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Bella Hadid im vergangenen Jahr in Mailand auf dem Weg zur Modenschau von Fendi.

© Arnold Jerocki/Getty Images

Das Ding ohne Ärmel: Vom Pullunder zum Wunder

Lange Zeit war er ein Kleidungsstück für Witzfiguren. Aber dann wurde der Pullover ohne Ärmel zum Trendteil ausgerufen. Wie konnte das passieren?

Wir berichten hier über einen geheimen Trend, der schon vor einem Jahr ausgerufen wurde. „Der Pullunder ist das neue Statement-Piece und der wichtigste Modetrend 2021!“, verkündete die deutsche „Vogue“. Auch die betulichere „Brigitte“ stellte fest: „Warum du dir unbedingt einen Pullunder zulegen solltest“. Und die „Instyle“ schrieb, dass Pullunder „ultra stylish“ aussehen. Jetzt ist das Jahr fast vorbei und allen Ausrufezeichen zum Trotz hat sich der Pullunder im Straßenbild nicht durchgesetzt.

Deshalb nehmen Modemagazine wie das für Männer, „GQ“ (ja, auch Männer müssen ran an den Pullunder), einen neuen Anlauf. Der Tenor eines Artikels lautete: „Warum ich mir doch noch einen Pullunder gekauft habe“. Und schließlich war gerade Herbstanfang: das perfekte Wetter für ein Dazwischen-Kleidungsstück, zu warm für den Wollpullover, zu kalt für Hemd oder Bluse. Über einem Pullunder kann man leichtere Jacken tragen, ohne dass sich im Ärmel die Wolle staut.

Losgetreten hat das Pullunderthema Alessandro Michele

Dass das Ding ohne Ärmel gerade so gut in die Kollektionen passt, hat auch mit der Schichtwut der Designer:innen zu tun. Der Pullunder kann überall drüber und drunter getragen werden, zu Hemden, über Rollkragenpullovern, Kleidern, ganz egal, und wenn er nur groß genug ist, kann er auch gleich als Ersatz für Letzteres dienen. Losgetreten hat das Pullunderthema übrigens schon vor ein paar Jahren der Gucci-Designer Alessandro Michele, der die ersten im Jahr 2017 zeigte und seitdem den Sänger Harry Styles damit einkleidet, der als Stilikone geschlechterübergreifend verehrt wird.

Keine Frage, der Pullunder ist eigentlich ein sinnvolles Kleidungsstück. Großmütter stricken ihn gern für ihre Enkel, weil er Bauch und Nieren warm hält, und nennen ihn liebevoll Seelenwärmer. Er wird bei Sportarten wie Golf, Cricket oder Tennis getragen, wo man schon mal rumsteht und sich verkühlt. Man kann mit einem gestreiften, karierten oder gepunkteten Exemplar ein eigentlich langweiliges Outfit aufhübschen.

der Komiker Olaf Schubert aus Dresden trägt seinen Pullunder gern auf nackter Haut.
der Komiker Olaf Schubert aus Dresden trägt seinen Pullunder gern auf nackter Haut.

© Andreas Weihs/Imago

Aber dafür, dass er kein vollwertiges Kleidungsstück ist, muss man sich auch viele Gedanken über ihn, das Drüber und Drunter machen. Außerdem ist er aufgeladen mit schrägen Bildern. Das fängt schon bei der Bezeichnung an. Auch wenn das Wort sich aus dem englischen „Pull under“ (wie „Pull over“, nur umgekehrt) zusammensetzt, ist es, wie das Wort Handy, ein Scheinanglizismus. Im Englischen sagt man „Sweater Vest“ oder „Tank top“. Die Wortwendung „Pull under“ würde man eher für einen Hai verwenden, der einen Schwimmer unter Wasser zieht.

Ein Foto befreite ihn von allen modischen Zweifeln

Dass der Pullunder trotzdem schon im vergangenen Jahr solchen Jubel auslöste, hat mit einem Bild zu tun, das ihn von allen Zweifeln befreite. Das US-amerikanische Model Bella Hadid ließ sich im Februar 2020 in einem Pullunder von Fendi fotografieren. Als sie die Modenschauen in Mailand besuchte, wählte sie die traditionellste aller Varianten, Wolle in Rot-Braun-Grün-Tönen mit einem schottischen Argyle-Rautenmuster – und zwar ohne etwas darunter. Dazu trug sie braune Lederhosen und klobige Collegeschuhe. Es sah kein bisschen witzig gemeint aus. Dazu muss man wissen, dass Bella Hadid zur neuen Generation von Models gehört, deren reine Erscheinung schon wie durch einen Instagram-Filter poliert wirkt.

Mit transparentem Kleid sieht der Pullunder gleich nicht mehr so brav aus. Hier von Molly Goddard
Mit transparentem Kleid sieht der Pullunder gleich nicht mehr so brav aus. Hier von Molly Goddard

© Ben Broomfield

Damit hatte sie sich, aus deutscher Sicht und deshalb komplett unwissentlich, zur Antipodin von Olaf Schubert gemacht. Der Komiker aus Dresden trägt seinen karierten Pullunder als Erkennungszeichen zum fusseligen Haar und höchst ironisch, um seinen Status als Witzfigur zu untermauern, auf nackter Haut. Damit führt Schubert die Tradition des Pullunders als eines der klassischen Kleidungsstücke für Witz- oder Comicfiguren fort. Das reicht von Asterix (die enge Tunika ist der Pullunder der Römerzeit) und Tim (mit Struppi) über die britische Komikergruppe Monty Python bis hin zu Milo Murphy aus der amerikanischen Kinderzeichentrickserie. Nicht zu vergessen sind berühmte Pullunderträger wie Harry Potter und Hans-Dietrich Genscher, die zwar nicht witzig, aber eben auch nicht stylish sind oder waren.

Und weil wir in Deutschland immer Angst haben, uns durch Kleidung lächerlich zu machen, hat sich der Pullunder bisher wohl trotz Bella Hadids Auftritt und aller daraus folgenden Prognosen hierzulande nicht als das wichtigste Kleidungsstück des Jahres etabliert.

Ein Pullunder für diesen Herbst von Cos.
Ein Pullunder für diesen Herbst von Cos.

© Cos

Dabei ist die Transformation vom Pullunder zum Wunder in der Mode ein oft benutzter Kunstgriff. Es geht darum, aus einem aufgeladenen Kleidungsstück etwas Schönes und Cooles zu machen. Das funktioniert logischerweise besser mit einer jungen Zielgruppe. Wer in seinem Leben schon zu viele Schlaghosen, neonfarbene Westen oder eben Pullunder sehen und tragen musste, dem kommt das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ in den Sinn.

Als Kind sollte man im Pullunder einen braven Eindruck machen

Man denke nur an die sehr engen Pullunder der siebziger Jahre mit V-Ausschnitt, unter denen der Stoff von Hemd oder Bluse Wülste bildete und das Zusammentreffen unterschiedlicher Kunstfasern – Perlon mit Polyacryl – zu statischer Aufladung und Knistern führte. Oder an die Modelle, mit denen man als Kind einen braven Eindruck machen sollte.

Vielleicht sind wir ja jetzt, gestählt durch den Pullunder, bereit für das nächste große Trendthema. Dieser Tage wurde die Schwester von Bella, Gigi Hadid, in einer Steppweste gesichtet.

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