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Österreichs Kanzler Sebastian Kurz spricht in Wien zur Presse.

© REUTERS/Heinz-Peter Bader

Österreichs Kanzler: Wofür steht Sebastian Kurz?

Sebastian Kurz will Österreich umbauen und Europa gleich mit. Vor seinem Auftritt in Erfurt gibt es Proteste - und auch in Österreich wächst der Widerstand

Vor Beginn der Wanderung nähern sich drei Frauen im Dirndl. Sie wollen dem Kanzler ein Geschenk überreichen. Obwohl sie scheinbar ein perfektes Fotomotiv abgeben, wimmelt Sebastian Kurz sie ab. Sein Instinkt scheint ihm zu verraten: Hier stimmt etwas nicht.

An diesem Sonntagvormittag im Juli hat Österreichs Bundeskanzler zum Wandertag geladen. Mehr als 1000 Menschen sind gekommen, ÖVP-Lokalpolitiker, Unterstützer, Fans, Neugierige. Keine zweihundert Meter hat Kurz es zackigen Schrittes bergan geschafft, da bricht Hektik aus, Fotografen und Kameraleute stolpern rückwärts den Hang hinauf.

Die drei Frauen im Dirndl sind plötzlich wieder neben Sebastian Kurz aufgetaucht, heben, alle Objektive auf sie gerichtet, ihre Schürzen. Eine durchgestrichene 12 kommt zum Vorschein, ein Protest gegen den 12-Stunden-Tag, die umstrittene Ausweitung der Maximalarbeitszeit, die Österreichs Regierung im Juli durchs Parlament gepeitscht hat. Kurz’ Sicherheitsleute schieben die Aktivistinnen beiseite, aber ihre Mission ist erfüllt: Die Inszenierung hat einen Fleck bekommen.

Für Kurz ist es der zweite von drei PR-Terminen am Schneeberg, dem höchsten Berg der Wiener Alpen, eine Autostunde von der Hauptstadt entfernt. Sonne, Selfies, Small Talk und schöne Bilder – so war es geplant. Der Zwischenfall ist ein Vorgeschmack darauf, was den Bundeskanzler erwartet, wenn die Sommerpause in Österreichs Politik Anfang September endet. Sein Blitzaufstieg zum jüngsten Regierungschef Europas und profiliertesten Gegenspieler Angela Merkels hat die Erwartungen an ihn auf Alpenhöhe geschraubt, nach dem Sturm auf dem Gipfel drohen ihm nun die Mühen der Ebene.

Totalumbau der Republik

Auch, weil der 31-Jährige viel versprochen hat. „Ein Europa, das schützt“, zum Beispiel, das offizielle Motto für die österreichische Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte. Was für Kurz vor allem heißt: Außengrenzen dicht, weg von Angela Merkels Quotenregelung, hin zu Asylzentren außerhalb der EU.

Er beteuert zwar, für ein starkes Europa Brücken bauen zu wollen. Nach dem Brexit würde er allerdings gern den EU-Beitrag seines Landes schrumpfen. In der Migrationsfrage setzt er auf ein Bündnis mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, Italiens Vize und Innenminister Matteo Salvini und Horst Seehofer. Was wahr ist, wird sich wohl spätestens am 20. September zeigen, wenn Kurz zum informellen EU-Gipfel nach Salzburg lädt, Thema: Migration und Sicherheit.

Am heutigen Donnerstag reist Kurz nach Deutschland, auf Einladung der thüringischen CDU-Fraktion wird er auf deren Jahresempfang einen Festvortrag vor 3000 Gästen halten. Im Vorfeld haben unter anderem die Jugendverbände von Grünen, SPD und Linken zu Protestaktionen aufgerufen. Im gemeinsamen Rundbrief wird die CDU als „stramm rechte Partei“ bezeichnet, Kurz als „Baby-Hitler“, der eine „menschenfeindliche, rassistische Politik“ betreibe. Die CDU-Fraktion nannte das „eine unglaubliche sprachliche Entgleisung“ und forderte die Landesvorsitzenden der drei Regierungsparteien auf, sich zu entschuldigen. Die AfD erstattete Strafanzeige.

Den Österreichern hat Kurz nicht weniger als einen Totalumbau ihrer Republik angekündigt. Reformprojekte, an die sich seit Jahrzehnten keine Regierung gewagt hat. Dafür muss er einige Grundfesten der politischen Landschaft schleifen. Und mit erbittertem Widerstand rechnen. Selbst aus den eigenen Reihen.

