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Femi Oluwole hat eine Kampagne für ein zweites Referendum gestartet. Er sagt, sein Kampf habe gerade erst begonnen.

© Deike Diening

Neue Chance für Referendum: Wie dieser Brite den Brexit verhindern will

Femi Oluwole wurde für seine Idee lange belächelt. Doch nun scheint ein zweites Brexit-Referendum nicht mehr ausgeschlossen. Die Zeit wird knapp.

Welche Spannung bietet eigentlich „In 80 Tagen um die Welt“ gegen „In zwei Jahren aus der EU“? Keine im Vergleich. Wirkt nicht Jules Vernes grandioser Wettlauf gegen die Uhr gegen das echte Leben geradezu ausgeruht?

Auch in London haben wir ein Rennen gegen die Uhr, bis zum 29. März, 23 Uhr Ortszeit. Ersonnen von Engländern mit innenpolitischem Spieltrieb und der Bereitschaft zu einem gewaltigen Einsatz, in diesem Fall ist es ein ganzes Land und seine nachfolgenden Generationen. Ruin scheint möglich. Gestartet wurde es von einer Premierministerin, die ohne Not mit der Auslösung von Artikel 50 die Uhr scharf stellte, womit vor allen inhaltlichen Vorstellungen schon einmal das Austrittsdatum feststand. 71 Tage sind noch übrig. „Die Zeit ist fast um“, twittert Jean-Claude Juncker am Dienstagabend. Und noch immer sind fast alle Optionen im Rennen.

Als am Dienstagabend Theresa Mays Austrittsplan vom Parlament vom Tisch gefegt wurde, hat sich jedoch ein kleines, historisches – denn ist nicht alles am Brexit historisch? – Fenster aufgetan für die Lösung, die anfangs wie die unwahrscheinlichste von allen aussah: ein weiteres Referendum. Lasst das Volk entscheiden! Plötzlich erscheint es wieder greifbar, wenn nicht gar als die beste Lösung. Ein Grund dafür ist Femi Oluwole.

"Oh, F***!" Das konnte doch nicht wahr sein

Im Millbank Tower, einem Hochhaus an der Themse, sitzt am Montag noch vor der Unterhaus-Entscheidung der Mann, der seit zweieinhalb Jahren für ein zweites Referendum kämpft, mit vor Anstrengung rot geäderten Augen. Seine Organisation „Our Future Our Choice“, die er mitgegründet hat, hat hier Büros gemietet. Ihre Abkürzung „OFOC“ klingt genau wie der Stoßseufzer, den die meisten jüngeren Engländer ausstießen, als sie am Morgen des 24. Juni 2016 begriffen, dass England beschlossen hatte, sich aus der EU zu katapultieren. „Oh, f***!“, das konnte doch nicht wahr sein!

Femi Oluwole, natürlicher Schnellredner, ist 26 Jahre alt, und man kann sagen, dass das Brexit-Referendum sein Leben geformt hat. Umgekehrt hat er den jungen Briten, die ihre Zukunft auf dem Spiel stehen sehen und ein zweites Referendum wollen, sein Gesicht gegeben. Er hat in den letzten zweieinhalb Jahren in Radiosendungen und Talkshows gefühlt jedes Argument der Anhänger eines Brexit gehört und widerlegt.

May sage ja noch heute, es sei ihre Pflicht, den „Leave“-Auftrag des Wählers umzusetzen. Daran hänge die Demokratie. Oluwole sagt: Genau das tue sie eben nicht. Denn Mays Prämisse stimmt nicht. Kein „Deal“ dieser Welt könne mehr erfüllen, wofür die 52 Prozent 2016 gestimmt haben: nämlich durch einen Brexit mehr politische Kontrolle zu erlangen, mehr Geld für das Gesundheitssystem NHS und dass es generell allen besser gehe. Denn die Versprechungen, unter denen diese Wahl getroffen wurde, haben sich längst als billige, falsche Köder von Populisten entpuppt.

Drei Tage versucht er das Ergebnis zu akzeptieren

Deshalb sei ganz im Gegenteil ein zweites Referendum, diesmal unter ehrlichen Voraussetzungen, zwingend.

