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Moabit. Auf dem Sprung zum Trendbezirk - seit Jahrzehnten.

© Doris Spiekermann-Klaas

Moabit, diesmal aber wirklich: Die Möglichkeiten einer Insel

Jetzt geht es aber endlich los mit Moabit! Heißt es seit Jahrzehnten. Doch die Geschichte des Stadtteils ist auch die Geschichte zahlloser Rückschläge, Abwanderungen und Enttäuschungen. Warum Menschen wie Gerd Töpper heute trotzdem wieder zuversichtlich sind.

Von Andreas Austilat

Gerd Töpper zögert. Verständlich, wer verrät schon gern sein Geschäftsgeheimnis. Und er muss eines haben. Immerhin gibt es seinen Laden jetzt seit 34 Jahren. Das können nicht viele von sich behaupten in dieser Ecke von Moabit. Bei Töpper läuft es. Allein in den vergangenen zehn Minuten waren vier Kunden da. Nicht schlecht für einen noch sehr frühen Mittwochnachmittag.

Also, wie kommt ein gelernter Fernmeldetechniker zu diesem Geschäft? Töpper, 58, senkt die Stimme zum Verschwörerton, beugt sich vor und sagt: „Ich dachte mir, gesoffen wird immer …“, und nach einer kurzen Pause fährt er fort, „ob die Zeiten nun gut sind oder schlecht.“ Dann blickt er in die Runde auf sein Sortiment: wohl an die 100 Biersorten. Einmal kurz schaukelt sein Zopf. Kein Karl-Lagerfeld-Pferdeschwanz, sondern so ein langer, dünner Zopf, mit kleinen Lederriemen zusammengebunden.

„Moabit. Ort ohne Dresscode“, ließ das Quartiersmanagement vor fünf Jahren auf Sticker drucken und stadtweit verteilen. Es war der Versuch, dem Bezirk ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Während Neukölln sich anschickte, cool zu werden, nämlich Kreuzberg als Szenebezirk wenn schon nicht abzulösen, so doch in „Kreuzkölln“ wenigstens zu ergänzen, verharrt Moabit seit Jahren im Stadium des Versprechens. Und das geht so: Irgendwann kommt dieser Bezirk, wird er zum Hotspot. Die Frage ist nur, wann?

Hier waren sie alle, Borsig, AEG und Loewe

Gerd Töpper hat seinen Getränkeladen 1982 in der Bredowstraße eröffnet. Eng ist der, mit selbst gebauten Holzregalen. Hinter dem Verkaufstresen biegen sich die alten Resopalböden, die er noch vom Vorgänger übernommen hat, unter exotisch anmutenden Flaschen, die aus aller Welt kommen. Wenn irgendwo in dieser Stadt ein Bierladen eine große Zukunft haben musste, dann doch hier, in einem Bezirk, der vor 100 Jahren Feuerland genannt wurde, wegen der vielen Fabrikschornsteine.

Hier waren sie alle, Borsig, AEG und Loewe mit seiner Werkzeugmaschinenfabrik. Als Töpper aufmachte, qualmte es immer noch, vielleicht nicht mehr so stark wie vor dem Krieg. Aber da war Siemens mit seiner Turbinenfabrik, und drüben drehte Rothmanns Zigaretten im Huttenkiez, und überall verdienten Arbeiter gut – und hatten Durst.

Die Ladentür geht auf: „Haben Sie diese Fanta in der Retroflasche als Ein-Liter-Abfüllung?“ Töpper muss passen, dabei ist er auch bei Limonade gut sortiert. „Soll ich Ihnen noch ein Geheimnis verraten?“ Natürlich, wer will keine Geheimnisse hören! „Ich mag gar kein Bier. Ich kann nur gut zuhören. Und weitererzählen, was mir die Bierliebhaber berichten.“ Es muss wohl diese Form von Flexibilität gewesen sein, die Töpper über die Jahrzehnte getragen hat. Und andere in Moabit scheitern ließ.

