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Der von nebenan. Norbert Blüm war ein prinzipientreuer Politik-Arbeiter.

© Dieter Bauer/Imago

Nachruf auf Norbert Blüm: Ein Mensch für die Menschen

Er war das soziale Gewissen der CDU, Wächter der Rente, der Vater der Pflege. Nun ist Norbert Blüm im Alter von 84 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Wie persönlich darf man es fassen, wenn man persönlich betroffen, genauer: getroffen ist. Wie persönlich darf es werden, wenn der, der gerade gegangen ist, doch gestern, gewissermaßen, noch da war. Einer war, dem man in Gedanken nah war, so nah, dass er einem über die Schulter zu blicken schien bei jedem Artikel, in dem es um die Frage ging: Wie kann man es erreichen, dass stärkere Schultern mehr tragen als schwächere? Eine wichtige Frage für die Politik und ihre Verantwortlichen, schon gar jetzt; und erst recht dann, wenn die Corona-Zeiten ihren Tribut fordern.

Ach Gott, was soll’s, es ist persönlich. Der Tod ist der große Gleichmacher, und er passiert nur einmal im Leben jedes Einzelnen. Norbert Blüm ist gestorben. Das macht mich traurig.

Blüm war ein Streiter für die soziale Sache

Der Mensch ist wichtiger als die Sache – ist das nicht ein schöner Satz? Natürlich, manchen wird er zu heilig klingen, vielleicht auch zu pathetisch. Aber was, wenn dieser Satz eine Lebensmaxime ist, die nicht nur dahingesagt ist, sondern ein ganzes langes Leben umspannt, überwölbt geradezu, und sich darunter politisches Handeln entfaltet, das dem entspricht? Bis zuletzt war das so!

Ja, so war Norbert Blüm.

Der ewige Arbeitsminister. Das soziale Gewissen der CDU. Der Wächter der Rente. Der Vater der Pflege. Der „Herz-Jesu-Marxist“. Ein Mensch. Vor allem das war Blüm. Ein Mensch für die Menschen. Das zu bleiben, war gewiss nicht immer einfach, weiß Gott nicht. Denn ihre Sache zu seiner zu machen, das Soziale im Einzelnen und in der Gesellschaft zu stärken, daran sind schon viele gescheitert.

„Nobbi“, der von nebenan, der Nachbar an der Theke, der fröhliche Mensch in der Fußgängerzone, der zornesrote, feurige Redner auf Parteitagen, der Streiter für die soziale Sache – der auch. Aber ihm ging es immer darum, besser zu scheitern. Was auch eine Philosophie ist.

Katholisch von Beginn an, und bis zuletzt

Ein Philosoph war er, und gläubig. Katholisch von Beginn an, und bis zuletzt. In seiner Jugend war Blüm Messdiener und Sankt-Georgs-Pfadfinder. Das passt wie gemalt zu ihm. Ein Pfadfinder, immer auf dem Weg, geleitet von dem Katholizismus, der nicht die großen Kathedralen einstaubt, sondern voller Gottvertrauen und froh darüber auf den Menschen zugeht. Ein Stammesvorsitzender der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg, damals, in Rüsselsheim, war er auch: Er ging in vielem voran. Und vielen. Später dann in der Politik.

Texte von Norbert Blüm im Tagesspiegel:

Geh auf die Menschen zu – es wäre ihm zuzutrauen gewesen, dass er daraus ein Lied macht. Eine Lebensmelodie. Das ist etwas anderes als ein Gassenhauer, wie die, die ihn nicht näher kannten, die nur seine Jovialität sahen, sagen würden. Denn ja, er war jovial. Eben der Nobbi. Immer für einen Spaß zu haben, nie verlegen um einen guten Spruch, einen einprägsamen Satz, einen Begriff, um es gelehrter zu formulieren. Aber niemand sollte seine Jovialität mit seinen Prinzipien verwechseln. Die waren ehern, oder besser in der Sprache seiner Kirche: ewig. Der Glaube leitete ihn, die „Christliche Gesellschaftslehre“, die Joseph Kardinal Höffner aufschrieb, war wie ein Katechismus. Und er war jeder Zoll Person gewordene katholische Soziallehre.

