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Auf der Straße. Ein Bewohner sitzt auf dem Boden vor einer zerstörten Bar.

© Marwan Naamani / dpa

Update

Nach der Katastrophe in Libanon: „Die Verantwortlichen sind Verbrecher“

Um sie herum Verletzte und Tote, ihre Wohnungen und Büros zerstört: Bewohnerinnen und Bewohner Beiruts erzählen von der Folgen der verheerenden Explosion.

Sie ruft immer wieder an, schreibt Freunden in Beirut Whatsapp-Nachrichten, bekommt nur von den wenigsten eine Antwort. Nicht gelesen. Nicht anwesend? Noch am Leben?

Die junge Libanesin weint, ringt um Worte, läuft in ihrer Wohnung auf und ab. Per Videocall schildert sie, wie sie an diesem Dienstagabend auf der Toilette saß und plötzlich einen Knall hörte, einen erdbebenartigen Druck spürte.
Sie nennt das, was in Beirut geschah, „Tschernobyl“. Bis ins Nachbarland Zypern soll man die Detonation gehört haben. Zwei Explosionen innerhalb von wenigen Minuten. Unten am Hafen.

Große Teile der Stadt sind dem Erdboden gleichgemacht. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat sollen für die Verwüstung verantwortlich sein. Eine hochexplosive Mischung, die man seit Jahren ohne Sicherheitsvorkehrungen am Hafen gelagert haben soll. Ein Umstand, der nun zur Katastrophe führte: Mindestens 100 Menschen starben, etwa 4000 wurden verletzt.

Mit dem Leben davongekommen. Zwei Bewohnerinnen Beiruts an Tag nach der Explosion.
Mit dem Leben davongekommen. Zwei Bewohnerinnen Beiruts an Tag nach der Explosion.

© AFP

Haneen lebt mit ihren Eltern nur 16 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, im Dorf Deir Quobeil. In normalen Zeiten arbeitet sie in Beirut als Modell und Schauspielerin. Aber was sind im Libanon schon „normale Zeiten“? Corona-Krise, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise. Bereits vor der Katastrophe am Hafen stand der Libanon am Abgrund.

Jetzt sind mindestens 200.000 Menschen auf einen Schlag obdachlos geworden. „Beirut war einst ein Kunstwerk, jetzt ist es eine Ruine“, sagt die junge Frau, die sonst auf Fotos und Videos permanent lächelt und Lebensfreude versprüht. Eine Lebensfreude, die längst zur Pose verkommen ist. In vier Worten fasst sie es zusammen: „Ich bin innerlich tot.“

Die Katastrophe trifft ein Land in dem sich Menschen eine gute Gesundheitsversorgung schlicht nicht leisten könnten. Die Bevölkerung kann kaum für die Grundnahrungsmittel aufkommen. Die Preise sind im Vergleich zum Vorjahr teils um 60 Prozent in die Höhe geschossen. Die Staatsverschuldung beträgt mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Inflation ist gewaltig.

Hinzu kommt die politische Krise. Der Unmut über die regierende Elite hat sich auch mit dem Führungswechsel im vergangenen Herbst nicht gelegt. „Die politisch Verantwortlichen sind unfähig, Verbrecher. Sie scheren sich einen Dreck um das Volk“, sagt Haneen.

Vor einem Jahr zerstörte eine gewaltige Explosion Beiruts Hafen und umliegende Wohngebiete.
Vor einem Jahr zerstörte eine gewaltige Explosion Beiruts Hafen und umliegende Wohngebiete.

© AFP

Der Tagesspiegel hat weitere Bewohnerinnen und Bewohner Beiruts gefragt, wie sie das Unglück erlebt haben:

Saleem Zein, 24, Lehrer

"Vor einigen Tagen habe ich mir ein Airbnb-Apartment in dem Szeneviertel Mar Mikhael gemietet, da ich mich mit Covid-19 infiziert habe und meine Familie, mit der ich zusammenlebe, nicht anstecken wollte. Ich lag am Dienstagabend im Bett, als ich plötzlich merkwürdige Geräusche wahrnahm. Wie ein Flugzeug, das immer näher und näher kommt.