Bergauf, Österreich

Am Schneeberg aber ist, von dem lästigen Dirndl-Protest abgesehen, an diesem Tag Kurz-Land, man erkennt es am Türkis, das in Österreich für den Kanzler steht wie Lila für Milka. Wer sich am Morgen der Talstation nähert, erblickt es überall, auf den T-Shirts der Helferinnen mit dem Aufdruck „Bergauf, Österreich“, dem Motto der PR-Tour, auf dem aufblasbaren Starttor auf dem Hang und auf Basecaps.

Während die Menschen auf Kurz warten, fädeln sich einige türkisfarbene Gratis-Schnürsenkel in die Schuhe, auf der Videoleinwand läuft ein Filmchen, eine Art Best-Of aus einem Jahr „Bewegung“, wie Kurz sich und seinen Unterstützerkreis nach dem Handbuch des modernen Politmarketings nennt.

„Wir haben uns damals entschlossen, die ÖVP zu öffnen“, sagt Kurz in dem Clip, ein Euphemismus für das, was in den Maitagen 2017 wirklich passiert ist: eine Unterwerfung. Und eine meisterhafte Inszenierung. Die konservative ÖVP steckt damals im Umfragetief, Parteichef Reinhold Mitterlehner schmeißt entnervt hin, nicht ohne Kurz die Rolle des Königsmörders zuzuschieben.

Der designierte Nachfolger tut in Fernsehinterviews überrascht, ist aber gut vorbereitet, wie geheime Strategiepapiere aus dem Jahr 2016 beweisen, die später auftauchen: Unter dem Titel „Projekt Bundesparteiobmann“ hat Kurz mit seinem Team den Machtwechsel genau geplant. Der junge Hoffnungsträger stellt Bedingungen, er will als quasi unabhängige „Liste Kurz – Die neue Volkspartei“ bei Wahlen antreten, mit vollem Durchgriffsrecht auf das Personal in den Ländern. Eine Unverfrorenheit.

Aber die Parteigranden händigen ihm die Schlüssel aus. Der beliebte Kurz, damals Außenminister, ist ihre einzige Chance, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Der neue Chef tauscht die schwarzen Türschilder in der Zentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse gegen türkisfarbene aus, besetzt die wichtigsten Posten mit seinen Getreuen und geht mit einer Win-Win-Situation in den Wahlkampf: Ohne den schwarzen Muff, der die Partei aus den Jahren der verhassten Großen Koalition umweht, aber mit einem starken Apparat hinter sich. Ein gewichtiger Faktor für den Wahlsieg im Dezember.

Ruf als Schnösel

Zum Wandertag erscheint Kurz in einem kurzärmligen Shirt, dazu trägt er eine lange schwarze Trekkinghose, zur Enttäuschung von Parteifreundin Johanna Mikl-Leitner. Die Landeshauptfrau von Niederösterreich ist an diesem Tag so etwas wie die Hausherrin und hätte den Kanzler gern in der Krachledernen gesehen: „So schiach san di Wadln net.“ Die 54-Jährige wurde in der alten ÖVP sozialisiert, als Ziehtochter von Erwin Pröll, dem Prototypen des allmächtigen Landesvaters, den es nicht kümmert, wer in Wien unter ihm Kanzler ist.

Ohne die Landeshauptleute, das ist in Österreich ungeschriebenes Gesetz, geht nichts. Vor allem nicht das, was Kurz vorhat: Eine Föderalismusreform mit mehr Kompetenzen für den Bund. Besonders die ÖVP-Landeshauptleute der „Westachse“ Tirol - Salzburg - Vorarlberg murren laut über den Angriff auf ihre Autonomie. Querschüsse, für die Kurz eine seiner berüchtigten Phrasen parat hat: „Die Wähler haben uns einen Auftrag gegeben, und wir werden das erfüllen, was wir versprochen haben.“

Wanderpartnerin Johanna Mikl-Leitner gilt als Förderin des Kanzlers, seit sie 2011 als Innenministerin diesen 24-Jährigen Emporkömmling unter ihre Fittiche nahm, der plötzlich Staatssekretär wurde, zum Erstaunen der Republik.

Wer Kurz damals überhaupt kannte, hielt ihn wahrscheinlich für einen Schnösel, von dem ein Kommentator vermutete, er sei „mit goldenem Löffel im Mund“ geboren worden. Im Wiener Wahlkampf 2010 lehnt er mit zurückgegelten Haaren auf einem schwarzen „Hummer“-Geländewagen – dem sogenannten „Geilomobil“ –, und schwafelt von der „geilen Politik der ÖVP“.

