, in Plastikfolie gehülltes binokulares Mikroskop, durch das Mir-Salim das Ohr nicht nur vergrößert, sondern auch dreidimensional sehen kann. Gleichzeitig wird das Bild auf einen Monitor übertragen, der am Kopfende des Operationstisches steht.

Trommelfell-Operationen wie die Tympanoplastik führen Ärzte minimal-invasiv durch, sie arbeiten mit kleinen Schnitten und winzigen, langstieligen Instrumenten.

Mit so einem Endoskop nähert sich Mir-Salim nun dem Trommelfell in Christin Budzinskis Ohr. Oder vielmehr dem, was davon übrig ist: Nur noch wenige Stücke der Membran hängen an den Wänden des Gehörgangs, in der Mitte klafft ein Loch. Die Reste des Trommelfells sind zudem von weißlichen Ablagerungen durchzogen: Kalk hat sich im Zuge der Entzündung darin angesammelt und die Membran verhärtet. Mir-Salim schaut mit dem Endoskop noch einmal durch das Trommelfell zum Mittelohr, dessen Gewebe hell und nicht entzündet ist, dann arbeitet er mit dem Mikroskop weiter.

Um im engen Gehörgang besser arbeiten zu können, schneidet Mir-Salim erst dessen Haut mit einem Rundmesser auf und entfernt dann mit einem scharfen, löffelartigen Instrument einen kleinen Teil des Knochens. So ist die Sicht besser auf das Trommelfell und die Gehörknöchelchen dahinter. Diese sind genau wie die Membran stark von der Entzündung beschädigt, insbesondere der Amboss. Deshalb entfernt ihn Mir-Salim und setzt an seine Stelle eine Titan-Prothese zwischen Hammer und Steigbügel.

Für die Trommelfell-Plastik schneidet der Chirurg ein kleines Stück Knorpel aus der inneren Ohrmuschel und zerteilt es in mehrere, noch kleinere Stückchen. »Das Knorpelgewebe ist sehr elastisch und gleichzeitig sehr stabil«, sagt Mir-Salim. Daher sei es ein idealer Ersatz für das kaputte Trommelfell - auch wenn es sehr viel dicker sei. Der Arzt löst die Haut von den Knorpelstückchen und legt zwei von ihnen über die Gehörknöchelchen samt Amboss-Prothese. Das Ganze bedeckt er mit der Knorpelhaut, die anwächst und das Kontrukt so schützt. Das Loch am Ende des äußeren Gehörganges, das dort klaffte, wo das Trommelfell zerstört war, ist verschlossen.

Nach etwa 30 Minuten ist der Eingriff vorbei. Mir-Salim hat den Gehörgang mit einem Wattetupfer bedeckt und das Ohr in einen Verband gewickelt. Zwei Tage muss Christin Budzinski noch im Krankenhaus bleiben, zur Kontrolle. Dann ist Montag. Dann kann sie wieder nach Hause. Und sie wird dann auch geflüsterten Gesprächen wieder folgen können. Ob das ein Glück oder Unglück ist, wird sie entscheiden müssen.

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