zum Hauptinhalt
Menschen kommen am Dienstag zur Kathedrale, halten inne.

© Marcel Kusch/dpa

Nach dem Feuer in Notre-Dame: Wie der Brand Paris berührt

Die Menschen können es nicht fassen. Am Tag danach hält Paris immer wieder inne. Viele einzelne Schweigeminuten. Szenen aus einer trauernden Stadt.

Auch am Dienstagmorgen ist die Île de la Cité, die Seine-Insel, auf der sich Notre-Dame befindet, noch abgesperrt. Polizisten versuchen, Autoverkehr und Fußgängerströme in Einklang zu bringen, die Situation ist etwas chaotisch – zu eng sind die Bürgersteige hier am Südufer, zu viele Menschen sind unterwegs, auch weil zwei U-Bahnstationen in der Gegend wegen des Brandes in der vergangenen Nacht nicht bedient werden. Viele Menschen machen sich zu Fuß auf den Weg zur Arbeit und nehmen sich einen Moment, um Notre-Dame, die Kathedrale, die nun ohne Dach und Spitze, dafür mit halb eingestürztem Baugerüst dasteht, zu betrachten und Fotos zu machen.
Eine von ihnen ist Muriel Taupin, sie wohnt ganz in der Nähe im Quartier Saint-Michel und kommt auf dem Weg zur Arbeit häufig an der Kirche vorbei. „Im Vergleich zum Eiffelturm strahlt Notre-Dame so eine Ruhe aus“, sagt sie. „Ich kann nicht fassen, dass es für die Kathedrale kein Feuerschutzkonzept gegeben hat. Immerhin gibt es da jeden Tag viele Besucher, die auch Kerzen anzünden.“ An der Seite des Kirchenschiffes, über dem Bogen eines Rosettenfensters, sieht man die Spuren ganz deutlich. Rußschlieren ziehen sich am Gemäuer hoch.

„Als ich aufgewacht bin, hatte ich Angst, dass über Nacht noch mehr kaputtgegangen ist.“ Im Innenraum war Muriel Taupin zuletzt im Herbst, bei gutem Wetter sitzt sie gern auf dem Platz davor, mit Blick auf die zwei Türme, die gerade von Einsatzkräften auf Hebebühnen in Augenschein genommen werden. Taupin ist glühende Pariserin. Und Saint-Michel, das Viertel gleich südlich von Notre-Dame, sei das schönste der ganzen Stadt. „Alle verreisen, aber ich finde, es ist nirgends so toll wie hier.“

Sie wird die Kirche nie mehr so sehen, wie sie war

Sie wünscht sich, dass genau aufgeklärt wird, ob bei den Reinigungsarbeiten am Dach Fehler gemacht wurden, die zum Ausbruch des Feuers führten – und dass alles getan wird, um Notre-Dame wieder aufzubauen. Sie sieht die Situation düster. „Ich glaube nicht, dass ich Notre-Dame in meinem Leben nochmal genauso sehe, wie es war. Das wird Jahrzehnte dauern.“ Muriel Taupin ist 47 Jahre alt.

Als das Feuer ausbrach, war Jackie Gibson gerade dabei, ihr Café am Quai de Montebello zu schließen. Sie sah die ersten Rauchschwaden aufsteigen, bald kamen die ersten Rettungswagen an, die glücklicherweise kaum gebraucht wurden. „Dann hat es noch eine gute Dreiviertelstunde gedauert, bis die ersten Feuerwehrkräfte da waren.“ Der Feierabendverkehr in diesem Teil von Paris ist legendär nervenaufreibend, Gibson nimmt an, dass es daran lag, dass die Löschfahrzeuge nicht schneller durchgekommen sind. „Als die Flammen später auch aus den unteren Fenstern des Kirchenschiffs zu sehen waren, habe ich geweint.“ Bis 23 Uhr ist sie geblieben, da war das Feuer noch nicht gelöscht, aber sie musste endlich ihren kleinen Sohn ins Bett bringen.