Dabei wurde Kurz 1986 in eine kleinbürgerliche Familie in Wien-Meidling geboren, der Vater Ingenieur, die Mutter Lehrerin, eine Jugend ohne Rebellion. Seit seinen Tagen als Außenminister fliegt er grundsätzlich Economy-Class, um keine Steuergelder zu verschwenden, wie er sagt. Nach seinem Debüt beim glamourösen Wiener Opernball gönnt er sich einen Absacker am Würschtlstand, ganz volksnah. Inklusive eines schönen Fotos für Instagram.

Vom Integrations-Optimisten zum Baumeister der Festung Europa

Sebastian Kurz bei einer Wanderung anlässlich der Sommertour "Bergauf, Österreich!"
Sebastian Kurz bei einer Wanderung anlässlich der Sommertour "Bergauf, Österreich!"

© picture alliance/dpa/Erwin Scheriau

Für seine Anhänger ist er nur „der Basti“. Und weil die Leute ihr Selfie sofort wollen, nicht erst oben, wie es Kurz’ Team vorgesehen hatte, nähert sich der Tross dem Ziel in 1200 Meter Höhe nicht so schnell wie geplant. Die Menschen wollen ihre Meinung sagen, zum Brexit, schlecht bezahlten Lehrern, der Lage in der Pflege. Ein Mitarbeiter notiert Nöte und Vorschläge, Kurz sagt höflich „Danke“ und verabschiedet sich mit Handschlag. Zuhören, das ist seine große Stärke, er soll ein fantastisches Gedächtnis haben für die Gesichter der Menschen und ihre Geschichten.

Von sich selbst, seinem Privatleben, gibt er kaum etwas preis. Seine Partnerin Susanne Thier ist heute wie so oft nicht mit dabei, nur zu den großen Anlässen begleitet sie den Kanzler, zuletzt bei den Festspielen in Salzburg. Zwei Journalistinnen der Wiener Stadtzeitung „Falter“ haben vor einigen Monaten eine Biografie über Kurz geschrieben, eine nicht von ihm autorisierte.

Sie endet mit einem bemerkenswerten Fazit: „Selbst nach langer, intensiver Beschäftigung mit dem Phänomen Kurz bleibt verschwommen, wo die Kunstfigur Kurz endet und wo der Mensch Kurz beginnt.“ Wofür Kurz politisch wirklich steht, ist unklar. Auf die Frage nach seiner politischen Heimat antwortet er gern mit „christlich, sozial und liberal“.

Politische Vorbilder habe er keine. Ein Leitmotiv, das gibt es: Leistung. Ein zentraler Begriff, seit er 2011 als Staatssekretär für Integration die Losung „Integration durch Leistung“ ausgab. „Ich will den Scheinwerfer nicht nur auf die negativen, sondern auch auf die positiven Beispiele für Integration richten“, sagte er damals in einem Interview.

Selbst Politiker der Grünen lobten Kurz für seine engagierte Arbeit. Er gewann TV-Moderatorin Arabella Kiesbauer als Schulbotschafterin, gab Geld frei für Deutsch-Nachhilfe in Lerncafés. Es scheint, als sei das ein ganz anderer Sebastian Kurz gewesen. Heute kürzt seine Regierung diesen Leuchtturmprojekten die Mittel.

Politischer Rechtsruck

Der Zeitpunkt, als aus dem Integrations-Optimisten Kurz ein eifriger Baumeister der Festung Europa wird, lässt sich ziemlich genau bestimmen: Im Flüchtlingssommer 2015, als sich der Treck über den Balkan Richtung Westeuropa aufmacht. Hunderttausende reisen über Österreich nach Deutschland, die meisten mit dem Zug über den Wiener Westbahnhof, wo ranghohe Politiker sich unter Geflüchtete und Helfer mischen.

Innenministerin Mikl-Leitner, als Hardlinerin verschrien, bekennt, dass ihr Herz „bebt bei solchen Bildern“. Kurz, mittlerweile Außenminister, entscheidet sich für eine 180-Grad-Wende und setzt sich für die Schließung der Balkanroute ein. Seine Kritiker meinen: aus eiskalter Berechnung, weil er wusste, dass sein ganz persönlicher Rechtsruck ihn näher ans Kanzleramt bringen würde.

Er tut, was ihm nutzt – ein Vorwurf, den die Figur Kurz geradezu herausfordert, dieser Traum der politischen Marktforschung: jung, dynamisch, zielorientiert, ideologisch flexibel. Das Hipster-Portal „Vice“ machte sich im Wahlkampf 2017 einen Spaß daraus, Tweets des „alten“ Sebastian Kurz neben die des „neuen“ Sebastian Kurz zu montieren. Das Ergebnis liest sich wie ein engagiertes Streitgespräch, nicht nur zum Thema Flüchtlinge, sondern auch zu Rechtspopulismus und Europa.