Irgendwann war dieses Geräusch nicht mehr auszuhalten, das vermeintliche Flugzeug musste sich direkt vor meinem Haus befinden. Als ich meinen Balkon betrat, um nachzuvollziehen, was es mit diesem ohrenbetäubenden Krach auf sich hatte, höre ich den ersten Knall.

Ich erschrak so sehr, dass ich wieder zurück in die Wohnung lief. Im selben Moment explodiert plötzlich das ganze Apartment und alle fünf Wohnungen auf meiner Etage. Da waren keine Wände mehr, die die Wohnungen voneinander trennten. Alles brach zusammen.

Eine Beiruter Straßenszene vom Mittwoch.
Eine Beiruter Straßenszene vom Mittwoch.

© AFP

Wir rannten alle barfuß und halb nackt hinunter auf die Straße. Viele bluteten. Die Szene war einfach nur surreal. Ich stürmte noch einmal zurück in die Wohnung, um meinen Laptop, mein Handy und mein Portmonee zu suchen und lief dann zum Haus meiner Familie.

Hunderte Opfer lagen auf den Straßen, die Menschen waren blutüberströmt, teilweise bereits tot. Gemeinsam mit Freunden, die auch mit Corona infiziert sind, verließ ich Beirut noch in der Nacht. Wir sind in die Berge gefahren.

Ich habe ständige Flashbacks und längst nicht alles verarbeitet. Ich bin ehrlich gesagt auch noch nicht bereit dazu, zurück nach Beirut zu fahren und meine Heimatstadt so zerstört zu sehen."

Frieda Siering, 23, Berliner Studentin in Beirut

"Ich saß mit meinen Freunden in einem Café, als einer meiner Kommilitonen auf seinem Laptop die Meldungen über das Feuer im Hafen sah. Wir versammelten uns um seinen Computer, um die Nachrichten zu verfolgen. Auf einmal hörten wir einen Ton, den ich bis jetzt nicht aus meinem Ohr bekomme. Ein verstörendes Geräusch, wie ein Flugzeug was viel zu niedrig fliegt.

Aufräumarbeiten in einer Kirche am Mittwoch.
Aufräumarbeiten in einer Kirche am Mittwoch.

© Joseph Eid / AFP

Dann kam die Druckwelle. Pures Chaos. Neben mir schmissen sich meine Freunde auf den Boden, überall waren Scherben, Staub lag in der Luft. Ein Mann neben mir hatte eine stark blutende Wunde am Bein. Beim genaueren hinsehen, sah ich, dass sein Bein offen war. Ich trug ein weißes Kleid und hatte nicht mal einen Blutspritzer abbekommen. Neben mir krochen die Menschen aus den Trümmern.

Mein erster Gedanke war, dass das Café bombardiert wurde. Ich konnte es mir nicht anders erklären. Ich war mir sicher, gerade einen Anschlag überlebt zu haben. Als erstes habe ich dann versucht, meine Freunde und Familie zu erreichen. Meine Freunde waren unglaublich besonnen, viele sind sehr strategisch vorgegangen.

[Mehr zum Thema: Wirtschaftskrise im Libanon – zur Wut gegen die Eliten kommt die pure Verzweiflung]

Ich hatte das Gefühl, dass alle wussten, wie sie jetzt handeln müssen. Sicherlich trug dazu auch der letzte Krieg mit Israel bei. Ich kann es immer noch nicht in Worte fassen, was mit Beirut an diesem Dienstagabend passiert ist. Die Stadt ist zerstört. Nicht nur die Viertel am Hafen, selbst in den entlegensten Bezirken sind die Schäden noch immens.

Wenn man sich überlegt, dass an vielen Hausfassaden Beiruts immer noch Einschusslöcher vom libanesischen Bürgerkrieg wiederzufinden sind, frage ich mich, wie lange es dauern soll, diese wundervolle Stadt wiederaufzubauen. Davon ausgehend, dass hinter der Explosion tatsächlich behördliches Versagen steckt, müssen die Verantwortlichen zur Konsequenz gezogen werden. Das ist ein Verbrechen am libanesischen Volk."

