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Bedienstete und Gäste gedachten im Dresdner Landgericht Marwa el-Sherbinis am 10. Jahrestag ihres Todes, dem 1. Juli.

© Oliver Killig/dpa

Zehn Jahre nach rassistischem Mord: Wenn aus „Nie wieder“ ein „Schon wieder“ wird

Schon die Ermordung von Marwa el-Sherbini erregte zu wenig Aufmerksamkeit. Auch zehn Jahre nach der Tat ist das Gedenken an sie viel zu leise. Ein Kommentar.

Noa Gur und ihre kleine Truppe hatten sich einen prominenten Platz ausgesucht. Vor das Kanzleramt, die Regierungszentrale im Rücken, das Parlament vor Augen, verlegte die israelische Künstlerin die Uraufführung ihrer Performance über Marwa el-Sherbini, jene 31-jährige Frau aus Ägypten, die am vergangenen Sonntag vor zehn Jahren in einem Verhandlungssaal des Dresdner Landgerichts mit 16 Messerstichen ermordet wurde. Das Publikum an jenem heißen Samstagnachmittag: Gerade einmal ein Dutzend Menschen.

Die üblichen Mechanismen griffen nicht

Die Szene ist typisch für den Fall Marwa el-Sherbini, damals wie heute. Ihr Tod hätte aufrütteln müssen, das Land wenigstens ein paar Tage lang so beschäftigen, wie es andere Themen nun schon seit Jahren tun, Tag für Tag. Der erste Mord an einer Muslima in Deutschland, weil sie Muslima war – und ein Kopftuch trug. Bei dieser Tat haben die üblichen Mechanismen demokratischer Öffentlichkeit nicht gegriffen. Andernfalls hätte der Mord natürlich die ewige Debatte um die Kopftuchgesetze beeinflussen müssen, er hätte sie verändert. Für Verfechterinnen dieser Gesetze ist das Kopftuch, das auch die Tote trug, ein illegitimes Zeichen, eigentlich kriminell und allein sein Anblick unzumutbar. Marwas Mörder sah dies, soweit aus dem Prozess bekannt, ähnlich. Für uns Journalistinnen hätte die Geschichte eine ganz große werden müssen, normalerweise, pardon, reißt sich die Branche um Storys von solch emotionaler Kraft: Eine junge Frau, attraktiv und selbstbewusst, studierte Pharmazeutin, Ex-Nationalspielerin ihres Landes, gutes Deutsch, Ehefrau eines Biochemikers, eines jener internationalen High Potentials also, ohne die auch Sachsens Tech-Szene nicht kann. Brutal ermordet an einem Ort, wo sie sich zu allererst sicher fühlen musste.

Ihr dreijähriges Kind wurde neben seinem Vater im Zuschauerraum Zeuge dieses Todes, ihr Ehemann wurde beim Versuch, den Mörder abzuwehren – er war der einzige, der half – ebenso oft getroffen wie sie – zum Glück nicht tödlich. Marwa el-Sherbini war, als sie starb, im dritten Monat schwanger.

Das Land des Holocaust reagiert sprachlos auf Rassismus

Doch wenig geschah. Es gab kaum Reaktionen des offiziellen Deutschlands, die Nachricht blieb lange eine Kurznachricht, die ganz großen Geschichten, die der Mord politisch wie journalistisch geradezu hätte erzwingen müssen, wurden nicht geschrieben. Ausgerechnet von der Stadt, in der er geschah, ging später Pegida aus, das Fanal schlechthin der erstarkenden Rechten. Jetzt, zehn Jahre später, gibt es nach wie vor kein Kanzlerinnenwort zu diesem Mord, der für die Bundesrepublik objektiv ein Einschnitt war. Und die Entscheidung des Journalistinnenbundes, die Karikaturistin Franziska Becker zu ehren, provoziert zeitgleich mehr Worte und Lärm als dieser Gedenktag. Becker nebenbei wurde von den 1970er-Jahren an berühmt mit ihren spitzen, frechen Kommentaren zum real existierenden Patriarchat. Inzwischen arbeitet sie sich gern an Frauen mit Kopftuch ab. Andere Frauen, andere im doppelten Sinn, als Hauptzielscheiben zu sehen, ist in einem gewissen Feminismus leider nicht mehr die Ausnahme.

Warum dieses viel zu leise Gedenken, fast Schweigen? Vielleicht weil wir in Deutschland immer noch sprachlos sind, wenn im Land des Holocausts Rassisten morden. Als strafe das die nationale Überzeugung Lügen, „wir“ seien zwar die Bösen des 20. Jahrhunderts, aber wenigstens hätten wir das Beste daraus gemacht, daraus gelernt. Aus „Nie wieder“ wird mit jeder solchen Tat ein „Schon wieder“, eine kollektive Niederlage.

Rechte in Polizei und Justiz bleiben unbehelligt

Die nicht nur empfunden wird, wenn eine als Fremde geltende Frau ihr Leben verliert. Auch der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke produzierte zunächst keine Schlagzeilen und Sondersendungen, ja nicht einmal die christdemokratischen Parteifreundinnen und -freunde zeigten sich besonders aufgewühlt. Und dabei war sein Tod ähnlich singulär und die Umstände kaum weniger erschütternd als die vor zehn Jahren.

Und natürlich heißt das „Schon wieder“ dieser Morde auch, draufzuschauen und sich klarzuwerden, dass eben viel nicht gelernt ist, was massiv versäumt wurde. Was wurde, über einen spektakulären Prozess hinaus, aus dem NSU-Komplex gelernt? Warum bleiben rechtsextreme Beamtinnen, Polizisten, Leute in der Justiz auch jetzt noch unentdeckt oder schlimmer: unbehelligt?

Hoffen wir, dass das Gedenken an Marwa el-Sherbini in weiteren zehn Jahren so ist, wie es sein sollte. Weil das Land, in dem sie ein paar Jahre lebte und starb, dazugelernt hat.

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