Dabei sah alles gut aus, damals, als die Mauer fiel

Gescheitert sind viele. „Schauen Sie sich doch bloß die Turmstraße an“, sagt Töpper, „das war mal unsere Schlossstraße.“ Er meint damit die Einkaufsmeile in Steglitz, die Straße mit der größten Einzelhandelsdichte Berlins. „Wir hatten Schuhgeschäfte“, sagt er, „mindestens acht. Plus Hertie und Woolworth. Was haben wir jetzt? 25 Backshops und kein Kaufhaus.“ Irgendetwas muss schiefgelaufen sein in Moabit.

Dabei sah doch alles gut aus, damals, als die Mauer fiel. Vom Rand rückte Moabit in die Mitte. Das Innenministerium zog an die Spree, der Hauptbahnhof wurde gebaut, und alle dachten, jetzt geht es los, die Insel wird Festland, so wie das große West-Berlin doch auch. Das Gegenteil passierte, sagt Töpper. Es gab keine Berlin-Zulage mehr. Allmählich verschwanden die gut verdienenden Arbeiter aus Moabit. Die Ärzte und die Geschäftsleute ebenfalls.

Wer es sich leisten konnte, zog ins Umland, um sich dort den Traum vom eigenen Haus zu erfüllen, den er sich im eingemauerten West-Berlin nie hätte erfüllen können. Die Studenten wollten jetzt lieber nach Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, die alteingesessenen Geschäfte machten dicht und „wir kriegten die Backshops, die Spätis und die Spielotheken“, sagt Töpper, „die Mischung stimmte nicht mehr.“ Bei Töpper stagnierte das Geschäft. Und selbst das Innenministerium zog wieder weg.

In der Mitte klafft ein Loch - noch so ein Versprechen

Moabit blieb weiterhin eine Insel, wird es immer sein: oben der Westhafen, unten die Spree, links und rechts die Kanäle. Ziemlich in der Mitte des Stadtteils, da, wo wohl das Herz wäre, wenn Stadtteile denn eines hätten, an der Ecke Turmstraße und Stromstraße, klafft ein riesiges Loch. Noch so ein Versprechen. Hier war mal die Schultheiss-Brauerei. Jetzt lässt Harald Huth, Berlins Center-König, hier eine gewaltige Shopping-Mall bauen. Es ist die 67. in Berlin.

Töpper ist sich nicht sicher, was er von dem Center halten soll. Sind ja doch die immer gleichen Läden, die da einziehen, diejenigen, die es schon überall gibt in der Stadt. „Jetzt kommen wir als Letzte hinterher. Und wer sagt denn, dass es nicht wie in Spandau wird?“ Dort haben die Arcaden den Gewerbetreibenden in der Altstadt arg zugesetzt. Na ja, immerhin passiere was auf dem alten Brauereigelände.

Es gibt noch viel weitreichendere Pläne. Derzeit prüft das Bezirksamt Mitte, große Teile Moabits unter Milieuschutz zu stellen. Milieuschutz, das klingt nach Zille. Ist aber ein Mittel des Baurechts und soll verhindern, dass Sanierungsmaßnahmen die Mieten in die Höhe treiben und die ansässige Bevölkerung auf diese Weise vertrieben wird. Mit einer Entscheidung ist frühestens im April zu rechnen.

Versucht wurde das mit dem Milieuschutz schon einmal, in den 90ern im Stephankiez. Dort, wo einst die legendäre Kommune I. residiert hatte. Die Maßnahme sollte als Mietpreisbremse wirken, weil man eben davon ausging, dass Moabit mit seiner Nähe zur Stadtmitte und dem Regierungsviertel stark aufgewertet werden würde.

