zum Hauptinhalt
Buschkowskys Erbin. Franziska Giffey, 37, auf dem Neuköllner Rathausturm mit Blick auf die Karl-Marx-Straße. Seit April 2015 ist die SPD-Politikerin hier Bezirksbürgermeisterin.

© Thilo Rückeis

Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey: Die Integrationswillige

Was, wenn Neukölln nicht bloß Problembezirk ist, sondern Testgelände für den Rest der Republik? Bürgermeisterin Franziska Giffey spricht von Parallelgesellschaften, arabischen Intensivtätern – und überrascht mit Zuversicht.

Als die Teller leer sind und aus Frau Dr. Giffey längst wieder Franziska geworden ist, tritt sie ans Kopfende der Tafel und schwört ihre Zuhörer auf eine Zeitenwende ein. Auf Stolz und Zuversicht und eine Zukunft, in der aus einem Desaster ein Vorteil zu werden beginnt. Ein Erfahrungsschatz, gehoben auf einer Art Testgelände der Republik.

Franziska Giffey ist seit vergangenem April die Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, sie spricht über ihren Bezirk. Sie spricht wie immer nüchtern und berlinert wie oft. Wie ein bodenständig gebliebener Wissenschaftler, der einem Naturgesetz auf die Spur gekommen ist, dem die Menschheit nun mal nicht entkommen kann. Giffey kann Katastrophen referieren, ohne Betroffenheitsvokabeln zu gebrauchen. Sie kann über den Fortschritt reden, ohne zu jubeln. Vom Bier auf dem Tisch hat sie an diesem Abend keinen Schluck angerührt.

„Wir haben an allen Nord-Neuköllner Schulen 80, 90 Prozent Kinder, die aus armen Familien kommen“, sagt Giffey. „Wir haben in Neukölln in den letzten Jahren tausende Roma-Familien integriert. Wir haben 54 Willkommensklassen, und die Volkshochschule hat 2015 über 600 Deutschkurse angeboten. Wir haben 30 000 Menschen arabischen Ursprungs im Bezirk, das ist jeder fünfte in ganz Berlin. Die Entwicklung fällt also nicht auf ein weißes Blatt.“

Die Entwicklung, das ist natürlich die Flüchtlingskrise. Die Zahlen, die sich wie eine Mischung aus Kapitulationserklärung und Mobilisierung noch der letzten Ressource dagegen anhören, sollen nach angehäufter Erfahrung im Umgang mit Einwanderern klingen. Weiße Blätter sind demzufolge all jene Orte hinter den Neuköllner Bezirksgrenzen, die diese Erfahrungen nicht haben.

Die Neuköllner SPD trifft sich an diesem Abend im Café Selig, zu Füßen einer Kirche im Norden Neuköllns. Giffey ist auf Tour durch den Bezirk. 60, 70 Kilometer mache sie am Tag, sagt ihr Fahrer. Sie besucht Feste und Schulkonzerte, Einwohnerversammlungen und Fernsehstudios. Sie lässt sich blicken. Vor dem Essen mit der örtlichen SPD war sie bei einem Jubiläumsfest des Kulturnetzwerks Neukölln. Dort stand sie, angekündigt als die Frau Dr., auf einer Bühne, um die segensreiche Arbeit des Netzwerks zu würdigen und zu gratulieren, und sagte dann: „Das waren Zeiten, als der ‚Spiegel‘-Artikel kam.“

Der Bezirk und der Brandbrief

Der „Spiegel“-Artikel. Er hieß „Endstation Neukölln“ und erschien im Oktober 1997. Giffey war 19 damals und hatte in Fürstenwalde gerade Abitur gemacht. Heute ist sie 37, sie kann den Anfang trotzdem fast fehlerfrei aufsagen. „In der Neuköllnischen Allee peitschen mehrere Schüsse über die belebte Straße. Wer kann, geht in Deckung.“ Der Artikel habe ein „großes Echo“ gehabt damals, sagt sie. Er hat die Zustände im Bezirk, die eben auch viel mit der Einwanderungspolitik bundesrepublikanischer Prägung zu tun haben, einem größeren Publikum bekannt gemacht.