„Die FPÖ ist eine Partei, die destruktiv ist, grundsätzlich wenig von der Europäischen Union hält und somit auch nicht auf europäische Lösungen setzt“, sagte er 2016 im „Standard“. Keine zwei Jahre später bildete er mit dieser FPÖ eine Regierung und steht unter dringendem Verdacht, von europäischen Lösungen selbst nicht viel zu halten.

Die linke Opposition in Österreich sieht Kurz als einen Kanzler der Bosse, einen neoliberalen Kahlschläger des Sozialstaats. Die Mindestsicherung für Langzeitsarbeitslose wurde schon gekürzt, besonders für Ausländer, aber auch für kinderreiche Österreicher. Die Steuererleichterungen wandern vor allem in die Taschen von Wohlhabenden, und mit dem 12-Stunden-Tag machte die Koalition die Industriellenvereinigung glücklich. „Die Regierung ist im Machtrausch“, wetterte der Tiroler Arbeiterkammer-Präsident Walter Zangerl – ein ÖVP-Parteifreund.

Der schweigsame Kanzler

Fast zwei Stunden nach dem Start der Wanderung am Fuß des Schneebergs hat Sebastian Kurz das Ziel erreicht, den Fadensattel. Am Almreserlhaus stärken sich die Anhänger auf der vollbesetzten Terrasse bei Bier und belegten Broten. Kurz gönnt sich die einzigen paar Minuten Ruhe an diesem Tag, gegenüber in der Edelweißhütte, im holzvertäfelten Esszimmer. Gemeinsam mit Mikl-Leitner liest er am Smartphone die Meldungen über den „Dirndl-Protest beim Kurz-Wandertag“.

Kurz gilt als Kontrollfreak. Im Kanzleramt richtete er eine Stabsstelle Kommunikation ein. Angeblich geht kein Interview eines Kabinettsmitglieds raus, ohne dass Kurz’ Sprecher und Intimus Gerald Fleischmann es abgesegnet hat. Einmal ausgegebene Formulierungen werden sowohl von ÖVPlern als auch FPÖlern peinlich genau eingehalten, teils bis auf die Silbe.

Kurz selbst hält sich mit öffentlichen Statements zurück, die Opposition nennt ihn abfällig den „Schweigekanzler“. Früher, erklärt ein enger Vertrauter die Strategie, hätten Kanzler oft den Fehler gemacht, sich als Kommentatoren des politischen Geschehens in Österreich zu verdingen. Kurz rede nur über seine Ebene, also über die Bundespolitik.

In der Edelweißhütte zieht es Johanna Mikl-Leitner wieder nach draußen, noch eine letzte Runde Selfies machen, bevor es mit dem Lift ins Tal geht. Sebastian Kurz bleibt sitzen, nimmt sich noch ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch. Eben noch in sich gebückt auf der Holzbank, richtet er sich auf, die Hände in seiner typischen Ausgangshaltung: Wo Angela Merkel die Raute formt, legt Kurz auf Bauchhöhe die flachen Hände übereinander.

Die Mühen der Ebene also, sagt er und verzieht das Gesicht. Eine neue Phase in seiner Kanzlerschaft? „Ich verstehe ja, dass man nach Thesen sucht. Aber aus meiner Sicht haben wir eine Regierung gebildet und arbeiten jetzt unser Programm Schritt für Schritt ab.“ Wieder so eine Floskel – aber eine, die zutrifft. Tatsächlich legen Kurz und sein Kabinett eine Zielstrebigkeit an den Tag, die das politische Österreich aus den Jahren der Großen Koalition nicht mehr gewohnt ist. Jede Woche steht unter einem bestimmten Thema, die Regierung diktiert die Agenda und die Schlagzeilen. Mit Erfolg. In den Umfragen liegen Kurz und die ÖVP weiter unangefochten vorn, der Bundeskanzler ist der mit Abstand beliebteste Politiker im Land.

Und die Proteste, die Kritik aus der eigenen Partei? „Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass immer so getan wird, als komme jetzt zum ersten Mal Widerstand. Das war in meiner politischen Karriere immer so“, sagt Kurz und schaltet wieder in den Automatikmodus. „Wir haben von den Wählern einen Auftrag, und den wollen wir erfüllen.“

Christian Bartlau

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