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Zu dieser Haarskulptur wurde Le Mindu auf einem Paris-Trip durch die Silhouetten von Cardin und Courrèges inspiriert. Doch wo traf er die bärtige Dame?

© Raffaele Cariou

Der Haarkünstler Charlie Le Mindu: Baby, schüttel dein Haar für mich

Charlie Le Mindu war der Spezialist für Lady Gagas Perücken und färbte die Haare von Florence Welsh rot. Jetzt hat er Kostüme für das Staatsballett entworfen.

Wer Charlie Le Mindu in die Augen schaut, ist irritiert. Hat sich der „Coiffuriste“, wie er sich selber nennt, tatsächlich auf seine Augenlider „gypsi“ und „king“ inklusive Schreibfehler tätowieren lassen? „Das Mädchen, das das gestochen hat, musste Löffel unter meine Lider schieben, damit sie mir nicht die Augäpfel zersticht.“ Wahrheit? Dichtung? Hommage an seine Wurzeln? Etwas vom „fahrenden Volk“ scheint jedenfalls in Charlie Le Mindu zu stecken, der sich auf seinem Weg aus der französischen Provinz über Berlin, London, Paris nach New York vom Provinzfrisör über Lady Gagas Perückenmacher zum Performance-Künstler, Kreativdirektor für Musikvideos und Kostümdesigner entwickelt hat.

In dieser Funktion ist er nach Berlin gekommen. Für das neue Stück „Lib“ des Staatsballetts, abgeleitet von „Liberation“, hat er die Kostüme entworfen. Vor 16 Jahren erlebte er mit süßen 16 in Berlin seine persönliche Befreiung. Den grauen Berliner Alltag wollte er jedenfalls nicht sehen, als er 2003 dem Ruf von Punk und Techno an die Spree folgte. Stattdessen schnitt er nachts zwischen 23 und sechs Uhr im Rio Club Haare oder bürstete die Perücken von Drag Queens auf. Bald standen die Clubkids Schlange, und Charlie Le Mindu schloss Freundschaften wie mit der queeren Feminismus-Ikone Peaches. Hier bekam er, der in Frankreich aus fünf Friseursalons geflogen war, endlich die ersehnte Anerkennung.

Seine Perücken wurden immer größer und grotesker

Mit neuem Selbstbewusstsein wechselte er in die Londoner Clubszene und begann 2006, sich mit Perücken einen Namen zu machen. Kurze Zeit später arbeitete er auch für Lady Gaga, Le Mindu nutzte die Aufmerksamkeit für Fashionshows, die immer größer und grotesker wurden. Bilder aus der Mythologie, aus dem Surrealismus materialisierten sich auf dem Laufsteg zu Haarskulpturen mit gigantischen Hörnern, zu antiken Helmen, fluoriszierenden Meeresquallen. In Form von Perücken lösten sich die Haare erst vom Körper, um dann Besitz vom ganzen Leib zu ergreifen und ihn in einem Kunstkörper zu transformieren.

Le Mindu entwickelte ein Interesse an Vintage-Glamour. Er wollte sich neu beweisen und ging nach Paris, um seine Kreationen bei der Haute Couture Woche zu zeigen. Seine Arbeiten, die er teils über Wochen Haar für Haar zusammensetzte, erregten schnell die Aufmerksamkeit der Kunstszene. Er schuf albtraumhaft schöne Themenparks und künstlerische Rave-Performances. Das eröffnet eine neue Perspektive. Die Kosten für seine Shows waren immens gewachsen, und auch wenn er anschließend einiges an Museen verkaufen konnte, war es am Ende oft eine Nullrunde. „Außerdem hat mich die Beschleunigung in der Mode angefangen zu ärgern.“

Die Pirouetten in „Lib“ nennen Charlie Le Mindu und Choreograf Alexander Ekman scherzhaft „Carwash“.
Die Pirouetten in „Lib“ nennen Charlie Le Mindu und Choreograf Alexander Ekman scherzhaft „Carwash“.

© Jubal Battisti

In gewisser Weise wollte Charlie Le Mindu der Natürlichkeit seines Materials gerecht werden. „Haar braucht Bewegung!“ Er begann, mit langhaarigen Ganzkörperanzügen zu experimentieren, die Chewbacca aus Star Wars ähneln. Sie erregten die Aufmerksamkeit von Alexander Ekman, in dessen Choreografien Le Mindu die Bewegungsimpulse, die Drehungen und Amplituden erkannte, die er sich für seine zotteligen Entwürfe erträumte. In Berlin hatten sie nun Gelegenheit, zusammenzuarbeiten.

Eigentlich stellte sich Ekman eine haarige Armee von Chewbaccas vor. „Aber das kann sich auch das Staatsballett Berlin nicht leisten“, sagt Le Mindu. „Für ein Echthaar-Kostüm kostet allein das Material 8000 Euro.“ So blieb es bei Kostümen für sieben Solisten, die Le Mindu nach den Beschreibungen von Ekman auf die Charaktere abzustimmen versuchte. „Primaballerina Paulina Seminiova ist so lieb. Da habe ich versucht, ihr ein extrastarkes Kostüm zu entwerfen – mit Brusthaar.“ Die Kostüme sind Spaß und Kampf zugleich, denn in ihnen ist es extrem warm. „Eine Tänzerin hat einfach die Schere genommen und sich einen Pony ins Kostüm geschnitten, die Bitch.“ Bei der nächsten Probe waren die Haare wieder dran. Keine Kompromisse bei der künstlerischen Vision, diese Freiheit kann sich Charlie Le Mindu heute leisten.

Für seine alte Freundin Peaches hat er Kostüme entworfen

So glücklich er sich schätzt, für die großen Compagnien zu arbeiten – die Mode lässt ihn nicht los. Er arbeitet als Stylist für ausgewählte Kampagnen, für Chanel und die Vogue. Seit drei Jahren bereitet er im Geheimen eine neue Show vor. „Sie ist von meiner Zeit in Berlin inspiriert. Nichts Extremes, einfach nur schön. Die möchte ich nicht bei den Haute-Couture-Schauen zeigen, sondern am liebsten hier.“

Davor gab es zum Jahreswechsel aber noch die bombastisch-schräge Show zum 20-jährigen Jubiläum seiner alten Freundin Peaches in der Volksbühne. Ganz queer-feministisch und sex-positiv hat er sie ausgestattet. Es gab eine Luftartistin, die einen Laserstrahl aus ihrem Hintern schießt. Da muss Charlie Le Mindu breit grinsen, und sein Schnauzer gibt die Sicht auf ein weiteres Tattoo frei. „Female Trouble“ steht auf seiner Oberlippe.

Ingolf Patz

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