Alain Dargham, 35, Fernsehreporter

"Ich war mit meinem Kameramann auf dem Weg zur Unglücksstelle am Meer. Wir hatten die Nachricht bekommen, dass in der Hafenanlage ein großes Feuer ausgebrochen war und wollten so schnell wie möglich vor Ort sein, um für MTV Lebanon (libanesischer Nachrichtensender) live zu schalten.

Diese Bilderfolge zeigt verschiedene Stadien der Explosion.
Diese Bilderfolge zeigt verschiedene Stadien der Explosion.

© Gaby Salemen / AFP

Wir befanden uns auf dem Highway direkt neben dem Mittelmeer, als es zu der riesigen Explosion kommt. Ich dachte zunächst an ein Erdbeben, dann an die Israelis. Der letzte Krieg mit unserem südlichen Nachbarn liegt nicht lange zurück, die Bilder und Szenen vom Israelkrieg 2006 sind in den Köpfen vieler Libanesen noch tief verankert.

Der Knall der Explosion war das lauteste Geräusch was ich jemals gehört habe. Überall lag Schutt und zerbrochenes Glas, die ganze Stadt war in Staub und Rauch gehüllt. Ein verheerendes Bild.

Im Nachhinein danke ich Gott dafür, dass wir nicht ein paar Minuten früher vom Newsroom des Senders losgefahren sind. Sonst wären wir zu dem Zeitpunkt der gewaltigen Detonation direkt am Hafen gewesen und ich könnte diese Zeilen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr schreiben.

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Kurz nach der Explosion habe ich dann einfach nur noch funktioniert. Bis tief in die Nacht habe ich von dem Vorplatz eins völlig überfüllten Krankenhauses berichtet. Irgendwann wurden die eingelieferten Patienten nur noch auf dem Parkplatz behandelt, weil auf den Stationen kein Platz mehr war. Es war wie im Krieg."

Simona Baloghová, 28, slowakische Politikstudentin an der Lebanese University Beirut

"Während der Explosion hielt ich mich in meiner Wohnung in Ashrafieh auf, etwa drei Kilometer entfernt vom Unglücksort. Die Explosion war massiv. Ich saß gerade im Wohnzimmer, als es passierte. Sofort dachte ich, das Gebäude würde zusammenstürzen, also rannte ich auf die Straße.

Über der Stadt lag eine riesige, dichte, rote Staubwolke. Überall gesplittertes Glas, die meisten Häuser in meinem Umkreis waren komplett zerstört. Niemand hatte eine Ahnung, was vor sich geht. In meinem Apartment waren alle Fenster und Türen rausgesprungen, meine Einrichtung wurde durch die Gegend gewirbelt.

Am Tag nach der Katastrophe im Beiruter Parlamentsgebäude.
Am Tag nach der Katastrophe im Beiruter Parlamentsgebäude.

© Anwar Amro / AFP

In Whatsapp-Gruppen wurden unheimlich viele Gerüchte verbreitet, ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Niemand bereitet einen auf so eine Situation vor. Ich blieb zuhause und schlief ohne Fenster. Die Schäden sind für mich unbegreiflich: die Region um den Hafen liegt in Schutt und Asche.

Wir haben immer noch keine Elektrizität. Aber die Libanesen und Libanesinnen zeigen wie so oft Solidarität und stellen zum Beispiel ihre eigenen Wohnungen und Häuser zur Verfügung, um obdachlos gewordenen Menschen einen Schlafplatz zu bieten."

David Oryan, 28, Regisseur und Drehbuchautor

"Ich war im Auto auf dem Weg zu meinen Großeltern, die in den Bergen hinter Beirut wohnen. Ich sah das Feuer am Hafen, aber dachte mir nicht viel dabei. Natürlich war es ein großes Feuer, aber der Libanon ist schlimmeres gewöhnt.

Die Station des Radios, das ich immer höre, sitzt im Stadtteil Ashrafieh, nicht weit vom Hafen entfernt. Plötzlich hörte ich aus dem Radio einen unglaublich lauten Knall. Die Radiomoderatorin wurde mitten im Satz unterbrochen. Für einige Sekunden war es still. Dann sah ich in dem Himmel und den Pilz der Detonation. Wenig später spürte ich die Druckwelle.

