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Meinung: Wo ist Gott?: Die Freiheit zum Bösen

Ihre Türen zu öffnen, war die erste Reaktion der Kirchen auf die Schrecken des 11. September.

Ihre Türen zu öffnen, war die erste Reaktion der Kirchen auf die Schrecken des 11. September. Einen Ort zu bieten für Trauer und Angst, für Ohnmacht und Klage, war ihre erste Aufgabe. Und viele nahmen diese Möglichkeit wahr. Sie suchten Gott dort, wo man mit der Klage, der Trauer an sein Ohr dringen kann. Angesichts der Abgründigkeit des Bösen suchten sie, suchten wir Zuflucht bei Gott. Aber wo war Gott in dem Geschehen? Wie konnte er das zulassen? Eine junge Frau kam am Brandenburger Tor mitten im Gewühl mit dieser Frage auf mich zu. Wenn Gott allmächtig sei, so sagte sie, kann er doch solcher verbrecherischen Gewalt nicht ihren Lauf lassen. Auf Gottes Allmacht berief sich meine Gesprächspartnerin, um die verständliche Erwartung zu unterstreichen, dass Gott dem Terror in den Arm fällt.

Zum Geheimnis von Gottes Weltregiment gehört, dass es der Freiheit des Menschen sogar den Raum lässt, eine Freiheit zum Bösen zu sein. Menschen können von ihrer Freiheit einen Gebrauch machen, der sie zu Werkzeugen des Bösen werden lässt. Hans Jonas, der große jüdische Philosoph, hat sich Gottes Schöpferwerk als einen Akt der freiwilligen Selbstzurücknahme gedacht. Gott erschafft eine Welt, die ihm gegenübertritt. Er ruft den Menschen ins Leben, der sich in Freiheit als Gottes Gegenüber bewähren muss - oder scheitern kann. In dieser Freiheit liegt die Würde des Menschen - und sein Stolz. Gottes Selbstzurücknahme, in der diese Freiheit gründet, können wir nicht nach Bedarf widerrufen. Unser Glaube stellt sich Gott nicht als allmächtigen Chirurgen vor, der das Böse rechtzeitig aus der Wirklichkeit herausschneidet. Er bekennt sich zu einem Gott, der Schuld auf sich nimmt. Deshalb stirbt Christus am Kreuz, nimmt die Ohnmacht auf sich, wird gerade im Leiden als Zeuge der Liebe Gottes bestätigt. Gott tritt dem Bösen entgegen, indem er sich auf die Seite der Leidenden stellt. Auf die Frage, wie Gott das zulassen konnte, antworten Christen mit Blick auf das Kreuz, an dem Gott selbst das Böse auf sich nahm. "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, einer von diesen meinen geringsten Schwestern, das habt ihr mir getan." Kein biblisches Wort hat mich in den letzten Tagen mehr beschäftigt als dieses Wort aus Jesu großem Gleichnis vom Weltgericht. Dass er vorbehaltlos auf der Seite derer steht, die Unrecht erleiden, denen Gewalt angetan wird, die ihr Leben durch verbrecherische Gewalt verlieren, ist die wichtigste Antwort auf die Frage, wo Gott ist. Gottes Allmacht kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass wir alle vor ihm Rechenschaft ablegen müssen - auf welche Gewissheit des Glaubens oder des Unglaubens wir uns auch berufen. Auch die Täter von New York und Washington samt ihren Hintermännern werden vor dieses Gericht treten müssen. Deshalb können wir unsere Reaktion auf das Bemühen um irdische Gerechtigkeit beschränken. Wir brauchen nicht selbst himmlische Richter und Rächer zu sein - so groß unsere Trauer und unser Zorn auch sind.

Wolfgang Huber

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