Statt eines Boom kam - Flucht

Sigmar Gude, schneeweißer Bürstenschnitt, kräftig und selbst als Student einst Moabiter, war damals dabei. Der Soziologe ist Teilhaber von Topos, einem Büro zur Stadtforschung, das begann, den Bezirk zu untersuchen. Die Stadtplaner machten Haushaltsbefragungen und kamen zu deprimierenden Ergebnissen: „Da gab es Gegenden, in denen sagten mehr als die Hälfte der Leute, wir wollen weg!“ In dieser Situation ist es schwer, etwas für den Milieuschutz zu tun. Es gab Kritik, die Abwanderung würde gefördert, wenn man keine Aufwertung mehr zulasse. Man entschloss sich zur sogenannten behutsamen Stadterneuerung.

Die fand überwiegend außerhalb der Problemkieze statt. Viele alte Stuckfassaden an der Stephanstraße sind heute saniert. Der Milieuschutz wurde dort 2006 aufgehoben, zu früh, wie Gude findet, die Mieten sind deutlich gestiegen, doch die Stephanstraße gehört inzwischen auch zu den besseren Wohnlagen. Denn die gibt es ebenfalls in Moabit, hier und jenseits der Straße Alt-Moabit, die seit jeher so etwas wie die Grenze zwischen Gut und Böse war, mit ihren fast schon hochherrschaftlichen Wohnungen unten an der Spree.

In weiten Teilen des übrigen Bezirks hatte sich dagegen wenig verbessert. Die Stadtforscher registrierten statt eines kommenden Booms Mitte der 2000er Jahre immer noch den Hang zur Flucht bei jenen, die es sich leisten konnten. Von Verwahrlosungstendenzen war die Rede.

Wer abends feiern wollte, musste woanders hin

Behutsame Stadterneuerung, das klingt so einfühlsam. Und ist ein Gedanke, der Diana Gevers gut vertraut ist. Sie hat ihn gewissermaßen wörtlich genommen – und gemeinsam mit ihren Mitstreitern dafür „viel Häme“ einstecken müssen, wie sie heute sagt.

Gevers wohnt in der Quitzowstraße und blickt aus ihrem Wohnzimmerfenster auf einen gewaltigen Baumarkt. Stand der schon, als sie vor sieben Jahren mit Anfang 30 aus Münster hierherzog? „Ja, und ich finde ihn eigentlich ganz praktisch, wenn man mal eine Schraube braucht.“ Als ihre Eltern erfuhren, ihre Tochter würde dorthin ziehen, waren sie besorgt. Ein Onkel, der seinerzeit in Schöneberg lebte, hatte ihnen gesteckt, das sei ja eine ganz schlimme Gegend. „Als die dann das erste Mal kamen, waren sie richtig enttäuscht, dass hier keine Gangster durch die Straßen zogen.“

Moabit war 2009 für Leute, die einen festen Job hatten, ein großartiger Platz. „Ich habe mir elf Wohnungen angeguckt und hätte alle elf haben können.“ Denn die Bewerberin, die für den Nabu im Vogelschutz arbeitete, war die einzige mit Gehaltsbescheinigung. Dafür hatten sie und ihre Freunde hier ein anderes Problem: Wenn man abends feiern wollte, habe man nach Neukölln oder Kreuzberg fahren müssen. Also hätten sie beschlossen, hier etwas zu machen. Mit dem „Verein Moabit“, nicht zu verwechseln mit „Moabit hilft“, der für die Flüchtlinge da ist.

Wo sind die neuen Moabiter, die bleiben wollen?

Auf dem Turmstraßenfest, als Ramsch-, Fress- und Saufmeile verschrien, bauten sie eine Bühne für Theater und Musik. Und weil einer von ihnen in der Emdener Straße mitten im Problemviertel wohnte, wollte er es da auch ein bisschen nett haben – und organisierte eine Art Nachbarschaftstreffen. Daraus wurde mehr. Sie bauten kleine Zäune um die Baumscheiben. Und die Nachbarn pflanzten Blumen, und am Samstag saßen sie draußen auf der Straße zum Kaffee. Ausgerechnet in der Emdener. Der praktisch alle stadtsoziologischen Untersuchungen der letzten 20 Jahre bescheinigten, dass es ihr schlecht gehe. Von der die Leute behaupten, sie gehöre zum Moabiter Drogendreieck.

