zum Hauptinhalt
Gegen den Strich. 2020 ist vieles anders: Herz des Musikfests sind Gastauftritte internationaler Spitzenorchester. Jetzt wird es ein Heimspiel für die Berliner Ensembles.

©  Jens Kalaene/dpa

Musikfest Berlin 2020: "Es ist ein Erlebnis des Hörens"

Am Dienstag beginnt in der Philharmonie das Musikfest mit reduziertem Programm. Leiter Winrich Hopp über die Folgen der Krise für die Klassik, das Denkmal Beethovens und innovative Ensembles.

Herr Hopp, wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?

Teils ratlos, teils zuversichtlich. Ich finde es beachtlich, wie Akteure in Politik oder Medizin in dieser komplexen Gemengelage von Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu gesamtgesellschaftlich getragenen Entscheidungen kommen. Eine Ahnung, wie Konzertbespielung aussehen könnte, habe ich kurz nach dem Lockdown beim Besuch einer Drogerie bekommen: relativ viel Personal, um Clusterbildung bei den Kunden zu vermeiden, Plexiglasscheiben an den Kassen. Inzwischen sehe ich auf das Veranstalten mit neuen Augen. Was früher mit Selbstverständlichkeit organisiert wurde, ist jetzt in Einzelschritte zerlegt, die mir zuvor nicht so bewusst gewesen sind.

Wann stand fest, dass das Musikfest in abgespeckter Form stattfinden würde? 

Daran geglaubt habe ich immer. Mit dem Europakonzert der Berliner Philharmoniker zeichneten sich die ersten konkreten Möglichkeiten ab. Wir haben von der Arbeit der Stiftung Berliner Philharmoniker profitiert, die ja längerfristige Lösungen für viele Partner finden musste. Da ist in kurzer Zeit Großartiges geleistet worden.

Wird die Coronakrise die klassische Musikszene langfristig verändern?

Es betrifft ja nicht nur die sogenannte klassische Szene, sondern die Musik und die performativen Künste insgesamt. Sie leben von der Ensemblebildung, und die Coronakrise trifft sie ins Mark. Musik wird von Ensembles gemacht.

Und von Ensembles gehört.

Ja, auch das Publikum ist ein Ensemble. Musik entsteht durch gemeinschaftliches Agieren, ist ein Fest der Simultanität und Synchronizität. Im französischen ensemble („zusammen“) steckt das lateinische insimul („zugleich“). Musiker generieren Sounds von irrsinniger Qualität, opak oder glänzend, indem sie in einem Millisekundengefüge präzise beieinander sind. Diese Qualität ist bedroht, wenn ein Ensemble sich aufgrund zu großer Distanzen atomisieren muss.

Winrich Hopp
Winrich Hopp

©  Berliner Festspiele/Christoph Neumann

Und der Festspielgedanke? Wie passen Abstandsregeln und das gemeinschaftliche Erleben von Musik zusammen?

Wir sind ja gerade alle um 75 cm breiter geworden. Die 1,50 Meter bilden zwei Menschen gemeinsam. Sie geben 75 cm, ich 75 cm. Nachdem ich mir das klargemacht hatte, konnte ich meinen Frieden mit der Situation machen. Ein gemeinsam gebildeter Abstand ist schon ein Schritt hin zu seiner Überwindung. Diese Situation ist in jedem Fall tragfähiger und fruchtbarer als ein Ensemble, das eng beieinandersteht, aber heillos zerstritten ist. Musik hat viel mit Soziologie zu tun. Als Student war das Auftreten von Aids für mich ein unglaublicher Einschnitt. HIV ist bis heute nicht aus der Welt geschafft, wir haben gelernt, damit zu leben. Ich hoffe, wir kommen auch im Fall von Corona zu lebbaren gesellschaftlichen Formen.

Worauf mussten Sie bei der Neukonzipierung des Programms verzichten?