Neukölln bekam einen Ruf. Dieser wurde neun Jahre später durch einen öffentlich gewordenen Hilfeschrei von Lehrern der Rütli-Schule gefestigt, der seitdem nur „der Brandbrief“ heißt. Die Lehrer klagten über Schüler-Gewalt, die sie nicht mehr in den Griff bekämen. Die Schule erhielt Polizeischutz. Neukölln galt fortan als abschreckendes Beispiel dafür, wozu man es besser nicht kommen lassen sollte.

Und dann sagt einer, der beim Jubiläumsfest des Kulturnetzwerks auch auf die Bühne kommt, dass in einigen Teilen des Bezirkes mittlerweile eine „neue Stadtgesellschaft“ entstanden sei, zu der jetzt auch noch die „von Flucht betroffenen“ dazukämen, die es zu integrieren gelte. „Neukölln hat das Zeug dazu, Modell zu sein dafür.“

Aus dem Vorteil soll ein Vorbild werden, ein Vorbild für all die weißen Blätter in Deutschland. Ein Labor oder eine Universität des Lebens, bei der andere um Rat fragen, anstatt sie zu bedauern oder zu belächeln wie bisher. Es ist, je länger man Giffey, vor allem aber ihren Kollegen und Gastgebern zuhört, die Beschwörung der Stunde. Sie ist zu hören in den Schulen und im Behinderten-Ausbildungsbetrieb, von den Kulturleuten und den Mitgliedern des SPD-Kreisverbands.

Sie klingt auch mit, als Franziska Giffey Donnerstagabend in der Haupthalle des ehemaligen Flughafens Tempelhof spricht. Mehr als 1000 Menschen sind zur Bürgerversammlung gekommen, die meisten sind ungehalten über den Plan, hier künftig bis zu 7000 Flüchtlinge unterzubringen und dafür in Kürze das Tempelhofgesetz zu ändern. Die Senatsvertreter auf dem Podium werden ausgebuht, und Giffey, obwohl sie selbst gar nicht vorn, sondern im Publikum sitzt, will sich ebenfalls den Bürgern stellen. Sie bittet um ein Mikrofon – und dann die aufgebrachte Menge um Geduld. Tempelhof sei notwendig, sagt sie. Die Integrationsaufgabe ambitioniert, aber leistbar. Viele Kinder aus den Hangars gingen bereits jetzt in Neuköllner Schulen, die Integration sei im Gange. Über alle Zwischenrufe spricht sie unbeirrt hinweg.

Neuköllner Modell

So viel Zuversicht. Und das, wo Giffey selbst doch immer wieder von 28 000 funktionalen Analphabeten spricht, die heute hier leben? Von den 40 Prozent der Kinder, die bei ihrer Einschulung Sprachstörungen haben, den 60 Prozent, bei denen man in der ersten Klasse eine Entwicklungsverzögerung feststellt. Von mehr als zwei Dritteln Nichtschwimmern im Norden des Bezirks, trotz Schwimmunterricht, „weil vorher keiner mit ihnen schwimmen gegangen ist“. Kinder, die mangelnde „motorische Fähigkeiten“ haben, eine schlechte „Auge-Hand-Koordination“, nicht rückwärts laufen, keine Schere bedienen und keine Schuhe zubinden können. „Schlimmster Fall“, sagt Giffey: „In Berlin geboren und aufgewachsen, fünf Jahre alt, Verständigung nicht möglich.“

Das sei die Situation, sagt sie. Und dies sei der einzige Weg hinaus aus ihr: Kitas und Schulen müssten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, „permanent kompensieren, was zu Hause nicht geleistet wird“. Deshalb gibt es seit einem Jahr zum Beispiel das „Wassergewöhnungsprojekt Neuköllner Schwimmbär“. Es ist zum Heulen.

Doch Giffey, die Nüchterne, heult ja nicht. Sie benennt für jedes Problem die naheliegendste Lösung. Wenn einem Kind von seinen Eltern kein Deutsch beigebracht wird oder wie es einen Stift hält, muss es eben der Staat tun. Wer sonst? Wahrscheinlich wäre Giffey auch unter den ersten, die Kurse für den Umgang mit Schnürsenkeln einrichten lassen würden. Doch die Möglichkeiten der Bürgermeisterin eines Bezirks, der drei Viertel seines Haushalts für Sozialleistungen ausgeben muss, sind beschränkt.