Kurz nach Mitternacht in der Brandnacht auf dem Pont au Change, einer der vier Brücken, die das Nordufer der Seine mit der Île de la Cité verbinden. Rosa-Ly Chave steht mit Dutzenden anderen hinter den Absperrgittern, die Polizisten aufgebaut haben. „Die Kathedrale war schon immer da“, sagt sie, „sie hat alles überstanden, und jetzt das“. Gleich nach Feierabend ist Chave aus dem Palais de Tokyo, dem Museum für moderne Kunst, hergekommen. Getrieben vom Drang, mit eigenen Augen zu sehen, was sich seit kurz vor 19 Uhr am Montagabend durch alle sozialen Netzwerke, über Nachrichtenwebseiten, Gespräche beim Bäcker, mitgehörte Telefonate in der Métro verbreitete. Hast du gehört? Ja, ich hab’s gesehen, incroyable, unglaublich.

Eine Frau stimmt „Ave Maria“ an

Einheimische und Touristen kommen zielstrebig auf die Brücke, unterbrechen ihren Weg durch die Nacht, obwohl gleich die letzte Métro fährt. An dieser Stelle sind es vielleicht 150, 200 Leute. Rund um die Insel gibt es diese Orte, wo Menschen stehen bleiben. Es ist seltsam still. Und Notre-Dame in Flammen.

Die Blicke gehen rüber zu den zwei wuchtigen gotischen Kalksteintürmen, die ein paar hundert Meter entfernt zwischen herrschaftlichen Fassaden zu erahnen sind. Eine Frau stimmt „Ave Maria“ an, liest den Text vom Handy ab. Wer kann, stimmt mit ein. Kamerateams halten fast dankbar drauf. Ein Mann bläst auf seinem Horn ein paar schiefe Töne, lässt es bald wieder sein, untröstlich. Improvisierte Trauer.

„Es sieht so anders aus, so ungewohnt“, sagte Rosa-Ly Chave und zeigt dorthin, wo bis zum Abend noch die 96 Meter hohe, filigrane Spitze aus dem Dach ragte. Der eingestürzte Vierungsturm, der – und das ist eine besondere Tragik an diesem Tag – einer Sanierung unterzogen werden sollte. Aufs Kirchdach gesetzt im 19. Jahrhundert während einer damals gerade noch rechtzeitig begonnenen Renovierung der Kathedrale, von Eugène Viollet-le-Duc, dem Retter Notre-Dames.

Rosa-Ly Chave, 31 Jahre alt, stammt aus Südfrankreich, Paris besuchte sie das erste Mal als Kind mit ihren Eltern, die sie gleich auf die Île de la Cité mitnahmen. Die Stadtinsel ist der älteste Teil von Paris, seine Keimzelle, und Notre-Dame gilt vielen als das Herz – nicht nur der Stadt, sondern des ganzen Landes. Auf dem Platz vor dem Haupteingang befindet sich heute der „Kilomètre zéro“, der Nullpunkt der Stadt, von dem aus Paris seine Entfernungen in die Welt misst. Zentraler geht es nicht.

Aus dem Inneren der Kathedrale konnte die Feuerwehr einige Kunstschätze, darunter die Dornenkrone Jesu retten.
Aus dem Inneren der Kathedrale konnte die Feuerwehr einige Kunstschätze, darunter die Dornenkrone Jesu retten.

© Reuters/Philippe Wojazer/File Photo

Die Dornenkrone ist gerettet

Dieses Herz mit seinen zwei großen Kammern, den beiden monumentalen Türmen, ist wenige Stunden nach Ausbruch des Feuers kaum zu erkennen, hier und da zucken die Lichtkegel der Einsatzkräfte über die Fassade. Drüben wird unter Hochdruck gerettet, was zu retten ist, hier auf der Brücke wird gehofft, getrauert, gebetet.