Den Verlust spüre ich nicht mehr – nur, wenn ich das alte Programm ansehe. Deshalb schaue ich nicht mehr rein (lacht). Weggefallen sind natürlich vor allem die großen Gastspiele aus dem Ausland: Concertgebouw, Academia di Santa Cecilia, Orchestre Révolutionnaire et Romantique, das große Projekt von Heiner Goebbels. Trotzdem wollten wie so viel erhalten wie möglich, auch als Statement: Wir lassen die Künstlerinnen und Künstler nicht im Stich. Also treten alle Berliner Orchester auf, geben ein Statement fürs Musikmachen, für unsere Musikkultur ab. Auch Daniel Barenboim, der ursprünglich terminlich nicht frei war, ist jetzt mit der Staatskapelle und den drei letzten Mozart-Symphonien dabei. Darüber freue ich mich sehr.

Mozart wirkt ein bisschen wie ein Fremdkörper in diesem Programm.

Überhaupt nicht. Wir haben die zweite Wiener Schule mit Berg und Webern und Wiener Klassik, also Haydn, Beethoven – und Mozart. Der gehört dazu. Zeitgenossen nannten seine letzten drei Symphonien einen „Triumph der neueren Tonkunst“. Seine Musik in dieser Corona-Zeit zu hören, ist wunderbar. Bei Beethoven habe ich mich im Jubiläumsjahr gefragt: Was wäre ihm heute wichtig? Natürlich würde er sagen: „Unterstützt bitte die Gegenwartsmusik. Macht was. Macht was für mein Komponieren. Tut was für mich.“ Deswegen war es naheliegend, die heutige aktive Komponistengeneration zu porträtieren, die mit den großen internationalen Bühnen Erfahrung hat, aber bislang in der Philharmonie nicht wirklich präsent ist. Wie Rebecca Saunders, die 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis bekommen hat. Wir haben Ensembles und Solisten eingeladen, mit denen sie ihre Musiksprache entwickelt hat: Klangforum Wien, Ensemble Musikfabrik, der Trompeter Marco Blaauw. Denn die Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist vor allem von Ensembles geschrieben worden.

Das müssen Sie erklären.

Ich meine Vereinigungen, die insbesondere Komponisten gegründet haben, um ihre Werke aufzuführen. Die die Entstehung der Werke eng mit der Aufführung zusammendenken. Das begann schon 1918 mit Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“. Pierre Boulez hat daran in den 50er Jahren mit der Konzertreihe „Domaine musical“ angeknüpft, Karlheinz Stockhausen rief mehrere Ensembles ins Leben, auch Mauricio Kagel für seine musiktheatralischen Projekte, bei denen Musiker und Musikerinnen schauspielerisch agieren mussten. Wolfgang Rihm hat eng mit dem Ensemble 13, dem Ensemble Recherche oder dem Ensemble Modern zusammengearbeitet. Inzwischen sitzen auch viele Musiker dieser Ensembles in den Orchestern.

Im 19. Jahrhundert gab es dieses Phänomen noch nicht?

Da hat man vor allem gesungen. Der Chor war das Basisensemble musikalischer Bildung und Erfahrung. Interessant für uns ist die Instrumentationslehre von Berlioz. Da gibt es am Ende die megalomane Fantasie eines Riesenorchesters mit 1000 Mitgliedern. Er wollte über eine wahnsinnige Klangfarbenpalette verfügen zu einer Zeit, als es noch keine Elektronik gab. Da ist der Ensemblegedanke vorgeprägt.

Charakterisieren Sie für uns die Musik von Rebecca Saunders.

Sie kann das Geräusch-Klang-Kontinuum – das ja stimmlich verstanden nichts anderes ist als das Kontinuum von Vokal und Konsonant – expressiv ausgestalten wie kaum jemand vor ihr. Von absoluter Stille über Luftrauschen bis zur Artikulation eines klaren Tons ist jeder Moment von einer unglaublichen Expression besetzt. Stille ist für sie die Leinwand, auf der sie arbeitet und akustische Bilder entwirft. Als würden Klänge in Fäden hineingewoben sein. Das hat eine ganze andere expressive Spannkraft als bei Beethoven, der ja in seinem symphonischen Werk dieses impulsive Moment hat, das traditionell gerne als musikalische Willensäußerung gedeutet wird.