Man muss sich Oluwole als einen 23-jährigen Jurastudenten vorstellen, der 2016 in Brüssel bei einer Menschenrechtsorganisation ein Praktikum macht, als er, wie der Rest der Welt, von dem Ergebnis des Referendums überrascht wird.

Immer mehr Menschen fordern ein zweites Referendum, das nicht nur über den Brexit an sich, sondern den konkreten Deal abstimmen lässt.
Immer mehr Menschen fordern ein zweites Referendum, das nicht nur über den Brexit an sich, sondern den konkreten Deal abstimmen lässt.

© AFP

Drei Tage lang bemüht er sich, das Ergebnis zu akzeptieren. Dann weiß er, was er tun kann: Er kann die Fakten über die EU liefern, die die Wähler vorher nicht bekommen haben. Er dreht Youtube-Filme, die die Arbeit der EU beschreiben. Er erklärt, dass sie als Friedensprojekt startete und dass die Geschichte von der unkontrollierten Einwanderung nicht stimmt. Er beschreibt, wie sehr der Lebensstil der Briten von einem funktionierenden Binnenmarkt abhängt. Denn die Leute wussten ja gar nichts über die EU, sie hatte viel zu lange als Sündenbock für eigene Probleme herhalten müssen, um nun plötzlich gemocht zu werden. Und eigentlich war es im Referendum um etwas Innenpolitisches gegangen: Der damalige Premier David Cameron hatte nicht erwartet, dass das Referendum so ausgehen könnte, und hatte geglaubt, es riskieren zu können. Boris Johnson hatte gehofft, dass es gerade genug Zwietracht säen könnte, damit für ihn selbst der Weg auf den Premierministerstuhl frei würde.

Von den ebenfalls geschockten Spielern, die das Referendum angezettelt hatten, kniff Nigel Farage als Erster, mit dem Argument, er wolle sein „Leben zurück“. Cameron drehte sich nach seiner Rücktrittserklärung um und pfiff ein Liedchen, das viele als ein unpassendes „Ihr könnt mich mal“ werteten. Johnson blieb im Spiel, auch weil May darauf bestand. Nach einer Tage währenden Schockstarre wurde er mit der wortlosen Stoik Außenminister, mit der einer Wettschulden akzeptiert.

Keine Klarheit, keine Sicherheit, keine Entscheidungen

Seitdem steht zwischen Englands „to be or not to be“ seiner kontinentalen Unabhängigkeit das große, nicht enden wollende May-be. Keine Klarheit, keine Sicherheit, keine Entscheidungen. Auf aufreizende Weise verweigerte es Theresa May so lange wie möglich, konkret zu werden. Sie ließ ihre Verwaltung nicht ausrechnen, was verschiedene Szenarien für die einzelnen Wirtschaftszweige bedeuten. Sie ließ Briten, die im EU-Ausland leben, im Unklaren über ihre Zukunft. Die EU-Bürger, die in England leben, bekamen verstörende, vermeintlich irrtümliche Briefe von den Behörden, die ihren weiteren Aufenthalt infrage stellten. Viele Briten gingen stiften und beantragten andere europäische Staatsbürgerschaften.

Theresa May musste sich am Mittwoch einem Misstrauensvotum im Parlament stellen.
Theresa May musste sich am Mittwoch einem Misstrauensvotum im Parlament stellen.

© AFP

Die Jungen, sagt Oluwole, werden am meisten unter dem EU-Austritt zu leiden haben. Viele von ihnen sind 2016 nicht zur Wahl gegangen, weil sie es, wie alle anderen auch, für unmöglich gehalten haben, dass das Land tatsächlich „Leave“ wählen würde. Oluwole beginnt im März 2017, Nigel Farage in dessen Radioshow anzurufen und dessen Argumente auseinanderzunehmen. Eines nach dem anderen. Als er ihn dazu bekommt, zuzugeben, dass die EU mit der Richtlinie 2004/38/G doch etwas dagegen tue, dass Immigranten unkontrolliert in das englische Sozialsystem einwandern, wird er im Land bekannt. Im Oktober 2017 eröffnet er einen Twitter-Account mit anfangs 20 Followern, auf dem er seine EU-Erklärfilme zeigt.