Viele Häuser Beiruts wurden durch die Explosion massiv beschädigt.
Viele Häuser Beiruts wurden durch die Explosion massiv beschädigt.

© AFP

Es war verheerend. Ich dachte sofort an eine nukleare Eruption. Mein Leben zog an mir vorbei und ich dachte nur noch an meine Familie, an meine Mutter, meine Großmutter. Ich wollte sie nochmal sehen bevor ich sterbe. Das war mein einziger Gedanke.

Als mir klar wurde, dass ich unverletzt bin, fuhr ich so schnell wie möglich in die Berge, um meiner Familie Bescheid zu geben, dass ich lebe. Das Netz ist völlig zusammengebrochen. Anrufen konnte ich nicht. Meine einzige Nachrichtenquelle war das Radio.

Abends bin ich zurück nach Beirut gefahren. Seitdem habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Ich kann nicht raus. Ich kann nicht klar denken. Freunde von mir haben ihre Angehörigen verloren, ein Bekannter von mir ist schwer verletzt. Ich sitze den ganzen Tag nur zuhause.

Ich habe aufgehört mir die Sozialen Netzwerke anzugucken. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. In diesem Land zu leben, schmerzt nur noch. Wir sind auf einem Friedhof geboren, welcher sich Libanon nennt. Aber ich möchte hier nicht sterben, ich will nur noch weg."

Joachim Paul, 58, Leiter des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung

"Glücklicherweise haben wir alle das Büro bis 17.30 Uhr verlassen, also kurz vor der Explosion. Ich selber war zu dem Zeitpunkt in einem Einkaufscenter im Stadtteil Ashrafieh. Dort wurden die Inneneinrichtung und die Scheiben zerstört und Leute neben mir hatten leichte Verletzungen durch herumfliegende Glassplitter.

Zunächst dachte ich an eine explodierte Bombe im Einkaufszentrum. Da ich von einem Anschlag ausgegangen bin, habe ich – aus Angst vor einer weiteren Attacke - versucht der Gefahrenzone zu entkommen, aber da war kein Entkommen. Die Zerstörung war überall.

Ich bin schließlich nach Hause zu meiner Wohnung gelaufen, auch diese wurde komplett zerstört. Ich wohne direkt neben einem Krankenhaus, noch in der Nacht mussten die Patienten verlegt werden. Sechs Menschen des medizinischen Personals starben durch die Explosion.

Die Druckwelle war immens, selbst schwere Gegenstände flogen durch die Gegend. Heute früh begutachtete ich mit einer Kollegin unser Büro, welches ebenfalls stark verwüstet ist.

Zerstört. Die libanesische Flagge weht vor den Büros der libanesischen Elektrizitätsgesellschaft.
Zerstört. Die libanesische Flagge weht vor den Büros der libanesischen Elektrizitätsgesellschaft.

© Marwan Naamani/ dpa

Aber das sind nur physische Schäden. Die Menschen dagegen stehen alle unter Schock. Es ist die absolute Katastrophe oder besser gesagt eine Katastrophe in der Katastrophe.

Wir reden beim Libanon nicht nur von einer Krise, sondern von mehreren Krisenkomplexen: die politische Krise, die Finanzkrise und seit Frühling diesen Jahres auch noch die Corona-Krise. Und jetzt kommt die Katastrophe von Dienstag noch hinzu.

Hinter der Explosion steht vermutlich wie so oft Verwaltungs- und Behördenversagen. Solch eine Menge an hoch explosivem Material mitten in Beirut aufzubewahren, ist ein unfassbares Vergehen und ein weiterer Schlag ins Gesicht für die tausenden Libanesen und Libanesinnen, die seit Oktober 2019 gegen die Unfähigkeit ihrer eigenen Machtelite demonstrieren.

Das Land befindet sich in einer Schockstarre, aber die wird nicht ewig anhalten. Es wird noch laut werden."

Inga Hofmann, Julius Geiler, Fatima Abbas

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