Norbert Blüm war einer, der es immer noch genauer wissen wollte

Es gibt etwas, das größer ist als wir selbst. Der Mensch ist auf den anderen angewiesen. Kein Mensch kann ohne einen anderen existieren – solche Worte klingen nach. Sie klingen einfach. Aber sie sind es nicht. Sie sind Essenz eines Denkens, das tief gründelt. Blüm, Norbert Blüm, das war nämlich einer, der es immer noch genauer wissen wollte. Neben dem Glauben wollte er wissen.

Nach Abschluss der Volksschule machte er bis 1952 eine Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Opel Rüsselsheim. Bis 1957 war er dort im Werk. Und weil er war, wie er war, wurde er Jugendvertreter. Wundert es noch einen, dass er 1950 Mitglied der Gewerkschaft IG Metall und zugleich der CDU, der Christlich-Demokratischen Union, wurde? Für ihn ging das ein Leben lang zusammen.

Für seine Aussagen zur Rente wurde Blüm attackiert und verlacht.
Für seine Aussagen zur Rente wurde Blüm attackiert und verlacht.

© Peter Popp/p-a/dpa

Der Pfadfinder auf dem Weg. Nebenher besuchte Blüm das Abendgymnasium in Mainz, machte das Abitur, studierte in Bonn. Er wollte wissen, den Grund für die Dinge kennenlernen: Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie – und dazu hörte er bei Joseph Ratzinger. Dem, der später der deutsche Papst wurde. Ein hochgelehrter Mensch, der zum Widerspruch reizte. Gefördert von zwei Stiftungen, der nachmaligen Hans-Böckler-Stiftung und der Volkswagenstiftung, promovierte Blüm schließlich über die „Willenslehre und Soziallehre von Ferdinand Tönnies. Ein Beitrag zum Verständnis von ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘“. Tönnies war der Begründer der Soziologie in Deutschland. Was programmatisch klingt, wurde es ja dann auch.

Er hielt sich an Schopenhauer

Geschrieben hat er immer, und wie es seine Art war. Er, der Doktor der Philosophie, hielt sich an das Schopenhauer-Wort: Sage ungewöhnliche Dinge in gewöhnlichen Worten. Das blieb seine Leitlinie. Wie gesagt, so geschrieben. Seine Beiträge als junger Redakteur der „Sozialen Ordnung“, herausgegeben von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, kurz CDA, zeugen davon.

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Blüm fiel auf. Wie auch nicht? Er engagierte sich in den Sozialausschüssen der CDU, also der CDA, wurde Hauptgeschäftsführer, dann Bundesvorsitzender bis 1987. Und er kam in den CDU-Bundesvorstand, für 31 Jahre, 17 Jahre als stellvertretender Bundesvorsitzender, immer wieder gewählt als das soziale Gewissen einer Partei, der das C im Namen schon damals ein schlechtes Gewissen machte.

Auch seine Stationen waren bedeutend. Er war Abgeordneter des Bundestages, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, war Bundessenator des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker, Bundesarbeits- und Sozialminister, der längst gediente der Republik, 16 Jahre der „Knappe“ von Helmut Kohl, wie es damals hieß. Er ist damit der einzige Minister, der während Kohls gesamter Kanzlerschaft bis 1998 dem Kabinett angehörte.

16 Jahre lang diente Norbert Blüm Helmut Kohl als Minister.
16 Jahre lang diente Norbert Blüm Helmut Kohl als Minister.

© Sepp Spiegl/Imago

Knappe – das sollte abwertend klingen, und klang doch auch nach harter Arbeit in der Politik. Blüm machte das nichts aus. Er bezog sich ja auf die Soziallehre, verteidigte das Privateigentum, „aber in sozialer Bindung“. Das Individuelle mit sozialen Rechten und Pflichten zu vereinbaren, darum ging es bei allen seinen Änderungen im Sozialgesetzbuch; und keiner hat es so sehr verändert wie er. Dass eine Pflegeversicherung eingeführt wurde, ist maßgeblich sein Werk. Und dass die Rente, ja doch, heute noch sicher ist – das auch. Er hatte immerhin einen „demographischen Faktor“ eingebaut, um sie zu sichern.

Verlacht und beschimpft wurde er

Wer verstand schon so viel von der Rente wie er? So viele konnten da nicht mithalten. Rudolf Dreßler, ja, der. Eisern war er in der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, auf seine Weise das soziale Gewissen der SPD. Dreßler nervte seine Partei wie Blüm die Union. Auch Ludger Reuber, wie Blüm aus den Sozialausschüssen, erst als Redakteur, dann Pressesprecher und schließlich so lange als Sprecher des Ministeriums wie Blüm Minister war. Vielleicht noch Horst Seehofer, damals, als Staatssekretär bei Blüm. Lang ist’s her.

