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Auf den Schienen des Güterbahnhofes von Auschwitz-Birkenau kamen die Häftlingstransporte an.

© dpa

Verfahren gegen NS-Verbrecher: Warum erst jetzt?

Mehr als 68 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird gegen Dutzende ehemalige Wachleute des Vernichtungs- und Arbeitslagers Auschwitz ermittelt. Dass solange still gehalten wurde, hängt mit einem Freispruch des BGH zusammen.

Warum erst jetzt? Gegen Dutzende Hochbetagte, ehemals Wachleute in Auschwitz, sollen Staatsanwälte ermitteln, um in einem letzten Akt die Menschheitsverbrechen der Nazis zu sühnen. Grund für die späte Beschuldigung sei der Weckruf durch das Urteil gegen John Demjanjuk gewesen, heißt es oft. Er war Aufseher im Lager Sobibor in Polen. 2011 verurteilte ihn das Landgericht München als Mordhelfer. Einen konkreten Tatbeitrag verlangte es nicht. Der gebürtige Ukrainer sei bei seinem Zwangsdienst ein Rad in der Vernichtungsmaschine gewesen. Das reiche.

Das Urteil wurde nie rechtskräftig, Demjanjuk starb. Es war auch kein „Paradigmenwechsel“ in der Verfolgung des NS-Unrechts, wie der Staatsanwalt Thilo Kurz in einem Aufsatz nachwies. Denn für den Mitarbeiter in der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen fügt es sich „nahtlos“ in eine Linie von Urteilen des Bundesgerichtshofs (BGH), wonach jeder Dienst in Vernichtungslagern als Mordbeihilfe anzusehen ist. Warum blieb niemand bei dieser Linie?

Weil es Willi Schatz gab, den Lagerzahnarzt von Auschwitz. Ihm, der sich bei der Selektion an der Rampe nur „herumgedrückt“ haben will, ließ der BGH den Freispruch durchgehen. Auch, weil Auschwitz nicht nur Vernichtungslager, sondern zudem Arbeitslager war. Die Strafverfolger verstanden den Freispruch als Aufforderung zum Stillhalten. Obwohl es jedenfalls zu ausschließlichen Tötungslagern wie Belzec, Sobibor und Treblinka eindeutige Urteile gab.

Der Fall Demjanjuk bot folglich einen Anlass, kann aber nicht Ursache für neue Ermittlungen gewesen sein. So erinnert einen das Geschehen an die erste Zäsur in der Aufarbeitung des NS-Unrechts, nach den Nürnberger Prozessen. Man glaubte, genug gestraft zu haben, bis ein SS-Offizier auf Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst klagte. Die Presse wurde aufmerksam, so kam es 1958 zum „Ulmer Einsatzgruppenprozess“, der zur Einrichtung der Ludwigsburger Stelle führte. Und weil ebenfalls ein Journalist dem damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Erschießungslisten aus Auschwitz zuspielte, kam auch dieses Verfahren ins Rollen. Danach gab es eine zweite Zäsur. Wieder glaubte man, genug gestraft zu haben. Wer wollte Wachleute verurteilt sehen? Sie interessierten kaum. Bis zu Demjanjuk. Bis heute.

Die Aufarbeitung des NS-Unrechts gilt als Schandkapitel der Geschichte. Kumpanei und Personalkontinuität seien schuld gewesen, heißt es; Richter hätten Richter geschützt, das Schlussstrichbedürfnis habe Übriges getan. Nur: Urteilen wir heute viel besser? Vielleicht war die Untätigkeit gegenüber den Wachleuten auch ein Versagen. Doch wenn, dann eines der Öffentlichkeit, nicht allein der Justiz. Es wäre keine Schuld der Vergangenheit. Es wäre eine der Gegenwart: unsere Schuld.

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