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Coronavirus und der Kleiderschrank: Mode für mein Cyber-Ich

Kleidung, die es nur digital im Internet gibt, ein Avatar, der stellvertretend Schauen und Messen besucht – die Mode stellt sich neu auf

Die vergangenen Wochen haben es gezeigt: So viel Kleidung, wie uns angeboten wird, braucht kein Mensch. Auf jeden Fall nicht in der realen Welt. Digital sieht das schon anders aus. Wäre es nicht hilfreich, wenn man für eine Videokonferenz seinem Cyber-Ich einfach etwas Passendes aus seinem digitalen Kleiderschrank überziehen könnte?

Wenn es nach Marjorie Hernandez de Vogelsteller geht, sind wir kurz davor, unsere reale Garderobe zu entschlacken, weil wir im Internet damit spielen können. Hernandez de Vogelsteller ist Geschäftsführerin von Lusko, einem Berliner Start-up, das an Blockchain-Lösungen für die Modeindustrie arbeitet.

Auch wenn Blockchain zu einem beliebten Schlagwort in der Tech-Szene geworden ist, weiß die gelernte Architektin, dass nur wenige eine Ahnung haben, was damit gemeint ist. Stark verkürzt gesagt ist Blockchain eine digitale Kette von Informationen und Daten, deren Glieder so aneinanderhängen, dass man sie nicht verändern kann. So kann man mit Blockchain Herkunft, Wege und Besitzer eines Gegenstands nachvollziehen.

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In der Mode kann Blockchain als Identitätsnachweis für reale Produkte dienen, aber auch für solche, die wir digital besitzen. Längst bewegen wir uns nicht mehr gratis im digitalen Raum. Wer Speicherplatz in der Cloud möchte, muss ebenso zahlen wie jemand, der Filme anschauen oder seinem Avatar für das Computerspiel „Fortnite“ entworfene Air-Jordan-Turnschuhe anziehen will. Marjorie Hernandez de Vogelsteller glaubt, dass bald keiner mehr fragt, wie die Technologie funktioniert, mit der sie und ihr Mann Geld verdienen. Hauptsache, man kann sie nutzen, um Produkte zu verifizieren.

Laut einer Studie soll schon heute jede zehnte Online-Bestellung zu dem Zweck getätigt werden, ein Outfit auf Instagram zu zeigen. „Also kaufen Menschen Kleidung nur für einen einzigen Post. Dafür wurde ein Kleidungsstück bisher in Fernost produziert und mehrmals um die Welt geschickt“, sagt Hernandez de Vogelsteller. Sie findet es wenig nachhaltig, mit einem Kleid von Zara oder H&M das Bedürfnis nach Konsum zu befriedigen: „Das ist ein Produkt, das nicht den Wert repräsentiert, wie Mode in Zukunft sein sollte. Warum also nicht mit digitaler Mode den Drang nach Fast Fashion befriedigen?“ Damit könnten die schnellen Trends vor allem in Internet ausgelebt werden.

Auch die Fashion Weeks der Zukunft könnten anders aussehen. Statt selbst um die Welt zu fliegen, sitzt der Avatar in der ersten Reihe, probiert Kleidung im virtuellen Showroom an und postet Bilder. Seit im April alle Modeveranstaltungen für diesen Sommer abgesagt wurden und damit eine ganze Saison in der Unsichtbarkeit zu verschwinden droht, stampfen viele Organisatoren digitale Plattformen aus dem Boden. Die ersten Versuche gab es schon Ende März und Anfang April in Schanghai und Moskau. Im Juni folgt die Londoner Fashion Week, im Juli dann die in Paris und Mailand. Auch die nächste Fashion Week in Helsinki Ende Juli wird ausschließlich digital stattfinden. „Die Finnen meinen das sehr ernst“, sagt Marjorie Hernandez de Vogelsteller, die an dem Projekt mitarbeitet.

