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Fashion Week: Die Trendsetter aus Belgien

Im belgischen Antwerpen leben und arbeiten einige der angesehensten Designer der Welt. Viele von ihnen sind in dieser Woche in Berlin.

Da steht sie, mitten in der Kirche Sint-Andries im Zentrum von Antwerpen: eine Madonna im Kleid von Ann Demeulemeester. Die Figur aus dem 15. Jahrhundert trägt seit einigen Jahren dieses bodenlange, schwarz-weiße Kleid mit Federkragen und langen goldenen Ärmeln. Hochgeschlossen natürlich, aber definitiv nicht von der Stange. Es war die Stadt selbst, die Ann Demeulemeester, eine der berühmtesten Modedesignerinnen Belgiens, damit beauftragte, die Madonna neu einzukleiden. Was in anderen Städten vielleicht Empörung auslösen würde, erscheint in Antwerpen ganz normal. Hier dreht sich alles um Mode.

Ein kurzer Rundgang durch die zweitgrößte Stadt Belgiens reicht, um das zu verstehen. Etwas verschlafen wirkt Antwerpen, Mitte Januar hängt die Weihnachtsdekoration noch. Trotz der 500 000 Einwohner ist das Zentrum kompakt wie in einer charmanten Kleinstadt. Grau ist der Himmel, es nieselt leicht, aber penetrant, vom Hafen an der Schelde fegt ein unangenehmer Wind durch die schmalen Gassen der Altstadt – das Wetter ist typisch belgisch. Es lädt dazu ein, sich in den zahlreichen Geschäften aufzuwärmen, wie es sie derart geballt in wenigen anderen Städten gibt. Wie ein großes Freiluft-Einkaufszentrum präsentiert Antwerpen Filippa K neben G Star Raw, Noa Noa neben Diesel und Strenesse, Prada, Louis Vuitton... Und natürlich die belgischen Designer, die fast alle hier geblieben sind, wo sie ausgebildet wurden, an der Königlichen Akademie, einer der besten Modeschulen der Welt: Ann Demeulemeester, Dries Van Noten, Walter Van Beirendonck und Dirk Bikkembergs.

„Es ist ein Phänomen, dass in einer flämischen Kleinstadt drei bis vier der wichtigsten Designer der Welt wohnen und arbeiten“, sagt Stephan Schneider. Der Duisburger graduierte 1994 in der belgischen Hafenstadt und lebt bis heute dort, auch wenn er nun drei Tage in der Woche an der Berliner UdK unterrichtet. Man riet ihm damals zum Bleiben. „Hier hatte sich bereits eine Modekultur entwickelt“, sagt er. Die Mieten waren günstig, die Vorbilder zahlreich. „Wir sahen Dries Van Noten und dachten: Wenn er das geschafft hat, dann schaffen wir es auch.“

Dries Van Noten ist einer jener Pioniere, die Antwerpen zu dem gemacht haben, was es heute ist. 1988 mieteten sechs ehemalige Modestudenten der Akademie gemeinsam einen Lastwagen, um ihre Kollektionen bei der Londoner Fashion Week zu zeigen. Gefeiert als die „Antwerp Six“ kamen Dries van Noten, Walter Van Beirendonck, Ann Demeulemeester, Dirk Van Saene, Dirk Bikkembergs und Marina Yee zurück. Gefeiert vor allem wegen ihrer Individualität. Sei es die bunt-flippige Ästhetik eines Walter Van Beirendonck oder das orientalisch angehaucht Bäuerliche eines Dries Van Noten. Sie veränderten auch das von Paris geprägte Frauenbild, das damals vor allem hieß: chic, bourgeois, Madame. Die Belgier zogen ihnen Wickelröcke an und Gummistiefel mit Blockabsatz. „Sie haben gezeigt, dass eine Frau nicht nur Madame sein kann, sondern auch Metzgerin“, sagt Schneider.

Im Vergleich dazu ist seine eigene Mode sehr schlicht, klassisch, überwiegend in Blau- und Grautönen gehalten. Schneider verkauft sie seit 15 Jahren in einem kleinen, charmanten Laden in einer Seitenstraße nahe der Liebfrauenkathedrale – nur ein paar Meter vom pompösen „Modepalast“ Dries Van Notens entfernt. Dort beginnt der klassische Moderundgang durch die Stadt. Ein Abstecher in den schrillen Garagenverkauf von Walter Van Beirendonck, mehr Galerie als Geschäft, bevor der Spaziergang zwangsläufig an der Nationalestraat entlangführt, die im 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der Pariser Boulevards entstand. Immer begleitet von der schmuddeligen Straßenbahn führt Antwerpens Hauptstraße der Mode hinunter bis zu Ann Demeulemeesters puristisch eingerichtetem Ausstellungsgeschäft gegenüber des Königlichen Museums für Schöne Künste. Das alles ist locker in zwanzig Minuten geschafft.

Im schönsten Gebäude der Nationalestraat ist 2002 mit der „Modenatie“ die Mode in all ihren Facetten eingezogen. „Die Idee war, die Hauptakteure in einem Gebäude zu vereinen“, erklärt Edith Vervliet. Die Direktorin des Flanders Fashion Institut (FFI) hat ihr Büro im dritten Stock der Modenatie, gleich neben der Direktorin des Modemuseums und der Bibliothek. Direkt darunter liegt die Ausstellung des Museums, das jährlich rund 80 000 Besucher anzieht und momentan die Hüte des Briten Stephen Jones zeigt. Und unter dem Dach, hinter verschlossenen Türen, die alle Nicht-Studenten ausschließen, sitzt die exklusive Kreativität der Modeabteilung, der 1663 gegründeten Königlichen Akademie für Schöne Künste – die heute von Walter Van Beirendonck geleitet wird.

