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Meinung: Wie weiter nach dem 9. November (3): "Just do it"

Was die Demonstration am 9. November gebracht oder nicht gebracht haben wird, werden wir erst in ein paar Jahren beurteilen können.

Was die Demonstration am 9. November gebracht oder nicht gebracht haben wird, werden wir erst in ein paar Jahren beurteilen können. Dass es sie überhaupt gab, ist sicherlich gut. Dass viele bekannte, (wir brauchen Vorbilder!) und unbekannte Köpfe bei dieser Veranstaltung ein "gutes Gefühl" hatten und sich für ein paar Stunden auf eine scheinbar alles umspannende gesellschaftspolitisch-historische Idee verständigten, ist auch begrüßenswert. Und schön. Aber die Demonstration ist deswegen noch lange keine Leistung, die als nachhaltig beurteilt werden könnte. Dieser Beweis steht noch aus. Auf jeden Fall ist sie nur ein kleiner Baustein in einer fast unendlich scheinenden Reihe von kleinen und großen Aktionen, die unser Land braucht.

Die Sache ist so schwierig, wie sie einfach zu formulieren ist: Es geht um das Vormachen, nicht um das Reden. Das ist nichts Neues, aber das ist genau das Neue, was wir jetzt brauchen. Genausowenig, wie man Moral einfordern oder sie einer Gesellschaft diktieren kann, kann man ausländerfreundliches Verhalten durch Appelle einklagen. Oder glaubt jemand im Ernst, dass man gerade Jugendlichen, und hier gilt es an erster Stelle anzusetzen, durch Reden ein Vorbild sein kann? Hier - das ist die Urerfahrung von MTV im Dialog mit seinen Zuschauern - beeindruckt nur die Tat. Sonst nichts. Die beobachtbare, nachvollziehbare Tat. "Just do it" - seit Jahren der Werbeslogan von Nike und in meinen Augen einer der besten seiner Art - belegt diese Geisteshaltung. "Just do it", das gilt auch für die allseits geforderte Zivilcourage.

Ein Politiker oder Prominenter wird erst dann eine reale Vorbildfunktion für Jugendliche haben, wenn er von einer Tat berichten kann. Von einer Situation, in der er oder sie in eine Prügelei auf der Straße eingegriffen hat, ein Jugendzentrum irgendwo in Ostdeutschland vor der Schließung bewahrt hat, sich ein paar Stunden Zeit mit den Tätern und ihren Eltern genommen hat, um eingehend Beweggründe für solche Taten herauszufinden. Erst dann wird den öffentlichen Personen auch zugetraut, die Dinge, die sie ändern können, nachhaltig zu ändern. Erst dann wird ihnen gerade bei Jugendlichen echte und glaubwürdige Vorbildlichkeit zugesprochen. Erst dann, wenn eine Überzeugung wie diese gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit konsequent vorgelebt wird, hat das Prinzip der kollektiven Verantwortung eine Chance. Erst dann erscheint es dem einen oder anderen lohnenswert, sich als Individuum ähnlich zu verhalten - in Situationen, in denen es drauf ankommt.

Insbesondere junge Leute leben heute mehr als jede Generation zuvor in einer radikal nutzenorientierten Gesellschaft und treiben diese auch mit Lust voran. In einer Zeit, in der das Ich wichtiger ist als ein politisches Links oder Rechts, ist die soziale Tonlage ohnehin nicht stabil genug, um ein dringend benötigtes gemeinschaftliches Wertefundament zu schaffen.

Unter dem Deckmantel der Toleranz versteckt sich zu oft einfach Ignoranz. Liberaler Pragmatismus ist die Herangehensweise an fast alles. "Was bringt mir das?" ist die erste und wichtigste Frage dieser Zeit. Es muss gelingen, hierfür eine überzeugende Antwort in den Köpfen junger Leute zu verankern, eine Antwort auf die Frage, warum man sich denn bitte ab sofort und nachhaltig über ein Sommerloch hinaus gegen Ausländerfeindlichkeit wehren soll, eingreifen soll, mitmachen und sich gegen demokratiefeindliche Entwicklungen vehement wehren soll.

Diese Antwort scheint auf den ersten Blick einleuchtend. Aber sie bleibt für junge Menschen abstrakt. Ihr konkreter Nutzen, ihre Verankerung als eine absolut unabdingbare Notwendigkeit für ein friedliches Zusammenleben in diesem Land und vor allem ihr geschichtlicher Kontext, ist für junge Menschen gar nicht so einfach greifbar und erfahrbar zu machen. Man muss ihnen die Antwort deshalb vorleben. Das ist die einzige Chance, Schritt für Schritt, über individuelle Zusammenhänge wie diese mit all ihren Anforderungen an uns Deutsche in einer durch und durch individualisierten Gesellschaft zu vermitteln.

Es muss von einer Vielzahl Einzelner persönlich geschaffen werden, was gesamtgesellschaftlich vertreten werden soll. Und vertreten wird nur, was wirklich aus tiefster Seele gewollt wird. "Stärker als Liebe und Hass ist das Interesse für eine Sache", sagt Nietzsche. Wir müssen also nur noch das Handeln, das alltägliche, situationsbezogene, spontane und unspontane Handeln - und nicht das Reden - zum Gegenstand unseres größten Interesses machen. Das ist ein hartes Stück Arbeit. Vielleicht das härteste und längste, das vor allem die heranwachsende Generation je zu leisten haben wird. Alle aber, die das wollen, wirklich wollen, haben ein Recht auf Vorbilder - Vorbilder durch Taten.

Die Autorin ist geschäftsführende Programmchefin des Musiksenders MTV.

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