Was lässt sich heute noch Neues zu Beethoven erzählen?

Vielleicht nicht gleich erzählen, aber erfahren. Erfahrung hat ja etwas mit Überraschung zu tun. Wer überrascht ist, ist erst mal sprachlos, sucht Worte, eine Erzählung. Setzen wir darauf, dass Igor Levit uns überraschen wird. Wer ist schon mit allen 32 Klaviersonaten vertraut? Mit der Vierten und Achten Symphonie? Die Allbekanntheit gilt nur für wenige Stücke ...

... im Grunde sogar nur für einzelne Takte.

Ja. Oder nehmen Sie Platon oder Goethe. Namen, die in aller Munde sind. Aber suchen Sie mal jemanden, der das auch gelesen hat. Man meint, mit dem Namen schon die Sache zu haben. Hat man aber nicht. In der Musik ist es auch so. Die Frage ist doch: Nutzt man das Beethovenjahr, das leider jetzt unter Corona regelrecht zerbröselt ist, um das Denkmal, auf dem er steht, noch höher werden zu lassen? Oder nimmt man sein Werk, um etwas für die Musik unserer Zeit zu tun? 

[ Das Gespräch führte Udo Badelt. In der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker und auf der Webseite der Berliner Festspiele werden 19 Konzerte live oder zeitversetzt gestreamt. Winrich Hopp (58) hat in Freiburg Musikwissenschaft und Philosophie studiert. Er hat über Karlheinz Stockhausen promoviert. Seit 2006 ist er Künstlerischer Leiter des Musikfests Berlin.]

Zum Jubiläumsjahr 1970 drehten Kagel und Joseph Beuys den Film „Ludwig van“, Stockhausen initiierte das Projekt „Stockhoven – Beethausen Opus 1970“. Wie setzen sich Komponistinnen und Komponisten heute mit Beethoven auseinander?

Das waren 1970 köstliche Sachen, humorvoll. Sie entstanden teils aus einem kritischen Gestus heraus, aus dem Bedürfnis, sich distanzieren zu müssen. Das wirkt für uns heute etwas zeitverhaftet. Die heutige Generation, Rebecca Saunders, Milica Djordjevic oder Enno Poppe, hat mit der Nachbarschaft Beethovens überhaupt kein Problem mehr. Es ist nicht so, dass Saunders sich auf Beethoven bezieht. Aber ich glaube, sie schätzt die Nachbarschaft seiner Musik im Programm. Die Komponisten und ihre Musik treten in unseren Köpfen in eine imaginäre Verbindung. Es ist ein Erlebnis des Hörens.

Alle Konzerte finden in der Philharmonie statt, mit einer Ausnahme: der 14. 9. im Zoo Palast. Wie kam es zu diesem Abend?

Künstler bewegen sich weniger in einem historischen Raum als in einem eigenen Kosmos künstlerischer Beziehungen. Bei Rihm etwa kann man Gesualdo, Richard Strauss, Brahms oder Stockhausen assoziieren. Diese Verbindungen hat es historisch im Sinne einer Entwicklung gar nicht gegeben. Zum Kosmos von Rebecca Saunders zählt Samuel Beckett, seine Werke sind ein Auslöser ihrer Musik. So waren wir plötzlich in einem Konzertformat, bei dem Visualität und Film mit reinkommt. Denn Beckett hat beim SDR drei wunderbare Filme gemacht, darunter „Ghost Trio“. Dann sagte mir Rebecca, dass sie die Musik zu einem Film von Gerhard Richter geschrieben hat. Nun treffen Saunders, Beckett, Richter und Beethoven im Zoo Palast aufeinander. Wenn das so nach allen Seiten hin explodiert, weiß ich, dass die Dramaturgie fruchtbar wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false