zum Hauptinhalt
Stillen ist nur eines der Beispiele, wie umstritten Körperlichkeit an öffentlichen Orten ist

© dpa/Patrick Pleul

Stillen in der Öffentlichkeit: Eine Frage des Respekts

Schamgrenzen wachsen aus kulturell und religiösen Traditionen. Öffentliches Stillen sollte nicht zum Kulturkampf werden. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Claudia Keller

Dürfen Mütter in der Öffentlichkeit stillen? Na klar dürfen sie – und tun es ja auch. Frauen legen ihre Säuglinge in Deutschland mit großer Selbstverständlichkeit in Cafés und auf Parkbänken an, in U-Bahnen, Bussen, Kaufhäusern, Vorlesungssälen und am Arbeitsplatz.

Ein Wirt hat einer jungen Frau in Prenzlauer Berg nun nahegelegt, das Café zum Stillen zu verlassen. Daraufhin hat sie eine Online-Petition gestartet und fordert die Bundesfamilienministerin darin auf, öffentlich stillende Mütter gesetzlich zu schützen. Bis Donnerstagmittag hatte sie bereits 5000 Unterschriften beisammen.

Öffentliches Stillen ist in Deutschland nicht verboten. Die Sache polarisiert, weil es um Körperlichkeit und Nacktheit geht, also um hoch sensibles Terrain. Die einen halten das Stillen für die natürlichste Sache der Welt und haben sich längst an den Anblick gewöhnt.

Eine stillende Brust ist anders als eine Brust auf einem Werbeplakat

Doch es gibt auch die anderen, darunter etliche Männer, die es „anstößig“ finden, ja sogar „ekelhaft“, dabei zuschauen zu müssen, wie Babys an entblößten Brüsten saugen. Das liegt daran, dass eine stillende Brust etwas anderes ist als ein nackter Busen auf einem Werbeplakat, der keine Skandale mehr auslöst.

Ein Baby zu stillen, ist ein sehr intimer Vorgang. Ein Moment innigster Körperlichkeit, der auch mit Sexualität zu tun hat. Da möchte nicht jeder Zeuge sein. So wie nicht jeder zuschauen möchte, wenn sich Pärchen minutenlang knutschen. Auch andere körperliche Regungen, den Schnupfen des Kollegen oder die Verdauungsprobleme des U-Bahn-Nachbarn, will man nicht dringend miterleben. Das hat nichts mit Verklemmtheit zu tun, sondern mit Schamgefühl, das teils angeboren ist, teils kulturell geprägt.

Wer sich entblößt, macht sich verletzlich

Darauf sollte man Rücksicht nehmen. Wohl die wenigsten wollen Müttern vorschreiben, dass sie zum Stillen zuhause bleiben müssen. Doch es muss nicht sein, dass sich stillende Frauen ins Schaufenster setzen. Die meisten Cafés und Restaurants haben auch weniger gut einsehbare Bereiche. Wer sich entblößt und intime Einblicke gewährt, macht sich angreifbar und verletzlich. Das erklärt, warum Debatten um Körperlichkeit und nackte Haut schnell durch die Decke gehen.

Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass die Frage, wie viel öffentliche Intimität und Entblößung wünschenswert ist, wie viel geduldet werden muss und was überhaupt nicht geht, ein für allemal geklärt werden kann. Freiheitsbedürfnisse und Schamgrenzen müssen immer wieder neu ausgehandelt und austariert werden. Und das ist gut so. Denn was als „natürlich“ gilt und was als sexuell aufgeladen, das hängt ab von Kultur, Religion und Tradition. Das aber sind dynamische Komponenten. Lebensstile ändern sich, heilige Bücher werden neu interpretiert.

Schamgrenzen sind in kultureller und religiöser Tradition verankert

In der atheistisch geprägten DDR war FKK Leitkultur. In den USA, wo viel Rücksicht auf religiöse Gefühle genommen wird, ist „oben ohne“ so tabu wie in Jordanien. Und ein Saunabesuch ist wohl nur in Deutschland mit rigorosem Ausziehen verbunden. Selbst die als so freizügig geltenden Schweden lassen beim Schwitzen die Badehose an.

Diese Fragen werden angesichts der vielen Neuankömmlinge aus arabischen und afrikanischen Länder wieder drängender. In islamisch geprägten Ländern sind die öffentlichen Schamgrenzen viel enger gezogen, und viele Flüchtlinge wundern sich über so viel nacktes Fleisch im Westen. Sie werden es ertragen müssen, wenn sich Frauen im Tiergarten oben ohne sonnen. Gleichzeitig müssen es die Liebhaber der Freikörperkultur ertragen, wenn auf der Parkbank zehn Meter weiter im Hochsommer verschleierte Frauen sitzen werden. Und für alle Männer muss klar sein: Die eine wie die andere Frau ist tabu.

Man muss nicht aus allem einen Kulturkampf machen

Hinweisschilder und Hausordnungen in Schwimmbädern und Parks sind hilfreich, aber sie können nicht alle Eventualitäten regeln. Vieles wird sich im Einzelfall im Gespräch klären müssen – und klären lassen. Voraussetzung ist, dass man das eigene Ego mal zurückpfeift und auf demonstratives Handeln verzichtet. Man muss nicht aus allem einen Kulturkampf machen. Dringend nötig wäre, eine alte Tugend neu zu beleben: den Respekt.

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat vor einigen Jahren beschrieben, wie wichtig der Respekt für die Verständigung einer sozial und kulturell ungleichen und zerklüfteten Gesellschaft gebraucht wird. Respekt hat viel mit Achtung und Distanz zu tun. Wenn beides fehlt, helfen auch Gesetze nicht weiter.

>

Zur Startseite