Aber wie ist er verlacht und beschimpft worden für seinen Spruch: „Denn eins ist sicher: Die Rente“. Das war eine Werbekampagne der Bundesregierung von 1986, bei der Blüm mit Pinsel und Kleber vor dem Plakat auf einer Litfaßsäule in Bonn posiert. Ihm wurde vorgehalten, nicht mit der Zeit zu gehen. Dabei bestand die Rentenversicherung später, von 1989 an, einen Belastungstest ohnegleichen: die deutsche Einheit. Ohne diese Rentenversicherung hätte Deutschland die Einigung nicht geschafft, sie ohne deren Geld nicht stemmen können. Von den Gesamtkosten – bis zu zwei Billionen Euro – sind ein Großteil Sozialleistungen, die über die Renten- und Arbeitslosenversicherung finanziert werden.

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Ja, Blüm hat viel an Kritik aushalten müssen, von rechts, von links, in der Koalition. Im Laufe der Jahre wurde er auch dünnhäutig, aber das ist die andere Seite der Leidenschaft. Er stritt, ob für Menschen- und soziale Rechte in aller Welt oder gegen die Kopfpauschale der frühen Angela Merkel, gegen Hartz IV und die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, gegen Neoliberalismus und Werterelativismus. Er wurde ausgepfiffen – und behielt am Ende doch recht, wie bei der Kopfpauschale im Gesundheitswesen, die nie kam. Die Hartz-Reformen werden auch noch weiter geändert werden.

Mit seiner Frau Marita war Norbert Blüm seit 1964 verheiratet.
Mit seiner Frau Marita war Norbert Blüm seit 1964 verheiratet.

© Imago/Horst Galuschka

Blüm bot Diktatoren die Stirn, ob in Chile, im Ostblock oder in der Union. Ein ums andere Male wurde er eine Herausforderung für den legendär wütenden CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, aber auch für Kohl. Das früher gute Verhältnis zu Kohl ging in die Brüche, als sich „Nobbi“ in der Spendenaffäre von ihm entfernte. Aber er kam zu seiner Beerdigung.

Im März erst berichtete Norbert Blüm in einem Beitrag für die „Zeit“, dass er im Jahr zuvor nach einer Sepsis im Koma gelegen hatte und seither von der Schulter abwärts gelähmt sei. Schreiben wollte er, trotz alledem. Und reden konnte er auch, unverkennbar er. Dieses hessische Idiom, der Singsang seiner Heimat mit dem Unterton der Fröhlichkeit. Obwohl es schwer war, für ihn und seine Frau Marita, seit 56 Jahren verheiratet. Er hatte ja noch einiges vor, trotz allem. Er hätte noch viel Rat geben können, als Vater der Pflege und Schutzpatron der sozialen Berufe.

Worte, die in Erinnerung bleiben

Früher hat Norbert Blüm immer gefragt: „Und wie geht’s der Mutter?“ Er wusste, dass sie allein war. Oder er hat gesagt: „Den Vater oben auf der Wolke wird’s freuen.“ Dann der Anruf in Bonn mit der Verabredung, aneinander zu denken, im Gespräch zu bleiben. Es war der letzte Anruf. Und es sind Worte, die in Erinnerung bleiben. Die ein Geschenk sind. Eine Verpflichtung auch.

Aus einem Song der Kölsch-Rockband „Brings“, in der sein Sohn Christian spielt, stammen diese Zeilen: „An jeder Eck klääv en Erinnerung/Su wie ne ahle jode Song/Do fällt mir d’r Spruch vun d’r Mamm allt widder in/Ich jläuve dat is hück Naach minge Refrain/Loß dir nix jefalle, du weiß woher du küss ...“. Ja, an jeder Ecke der Politik klebt eine Erinnerung. An einen, der sich nichts gefallen ließ. Der wusste, woher er kommt. Der wusste, wohin er geht. Auf seinem Pfad.

Norbert Blüm ist gegangen. Mit 84 Jahren. Ein schöner Spruch für ihn wäre: Gott braucht gute Ratgeber.

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