Weil für Karriereplanung im strikten Stundenplan der Modestudenten kein Platz ist, wurde 1998 das FFI gegründet, das heute vor allem ein Jobcenter für die Modebranche ist. „Wir helfen jungen Leuten, Jobs oder Praktika zu finden“, sagt Edith Vervliet, die das Institut seit 2006 leitet. „Und sie können hier lernen, ihre eigene Kollektion zu starten, Businesspläne zu erstellen und Investoren oder Banken zu finden.“

Das nämlich kommt in der Ausbildung der Akademie viel zu kurz, findet Vervliet. Viele befürchten, die goldene Zeit Antwerpens könnte vorbei sein. Nach den „Antwerp Six“ folgte eine Generation mit A.F. Vandevorst, Bernhard Wilhelm, Veronique Branquinho und Raf Simons, die noch einmal fast genauso erfolgreich waren. „Anfang des Jahrhunderts kamen die wichtigen Leute zur Abschlussmodenschau der Akademie, weil sie fast jedes Jahr einen Weltstar hervorbrachte. Das ist heute nicht mehr so“, sagt Stephan Schneider. Die nächste Generation lässt schon einige Jahre auf sich warten, „die Schule muss sich weiterentwickeln“. An der Akademie wird immer noch am Zeichentisch unterrichtet, ohne neue Medien. Auslandaufenthalt und Praktikum sind unerwünscht, die Studenten leben in ihrer eigenen Welt.

Edith Vervliet glaubt, dass das zum Problem werden könnte. Ein eigenes Label gilt unter den Studenten nicht mehr als das Nonplusultra. „Viele wollen heute lieber bei kommerziellen Marken arbeiten“, sagt Edith Vervliet. „Dafür müssen sie die neuen Technologien lernen.“ Die Akademie aber hält entgegen, dafür sei in der dreijährigen Ausbildung keine Zeit. Schon jetzt brechen jedes Jahr mehr als 50 Prozent der Studenten die Ausbildung ab, weil die Akademie eiskalt aussortiert. Wer nicht überzeugt, wird nicht mehr gefördert und gibt früher oder später auf. Stephan Schneider fing mit 80 Studenten an, am Ende waren es nur noch acht.

Das FFI versucht die Lücke zu füllen. Zweimal jährlich wählt das Institut Nachwuchsdesigner aus, die in Paris im belgischen Showroom zeigen dürfen. Die Legende, dass belgische Labels so erfolgreich sind, weil der Staat sie finanziell unterstützt, bringt in Antwerpen viele zum Lachen. „Unsere Möglichkeiten sind sehr limitiert“, sagt Edith Vervliet.

Doch wenn es das Geld nicht ist, was ist es dann, das eine flämische Kleinstadt zu einer der wichtigsten Modeproduzenten der Welt hat werden lassen? Für Stephan Schneider ist es die Mischung aus Extravaganz und Alltag. „Antwerpen ist wie ein Dorf, in das man sich zurückziehen kann, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen.“ Hier gibt es noch den Schraubenladen anstelle des Baumarkts. Auch Mode wird als Handwerk begriffen. „Viele Designer produzieren noch selbst, um die Kontrolle nicht zu verlieren“, sagt Schneider. Er selbst designt 80 Prozent seiner Stoffe, lässt alles in Belgien produzieren. Mode hier ist nicht nur Avantgarde, sie ist vor allem bodenständig und tragbar – auch für den Mittelstand, darauf legen belgische Designer viel Wert.

Was sie aber keinesfalls wollen, ist eine Fashion Week, wie es einst die Idee des FFI war. „Das wäre völlig unnötig“, sagt Filip Arickx vom Label A.F. Vandevorst, das am Mittwoch die Berliner Modewoche eröffnet hat. „Von hier bist du in zwei Stunden in Paris. Wir wollen dort groß präsentieren, aber hier in Ruhe arbeiten.“

Und trotzdem sind sie sich alle einig: Aus Berlin könnte etwas werden. Zwar kein zweites Paris, doch „wir spüren eine tolle Energie in Berlin“, sagt Arickx. Es scheint, als wäre ganz Antwerpen derzeit in Berlin. Edith Vervliet verhandelt mit Fashion-Week-Veranstalter IMG über eine mögliche Zusammenarbeit der Berliner Fashion Week mit belgischen Talenten. Kaat Debo tut das bereits. Die Direktorin des Modemuseums hat mit Mercedes Benz die Ausstellung „Recollection Quartett“ organisiert, bei der belgische Designer wie Bernhard Willhelm alte Automodelle neu gestaltet haben.

Und Stephan Schneider ist nun ohnehin regelmäßig in der Stadt. Seit 2007 ist er Professor für Modedesign an der UdK. Jetzt, wo sein Label etabliert ist, suchte er nach einer neuen Herausforderung. „Ich will die UdK zu einer internationalen Modeschule machen, die beste Deutschlands mindestens und darüber hinaus“, sagt er. „In Berlin geht es gerade erst los.“

Dafür will Schneider sein Know-How aus Antwerpen in moderne Methoden übersetzen. Damit irgendwann genauso viele namhafte Designer aus Berlin kommen, wie einst aus Antwerpen.

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