Die Helsinki Fashion Week soll in diesem Jahr hundert Prozent digital sein, es geht also weit darüber hinaus, Modenschauen live zu streamen. Designer produzieren ihre Kleider digital, die Besucher bekommen einen Avatar, der bei den Modenschauen sitzt, zu Events geht und für den sie digitale Kleidung kaufen können. Die Avatare werden von einem Designstudio gebaut und Marjorie unterstützt die Designer dabei, die Kleidung digital zu entwerfen. „Wir bieten die Infrastruktur, in der das alles spielt, Kleidung und Avatare sind als Eigentum der Käufer auf der Blockchain gespeichert.“

In Berlin dagegen geht es noch um reale Kleidung. Die Modemesse Premium arbeitet seit vergangenem Jahr mit der digitalen Plattform Joor zusammen. Dort können Marken und Einkäufer Kleidung präsentieren und ordern. Es scheint so, als ob dies das einzige Angebot als Ersatz für die abgesagte Fashion Week Ende Juni werden könnte.

Die Berliner Agentur Silk ist da schon weiter. Sie hat in der vergangenen Woche 30 Journalisten zu ihren ersten digitalen Press Days eingeladen. Bisher fanden die zweimal im Jahr in Ateliers und Showrooms der Stadt statt, um die neuesten Kollektionen zu zeigen. Dieses Mal führten Mitarbeiter von Silk durch virtuelle Räume, die denen der Agentur in der Chausseestraße nachempfunden sind. „Das ist nur der Anfang. Wir können hier Ausstellungen machen und zu einem digitalen Dinner einladen, zu dem man seinen Avatar schickt“, sagt Agenturchefin Silke Bolms. Hinter einer virtuellen Tür ist sogar noch Platz, zum Beispiel für ein Fotostudio.

Die letzten vier, fünf Wochen waren auch für Hernandez de Vogelsteller wie ein Fahrstuhl in die Digitalisierung. „Noch sind wir mit der haptischen Welt sehr verbunden. Wir sind mit der Vorstellung aufgewachsen: tolles Auto, tolle Tasche, tolle Uhr. Aber die Welten sind nicht mehr so getrennt, und die Situation verstärkt das noch.“ Dafür wird die Lücke zwischen den Generationen größer. Sie weiß, dass für Ältere vor allem das zählt, was man anfassen kann. „Für Jüngere ist es normal, dass sie sich digital nehmen, was sie wollen.“ Daraus ergibt sich ein zunehmend kritischer Blick auf das viel zu große Angebot in der realen Welt. Im Cyberspace kann der Spieltrieb vom Bedürfnis nach Kleidung getrennt ausgelebt werden.

Der Markt ist zu voll mit Waren, die keiner braucht

Hernandez de Vogelsteller ist sich sicher, dass das Auswirkungen auf die Modeproduktion und die Rolle der Kreativen haben wird. Zum einen, weil sie weniger Kleidung entwerfen werden, die dafür lange halten soll und wirklich gewollt wird. Zum anderen, weil ihre Fähigkeiten im kreativen Prozess noch mehr gefragt sein könnten. Es geht eben nicht nur darum, dass jeder seine Mode am Computer entwirft. „Man muss auch Ahnung von Software und Gestaltung haben“, sagt sie.

Dem stimmt Holger Max-Lang zu, Geschäftsführer der deutschen Niederlassung des Technologieunternehmens Lectra, das Maschinen und Software für die Möbel-, Auto- und Modeindustrie entwickelt. Damit ist es heute zwar möglich, anhand einer Skizze am Computer einen Schnitt zu erstellen und mit diesem automatisch Stoff zuzuschneiden, aber das kann keineswegs den Designer ersetzen. „Es ist unabdingbar, dass man sein Handwerk beherrscht“, sagt Max-Lang. Aber auch er findet, dass der Markt zu voll ist mit Waren, die keiner braucht. „Wir müssen von der angebotsgetriebenen in die nachfragegetriebene Produktion kommen.“ Will heißen: Statt 5000 Blusen sollten nur 50 produziert werden, weil sie richtige Passform, Material und Farbe haben.

„Dafür braucht es Produktionspartner in der Nähe, die in der Lage sind, schnell zu liefern“, sagt er. Jetzt haben die Unternehmen Zeit, sich Gedanken zu machen. Noch gibt es keine größere Nachfrage nach digitaler Aufrüstung in der Mode. Aber das wird sich ändern, meint Max-Lang: „Dem Mittelstand wird nichts anders übrig bleiben, als sich dem Bedarfsmodell anzupassen.“

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