Er tut sich zusammen mit einer anderen Organisation, die ein Netzwerk mit 13 Universitäten geknüpft hatte, und gründete, ab Februar 2018 offiziell, „OFOC“. Jetzt, da der Ball bei den Abgeordneten liegt, ist die Aufgabe für das Volk: „Lobby your MP!“ – Bearbeite deinen Abgeordneten!

Anders als in Deutschland bedeutet „Campaigning“ in England nicht verdruckste Lobbyarbeit, sondern einen ziemlich prestigeträchtigen Berufszweig. Er trägt enthusiastische Züge, weil die Mitglieder für eigene Anliegen einstehen können. „Campaigning“ bietet Gelegenheit, ein scharfes eigenes Profil zu gewinnen, das man später politisch nutzen kann. „Campaigning“ macht Karrieren, nun auch die von Femi Oluwole.

Jeden heute jungen Engländer werde ein harter Brexit 108.000 Pfund kosten

Aus dem persönlichen Protest sind die Organisation „OFOC“ und ein bezahlter Vollzeitjob geworden. Sie finanziert sich durch Spenden auch anderer größerer Organisationen wie „Best for Britain“, die auch von George Soros Geld erhält. 2018 bringt „OFOC“ eine Studie heraus, durchgeführt von einem Oxford-Ökonomen und vom ehemaligen Premierminister John Major mit einem Vorwort versehen: Jeden heute jungen Engländer werde ein harter Brexit im Laufe seines Lebens persönlich 108.000 Pfund kosten, ein Großteil davon in entgangenen Löhnen.

Als junge Briten 2016 schnell ein zweites Referendum forderten, klang es wie die albernste Lösung von allen: Noch einmal abstimmen, nur weil einige die Wahl das erste Mal nicht ernst genommen hatten? Wie lange wolle man denn dann immer wieder das Volk fragen, und welches Ergebnis sollte dann gelten? Heute wäre es nicht mehr einfach eine hilflose Wiederholung, denn heute würde etwas völlig anderes zur Wahl stehen: nicht nur Brexit, ja oder nein, unter egal welchen Bedingungen, sondern ein konkreter Vorschlag oder ein „harter“ Brexit ohne Deal. Jetzt würden sie nicht mehr über ein Luftschloss abstimmen. Oluwole bezweifelt, dass die Leute ohne die saftigen falschen Versprechungen aus dem ersten Wahlkampf noch aus der EU wollen.

Aber obwohl sich neben „OFOC“ noch andere Organisationen, darunter „People’s Vote“ und die neue Partei „Renew Party“ für ein zweites Referendum starkmachen, sind die Hürden hoch. Mays Deal musste dafür erst scheitern, Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Misstrauensvotum ankündigen. Beides ist am Dienstagabend tatsächlich passiert. Sobald das Misstrauensvotum vom Mittwoch gescheitert ist und Theresa May im Amt bleibt, müsse laut Oluwole auf Corbyn Druck ausgeübt werden, dass er den Willen seiner Labour-Partei umsetzt: Mit 72 Prozent befürwortet die Mehrheit ein zweites Referendum. Merkwürdigerweise scheint sich der Parteichef trotzdem nicht dafür erwärmen zu können. Corbyn ist eine harte Nuss, er will vor allem May als Premier stürzen.

Sein Anliegen hat ein Eigenleben entwickelt

Es ist ja ein merkwürdiges Paradox, sagt Oluwole: Eine ehemalige Remain-Wählerin – May – will Großbritannien mit aller Macht aus der EU führen, während auf der anderen Seite ein EU-Skeptiker eine Opposition anführt, die zu großen Teilen in der EU bleiben will!