Wenn bisher im Zusammenhang mit Neukölln von einem Modell die Rede war, vom „Neuköllner Modell“, dann war damit der Umgang mit Kriminellen gemeint. Das Neue daran bestand darin, junge Gewohnheitsverbrecher rasch zu bestrafen. Was einfach und einleuchtend klang, musste die Jugendrichterin Kirsten Heisig mühsam und gegen große Widerstände durchsetzen. Giffey sagt heute: „75 Prozent der Intensivtäter haben arabischen Hintergrund, es gab Zeiten, in denen man das eigentlich nicht laut sagen durfte.“ Mit diesem Satz beschreibt sie das eigentlich Modellhafte an Neukölln. Bevor ein Missstand beseitigt werden kann, muss er erst einmal zur Kenntnis genommen werden. So war es bei der Innovation der Jugendrichterin Heisig. So war es auch bei der Rütli-Schule, aus der mit viel Geld und Mühe ein Vorzeigehaus wurde.

Giffey ist geübt darin, öffentlich das Wort „Parallelgesellschaften“ zu sagen. Sie sagt es zusammen mit den Sätzen: „Es gibt sie. Das ist Fakt.“ Es ist ihr nicht anzusehen, dass sie dafür Mut oder Überwindung brauchen würde. Giffey ist damit nicht weit weg von ihrem Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky. Er hat es in seiner Amtszeit zu bundesweiter Prominenz gebracht. Spätestens ab dem Moment, in dem er sich von den oberen Etagen seiner Partei nicht mehr ernstgenommen, sondern alleingelassen fühlte, wurde er zu einer Art Lautsprecher.

Buschkowsky wurde wahrgenommen als Mann der Praxis, der wie Giffey all die Dinge kannte, über die viele andere Politiker nur eine Meinung hatten. Er hatte diese Dinge direkt vor der Nase. Beispielsweise forderte er früh eine Kita-Pflicht. „Wenn Kinder aus migrantischen Familien kommen und nicht in die Kita gehen, dann haben 80 Prozent Sprachdefizite bei der Einschulung“, sagt Giffey. „Mit mehr als zwei Jahren Kita sind es 23.“

Giffeys liebste rhetorische Frage

Ein anderer Tag, Giffey sitzt auf der Rückbank ihres Dienstwagens. Neben sich eine Wasserflasche, vorn der Fahrer und der Bildungsstadtrat, ihr Nachfolger auf dem Posten. Es geht vom Rathaus aus in den Süden des Bezirkes, Konzerte zweier Schulen stehen an. Der Bildungsstadtrat fragt: „Das Konzert am Einstein-Gymnasium geht bis acht, oder?“

Giffey antwortet: „Nee, das geht länger. Ist dein Schreibtisch so voll?“

„Ja.“

„So geht’s mir auch.“

Von dort eher wieder wegzufahren, steht aber nicht zur Debatte. Es sei einer der schönsten Termine des Jahres, sagt Giffey. Als sie selber noch Bildungsstadträtin war, seien sie und Buschkowsky auch immer bis zum Schluss geblieben, weil es so toll dort sei. Als Giffey und der Stadtrat im Einstein-Gymnasium ankommen, werden sie vom Schuldirektor begrüßt. Ja, Buschkowsky sei gestern Abend dagewesen, sagt der. Der Vorgänger, „der ja die Sanierung unserer Schultoiletten eingeleitet hat, bei einem Konzert vor zwei Jahren. Nun sind sie fertig geworden.“ Es folgt der erste Applaus des Abends.

Die amtierende Bürgermeisterin hat auch etwas mitgebracht. Sie kündigt an, dass die maroden Schulpavillons vor ihrer Sanierung stünden, „eine Drei-Millionen-Investition“. Man versuche im Rathaus, Fördergeld aus dem Programm „Wachsende Stadt“ zu bekommen, und sei sehr zuversichtlich. Ankündigungen wie diese sind die praktische Entsprechung einer ihrer liebsten rhetorischen Fragen: „Können wir es uns langfristig leisten, es bezahlen und akzeptieren, die jungen Leute zu verlieren?

