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Was WISSEN schafft: Zehn Sekunden zu früh

Die Frage nach Freiheit oder Determination ist so alt wie die Philosophie. Widerlegt die Neurologie den freien Willen?

Ein einfaches Experiment hält derzeit die Forscher in Atem. Der Neurobiologe John-Dylan Haynes ließ Probanden auf einen Knopf drücken, während er ihre Hirnaktivität mit einem Kernspintomographen beobachtete. Dabei sollten sie selbst entscheiden, welche Hand sie verwenden wollen. Haynes konnte, das war zu erwarten, anhand der Aktivitätsmuster bestimmter Hirnareale erkennen, ob die Probanden die rechte oder linke Hand nehmen. Überraschend war jedoch die zeitliche Abfolge: Die Signale aus dem Gehirn gingen dem Moment, in dem sich die Probanden subjektiv zu entscheiden glaubten, um ganze zehn Sekunden voraus. Haynes, der in Leipzig und Berlin forscht, hält aufgrund dieses Resultats „einen Eingriff des freien Willens für unplausibel“.

Hat der Mensch also keinen freien Willen? Ist jede Entscheidung in Wirklichkeit durch physikalische und chemische Prozesse vorherbestimmt (determiniert), was Neurowissenschaftler wie Wolf Singer und Gerhard Roth schon lange behaupten?

Die Frage nach Freiheit oder Determination ist so alt wie die Philosophie. Aristoteles sah die Quelle vernünftiger Entscheidungen in der menschlichen Seele, die – im Gegensatz zur Seele der Tiere – ihrem Wesen nach frei sein sollte. Im 17. Jahrhundert trennte dann Descartes, unter dem Einfluss der beginnenden exakten Naturwissenschaften, den unsterblichen Geist von der physikalisch und chemisch determinierten „Körpermaschine“. Seither streiten Philosophen, Neurobiologen und Theologen, wer für das Handeln des Menschen verantwortlich ist.

Das Leipziger Kernspin-Experiment führt allerdings, trotz der großen öffentlichen Resonanz, beim Problem der Willensfreiheit nicht weiter. Dass dem subjektiven Moment einer Entscheidung elektrische „Aktionspotenziale“ im Gehirn vorangehen, zeigte der US-Physiologe Benjamin Libet bereits Ende der siebziger Jahre. Der damals im Elektroenzephalogramm (EEG) gemessene Vorsprung der Nervensignale lag allerdings nur bei einer Drittelsekunde. Seitdem wird diskutiert, ob die messbaren Hirnaktivitäten die Willensentscheidung bestimmen oder deren Folge sind.

Haynes setzte jetzt zwar ein verbessertes Messverfahren ein („funktionelle Kernspintomographie“), das feinste Veränderungen der Stoffwechselaktivität im Gehirn erkennt. Um auch den Zeitpunkt der Entscheidung genau zu bestimmen, bekamen die Probanden in schnellem Wechsel Buchstaben angezeigt. Hinterher sollten sie sagen, bei welchem Buchstaben die Entscheidung für die rechte oder linke Hand gefallen war.

Dass jedoch das Ergebnis bewusster Willensentscheidungen bereits zehn Sekunden vorher feststehen soll, ist schier unglaublich. Demnach müsste ein Soldat zwangsläufig auf den Falschen schießen, wenn er erst im letzten Moment erkennt, dass dieser doch kein Feind ist. Autofahrer verdankten ihr Überleben ausschließlich dem Unterbewusstsein. Das Zentralorgan bestimmte schon einen Ballwechsel vorher, wann und wie der Tennisspieler ein Ass landen wird.

Dem subjektiven Moment einer Entscheidung gehen ohne Zweifel messbare neuronale Vorgänge unmittelbar voran. Mit Determinismus hat das allerdings nichts zu tun. Ursache ist vielmehr ein länger bekanntes, eigentümliches Phänomen: Die Gegenwart ist eine Illusion, die uns das Gehirn vorgaukelt. Optische, akustische und taktile Nervensignale werden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verarbeitet. Das Gehirn setzt die nacheinander eintreffenden Informationen zu einem künstlichen „Jetzt“ zusammen, in dem sich das Bewusstsein erlebt.

Die Verzögerung dieser subjektiven Gegenwart gegenüber der physikalischen Realzeit (in der ein Messgerät die vorauseilende Hirnaktivität feststellt) variiert sogar: Wenn das Gehirn, etwa beim Tennisspiel, unter Stress steht, reagiert es besonders zeitnah. Unter Entspannung verschiebt sich die subjektive Zeit dagegen nach hinten, beispielsweise im Halbschlaf – oder vielleicht auch beim Dösen in der Röhre eines Leipziger Kernspintomographen.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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