Die Dornenkrone ist in Sicherheit – sie ist eine der wichtigsten Reliquien der katholischen Kirche, angeblich soll Jesus Christus sie bei seiner Kreuzigung getragen haben. Die Flammen haben den Kirchenschatz nicht erreicht.

Die kleinere der beiden Orgeln, 1969 erbaut, konnte auch gerettet werden. Die Hauptorgel, aus dem 19. Jahrhundert stammend und als eine der größten der Welt geltend, sei „beschädigt“, sagt Vizebürgermeister Emmanuel Gregoire, „aber insgesamt noch intakt“.

Berichte zum Zustand der drei kreisrunden Rosenfenster aus dem 13. Jahrhundert gehen auseinander. Sie gehören zu den wichtigsten Glasmalereien der Welt. Filmaufnahmen lassen vermuten, dass zumindest das größte und prächtigste aus dem nördlichen Querschiff unversehrt blieb.

Auch von den Ölgemälden in der Kathedrale – zu den wichtigsten zählen „Thomas von Aquin am Brunnen der Weisheit“ von Antoine Nicolas und „Heimsuchung Mariä“ vom französischen Maler Jean Jouvenet – konnten viele in Sicherheit gebracht werden. Welche genau ist bisher allerdings unbekannt. Einige sollen Wasserschäden aufweisen.

Sie war ein Symbol der Beständigkeit

Notre-Dame, 130 Meter lang, 50 Meter breit und bis zu 69 Meter hoch, besucht von bis zu 14 Millionen Menschen jährlich, der Grundstein wurde 1163 gelegt, ist ein Symbol der Beständigkeit im krisengeschüttelten Frankreich. War ein Symbol der Beständigkeit.

Und Notre-Dame ist ein Wirtschaftsfaktor, das darf man nicht vergessen, sagt Chave und nickt rüber zu ihrer Kollegin Celia Bachmann, die nicht so viele Worte findet. Dabei hat sie sonst jede Menge zu erzählen, wenn es um Notre-Dame geht. Regelmäßig führt sie deutsche Touristen rund um die Kirche. Wer weiß, sagt sie, wie lange es dauern wird, bis man die berühmten, leuchtend blauen Rosettenfenster wieder von innen wird sehen können? „Ewig“, sagt ein Mann in Deutschland am Telefon. Er heißt Stephan Albrecht, ist Kunstgeschichtsprofessor an der Universität Bamberg und hat gerade ein drei Jahre dauerndes Forschungsprojekt zur Kathedrale abgeschlossen. Er hat das Querhaus der Kathedrale vermessen, Oberflächen analysiert, Farben. Insgesamt beschäftigt er sich seit einem Jahrzehnt mit ihr.

Vor zwei Wochen hat er sie zum letzten Mal besucht, er ist auch immer wieder oben im Dachstuhl gewesen, „der war sensationell“. Eichenstämme, 1300 Stück, eingebaut um das Jahr 1220 herum. Albrecht sei immer wieder überrascht davon gewesen, „wie viel Mittelalter da noch drin war“.

800 bis 1000 Grad Celsius heiß

Eiche hat von den einheimischen Hölzern den höchsten Brennwert. Pro Volumeneinheit liefert es die meiste Energie, brennt also besonders heiß. Und darüber ein Dach aus Blei, 210 Tonnen schwer. Blei schmilzt bereits bei Temperaturen von gut 300 Grad Celsius. Es ist brennbar. „Das tropft dann runter“, sagt Albrecht. Heruntertropfendes, hoch erhitztes Blei kann ebenfalls zur Ausbreitung des Feuers beigetragen haben. Im Dachstuhl soll es zwischen 800 und 1000 Grad Celsius heiß gewesen sein.

Erst am Dienstag konnte das Feuer vollständig gelöscht werden.
Erst am Dienstag konnte das Feuer vollständig gelöscht werden.