Das Einstein-Gymnasium beispielsweise leistet sich eine Bigband, einen Chor und ein Orchester. Es laufe gut an der Schule, sagt der Direktor, im vergangenen Jahr hätten sie hier die höchsten Anmeldezahlen für ein Gymnasium berlinweit gehabt.

Integration oder das Gegenteil

Giffey und der Bildungsstadtrat bleiben und lauschen. Dann geht es zurück ins Rathaus, der vollen Schreibtische wegen. Am nächsten Tag wird sie auf einer Anwohnerversammlung sein, einer neuen Flüchtlingsunterkunft wegen. Anschließend geht es wieder mal zum Fernsehen, zum ZDF, Maybrit Illner hat eingeladen.

Wem zugeschrieben wird, als Modell für andere zu taugen, der muss von seinen Erfahrungen nicht nur berichten können. Die anderen müssen auch zuhören. Bei den Bürgern in Versammlungen und vorm Fernseher scheint das zu gelingen. Dort, wo Entscheidungen getroffen werden, in der Politik und in den Verwaltungen, nicht immer.

Zum Beispiel: Ungefähr 50 sogenannte Problemhäuser gibt es im Bezirk, sagt Giffey. Vornehmlich überbelegte, oft an Migranten vermietete, teure Bruchbuden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin aus Tempelhof-Schöneberg hat sie versucht, das Thema auf die Tagesordnung des „Rates der Bürgermeister“ zu setzen, wo der Regierende mit seinen Stellvertretern auf die Bezirksbürgermeister trifft. Giffey sagt, sie glaube, „dass die Problemhäuser nicht an unserer Bezirksgrenze haltmachen“. Was sagt der Rat? „Das interessiert nur die, die betroffen sind.“

Stattdessen kommen aus anderen Bezirksrathäusern Vorwürfe. Neukölln beherberge zu wenige Einwanderer auf seinem Territorium. Giffey kennt den Tadel längst. Am Abend der SPD-Feier macht sie ihre Genossen damit vertraut. Sie sagt: „Wann immer euch jemand sowas sagt, setzt dem was entgegen.“

Den Daten zufolge, die das Statistische Landesamt erheben kann, leben im Bezirk 140 000 Menschen mit Migrationshintergrund, das sind mehr als 42 Prozent der gesamten Einwohnerschaft, Neukölln liegt damit auf Platz zwei der Berliner Bezirke.

Weniger bekannt: Bei den Menschen, bei denen die Migration noch sehr im Vordergrund steht, bei den 2015 in der Stadt angekommenen Flüchtlingen, steht Neukölln ganz am Ende der Statistik. Von den ungefähr 40 000 Plätzen in den Berliner Not- und Gemeinschaftsunterkünften befanden sich Ende 2015 nur 1000 hier im Bezirk.

„Wir sind kein Fusionsbezirk“, sagt Giffey, wie beispielsweise Charlottenburg-Wilmersdorf einer ist. „Wir haben deshalb nur ein Rathaus“ – und nicht zwei, von denen man eines hergeben kann – „und das brauchen wir noch.“ Man habe auch keine leerstehenden Flugzeughangars wie Tempelhof-Schöneberg und keine Kasernen wie Spandau.

Im Jahr 2015 sind nach Auskunft der Sozialverwaltung rund 79 000 Flüchtlinge in Berlin registriert worden. In Not- und Gemeinschaftsunterkünften lebten ungefähr 40 000 davon. Giffey sagt: „Wo sind die anderen?“ Sie meint die Antwort zu kennen. Dort, wo ihre Sprachen gesprochen werden. Wo schon Landsleute leben, Bekannte vielleicht, Verwandte. Wo unbeobachtet von Behörden vielleicht schon etwas davon stattfindet, was Integration genannt wird. Oder das Gegenteil davon. Jedenfalls hier, in Neukölln.

Zur Startseite