Je heilloser sich Parlament und Regierung ineinander verhaken, desto vernünftiger erscheint plötzlich wieder ein Referendum. Das Handy mit seinem Twitter-Account ist Oluwole inzwischen quasi an die Hand gewachsen. Er ist jemand geworden, der nach dem Aufwachen erst einmal zwei Stunden die sozialen Medien bearbeitet, 127 000 Follower, den letzten Tweet setzt er etwa um halb zwei Uhr nachts ab. Sein Anliegen hat ein Eigenleben entwickelt. Obwohl er die Stadt nicht leiden kann, ist Oluwole erst einmal nach London gezogen. Seinen besten Freund hat er seit einem halben Jahr nicht gesehen.

Jeremy Corbyn will unbedingt Theresa May stürzen.
Jeremy Corbyn will unbedingt Theresa May stürzen.

© AFP

Die Befürworter eines „People’s Vote“ schnuppern jedenfalls Morgenluft. Die Stimmung könnte sich drehen. Doch er persönlich brauche erst einmal Urlaub. Zwei Monate am Stück mindestens, er würde auch gerne mal einen Arzt sehen. Denn langsam gehe es an die Substanz. Ein Grund dafür ist der Hass im Netz.

„Ich bin für die EU und ich bin schwarz“, sagt Oluwole. „Die Leute, die Jo Cox gehasst haben, hassen mich auch.“ Jo Cox war die Abgeordnete, die kurz vor dem Referendum von einem Rechtsextremen auf der Straße niedergestochen wurde. Bei ihm komme noch der Rassismus hinzu. Beleidigungen erhalte er jeden Tag, Aufforderungen zum Selbstmord regelmäßig. Vor bald einem Jahr veröffentlichte jemand seine Privatadresse.

Das Referendum würde heute anders ausfallen. Der Grund: Demografie

Als er anfing, Europarecht zu studieren, hat er Anwalt werden wollen. Nun ist Oluwole ein Aktivist geworden, der wohl auch nach dieser Sache in der Politik bleiben wird.

Am Dienstag, dem Tag der Abstimmung über Theresa Mays Austrittsplan, steht Femi Oluwole auf dem Parliament Square in seinem hellblauen „Frag mich alles zum Brexit“-T-Shirt. Die Niederlage von Mays Deal feiert er nicht. Es gebe nichts zu feiern, denn seine Arbeit gehe nun erst los. Dass May ihre Abstimmung verloren hat, ist nur ein Meilenstein, eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das zweite Referendum.

Die Leute würden dieses Mal vermutlich für Remain stimmen, sagt Oluwole. Viele von ihnen zugegebenermaßen aus Überdruss. „Sie würden es nicht machen, weil sie die EU so gerne mögen. Sie wollen, dass dieses Chaos endlich aufhört.“

Gerade junge Briten waren beim Referendum 2016 gar nicht zur Wahl gegangen. Von den Auswirkungen des Brexit sind sie aber am meisten betroffen.
Gerade junge Briten waren beim Referendum 2016 gar nicht zur Wahl gegangen. Von den Auswirkungen des Brexit sind sie aber am meisten betroffen.

© dpa

Ist es möglich, nach dieser Aktion wieder ein Privatmann zu werden? „Vielleicht,“ sagt er. „Wenn unsere Initiative im Sande verläuft.“ Wenn sie Erfolg hat, werde er leider noch bekannter.

Es gibt jedenfalls noch einen weiteren Grund, weshalb das Ergebnis bei einem zweiten Referendum nun sicher anders ausfiele: pure Demografie.

Da es die Älteren waren, die hauptsächlich für den Brexit gestimmt haben und die Jüngeren dagegen, existierten jährlich etwa eine halbe Million Brexit-Befürworter weniger, fand eine Studie der Meinungsforschungsfirma YouGov heraus: Die Brexiteers sterben einfach aus, während zugleich Tausende Remainer das Wahlalter erreichen. Wenn man nur lange genug warte, würde sich das Problem – makaber, aber effektiv – von selbst erledigen. Die Studie vom September 2018 errechnet auch einen Stichtag, an dem – angenommen, niemand habe seine Meinung gewechselt – die Remainer in der Mehrzahl wären: Am 19. Januar 2019 wäre es so weit. Das ist am kommenden Samstag.

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