© REUTERS/ B.MOSERÂBSPP

Noch in der Nacht zum Dienstag hat die gemeinnützige Fondation du Patrimoine eine Spendenaktion gestartet, weitere Aufrufe und Crowdfunding-Kampagnen kamen schnell dazu. Milliardärsfamilien haben Millionen versprochen. „Ich würde auch spenden, selbst, wenn es nur fünf Euro sind“, sagt Rosa-Ly Chave und zieht ihr Handy aus der Tasche, zeigt Drohnenbilder vom Abend. Notre-Dame aus der Vogelperspektive: Ein brennendes Kreuz mitten in der Stadt. „Und das jetzt, in der Karwoche. Für gläubige Freunde von uns, die wir vorhin zufällig getroffen haben, ist das wirklich ein schwerer Moment.“ Chave und Bachmann sind auch katholisch getauft, in ihrem Leben spiele das aber keine Rolle. „Was mit Notre-Dame passiert ist, berührt jeden.“

Am nächsten Morgen. Die Cafébetreiberin Jacki Gibson ist zurückgekommen, sie steht vor der Tür, den Kleinen auf dem Arm, während ihre Mitarbeiter drinnen Croissants und Kaffee über die Theke reichen. Die meisten Gäste an diesem Vormittag sind Journalisten, Kameraleute.

„Wir werden eine Woche weinen“

Für die Amerikanerin Gibson ist die Notre-Dame nicht nur das wichtigste Pariser Monument, sondern auch Existenzgrundlage – die ikonische Frontansicht mit den zwei Türmen taucht im Logo ihres Cafés auf. Viele Gäste setzen sich gerade deshalb an die kleinen Tische vor der Glasfront, weil man von hier einen guten Blick auf den Sakralbau hat. „Es war komisch, Angst um diese Kirche zu haben und sich zugleich zu fragen, was aus uns wird, sollte sie einstürzen.“ Die Türme haben gehalten, ein Großteil der Fassade auch.

Unten am Wasser ist es voller als sonst. Am frühen Dienstagnachmittag klappen die Bouquinistes ihre dunkelgrünen Metallstände mit den alten Büchern, Comicheften und Schallplatten auf, als ob nichts gewesen wäre. Einheimische schieben Fahrräder über den engen Bürgersteig, haben Aktentaschen in der Hand und schauen mit halboffenen Mündern rüber zur Kathedrale, ihrer Kathedrale. Das „Notre“ im Namen fühlt man heute mehr als sonst. Viele bleiben für einen Moment stehen, lauter einzelne Schweigeminuten. „Wir werden eine Woche weinen, und dann wird es eben weitergehen“, sagt ein Mann in sein Handy.

Ähnlich nüchtern sieht es Djabar Mohallebi, der sein Taxi seit sieben Jahren durch das Pariser Straßennetz navigiert. Auf seinem Handy zeigt er ein Video von Montagabend, es war ein schöner Sonnenuntergang in Pastelltönen, als Notre-Dame Feuer fing und sich der gelbe Qualm in den Himmel bohrte. „Sieht aus wie Spezialeffekte in einem Film, oder?“ Er könne sich sogar vorstellen, dass die Nachrichten, die nun um die Welt gingen, der Kathedrale noch mal mehr Aufmerksamkeit und vielleicht auch Besucherströme bescheren. „Die Leute wollen sehen, wie die Kirche nach dem Brand aussieht.“ Vielleicht, sagt er noch, spreche man in Zukunft nicht mehr über den Glöckner, sondern das Feuer von Notre-Dame. Für ihn hat sich schon etwas geändert: Wenn er aus Richtung des Centre Pompidou auf die Kathedrale zufährt, kann er nun die Kuppelspitze des 1758 erbauten Panthéon sehen. Das Dach von Notre-Dame hatte sie verdeckt. Schon immer.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false