Ein Wunder geschah: Die Straße wurde zur „schönsten Deutschlands“ gekürt, dafür gab es 5000 Euro, ausgelobt von einem Baumarkt, mit dem Segen des Deutschen Städtetags. Ja, und den Spott, den gab es auch noch, die Emdener, schönste Straße Deutschlands, ausgerechnet. „Wir dachten ja selbst, die würden uns verulken“, sagt Diana Gevers über ihren Früchtetee hinweg, „was sollten wir in solch einem Wettbewerb?“ Aber die Veranstalter meinten es ernst, erklärten, worum es ihnen ging. Um Partizipation, um Teilhabe, um Bürgerengagement.

Sie glaubt, der Stadtteil habe eine Zukunft - ganz bestimmt

Leider ist in der Emdener Straße vom preiswürdigen Glanz, wenn es ihn je gab, nach nicht ganz drei Jahren nichts mehr zu sehen. Keine Blumen, und samstags sitzt auch niemand zum Kaffee auf der Straße. Das Café vom „Verein Moabit“ hat die Rollladen runtergelassen, Käptn Kiez alias Frank Wolf, einst einer der Aktiven im Verein und selbsternannter Bürgermeister von Moabit mit dem Slogan „Moabit ist Beste“, lässt sich hier nur noch gelegentlich blicken. Es heißt, er lebe inzwischen in Brandenburg. Und Diana Gevers’ Mitstreiter, der die Idee hatte, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen, ist sogar noch weiter weggezogen – nach Mecklenburg-Vorpommern.

Der „Verein Moabit“ ist auf einen harten Kern geschrumpft. Man könnte davon sprechen, dass wieder einer gescheitert ist, auf dem harten Pflaster von Moabit. Aber Diana Gevers hat ausgehalten. Sie glaubt, dass der Stadtteil ganz bestimmt eine Zukunft hat. „Schauen Sie sich doch um, was es jetzt hier schon für Kneipen gibt.“ Man müsse abends gar nicht mehr rüber nach Neukölln oder Friedrichshain.

Die Moabiter Mischung ändert sich

In der Arminius-Markthalle, in der früher Brigitte Mira „Drei Damen vom Grill“ drehte, sind heute auffallend viele junge Menschen unterwegs, es werden Pulled- Pork-Sandwiches serviert wie in San Francisco, Seattle oder in Kreuzbergs Markthalle Neun, überall dort also, wo man sich ganz vorn wähnt. Der Geschäftsführer des Amstel House, eines von einer ganzen Reihe neuer Hostels für Backpacker, hat einen starken Anstieg der Laufkundschaft beobachtet und beschreibt die Auswirkungen des Wandels so: „Früher wurden wir jedes Jahr einmal überfallen. In den letzten fünf Jahren gar nicht mehr.“

Doch die Backpacker, die sind morgen wieder weg. Wo sind die neuen Moabiter, die bleiben wollen? Die sind auch schon da, sagt Gerd Töpper. Und das kann er auch beweisen. Die Zeichen der neuen Zeit, die stehen bei ihm im Regal: Stout aus der Sierra Nevada, oder belgisches Bier für fünf Euro die Flasche, erlesene Whiskys und Limonaden mit lustigen Namen wie das Ginger Brew aus dem australischen Bundaberg. Flaschen, die ihm vor drei, vier Jahren keiner abgekauft hätte.

„Die Moabiter Mischung“, sagt er also und meint keinen neuen Schnaps, sondern die Zusammensetzung der Bevölkerung, „die ändert sich gerade.“ Wer nun aber denkt, Moabit sei noch ein Geheimtipp, den muss er enttäuschen. Unter zehn Euro den Quadratmeter kriegt man hier nichts mehr. Sagen jedenfalls seine neuen Kunden.

Dieser Text erschien am 8. März 2016 auf der Dritten Seite im gedruckten Tagesspiegel.

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