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Eine schwere Gewissensentscheidung - Hilfe zum Suizid.

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Selbstbestimmung und Suizid: Immer eine offene Wunde

Assistierter Suizid ist moralisch genauso problematisch wie die Tötung auf Verlangen Wer dafür ist, dass Ärzte beim Suizid assistieren, redet der Tötung auf Verlangen das Wort. Ein Essay eines Palliativmediziners

Ein Großteil der deutschen Bevölkerung vertritt die Auffassung, es sei legitim, Menschen an ihrem Lebensende bei ihrem Suizid zu unterstützen. Er beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht und die freie Verfügbarkeit über das eigene Leben. In der Tat ist Selbstbestimmung ein hoher Wert. Allerdings ist es zumindest aus philosophischer Perspektive fraglich, ob man die Entscheidung, sich selbst zu töten oder töten zu lassen, als einen Ausdruck von Selbstbestimmung verstehen kann. Bestimmt man sich selbst, wenn man das Selbst vernichtet? Wenn der Arzt dabei Hilfe leistet, zerstört er den letzten Zweifel der Alternativlosigkeit. Für Immanuel Kant ist der Suizid die Absage an Freiheit und Selbstbestimmung. Die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ formuliert pointiert „Mein Tod gehört mir!“. Auch unsere Volksvertreter sind zum Teil dieser Auffassung. Die Argumente, etwa, man trüge Verantwortung für sich, für seine Mitmenschen und vor Gott, und das Leben sei ein Geschenk, vermögen allenfalls als Gegengewicht die moralische Waage zwischen den Befürwortern und den Gegnern des assistierten Suizids in der Balance zu halten. Aufgelöst werden kann dieser Konflikt nicht. Auch die Forderung, nicht durch eigene Hand aus dem Leben zu scheiden, verblasst hinter der dezidierten Äußerung, Leid nicht erdulden und anderen Menschen nicht zur Last fallen zu wollen. Bleibt das sogenannte „Dammbruchargument“, das alles andere überragt: die Gefahr, durch die Liberalisierung der Sterbehilfe Menschen in Rechtfertigungszwang zu bringen, weiterleben zu wollen. Das ist etwa bedenklich, wenn Menschen das Vermögen anderer durch eine Unterbringung im Pflegeheim aufzehren oder sich in der Vereinsamung nicht gut genug umsorgt fühlen.

Ist die Beihilfe zum Suizid so weit von der Tötung auf Verlangen entfernt?

Das Argument, den Suizid wenigstens durch Ärzte begleiten zu lassen, weil die im Gegensatz zu Otto Normalverbraucher besonders kompetent seien, einen Giftcocktail zu verabreichen, wird durch die Berufsordnung der Bundesärztekammer konterkariert. Ärzte sind nicht für das Töten ausgebildet worden. Wo kommt die Kompetenz her? Man erfährt von schrecklichen Fehlversuchen beim Vollzug der Todesstrafe in den USA und von missglückten Versuchen in Ländern, in denen die Tötung auf Verlangen durch einen Arzt durchgeführt wird. Gegen sie spricht sich übrigens ein großer Teil der Deutschen dezidiert aus.

Auch Sterbehilfeorganisationen wollen die meisten nicht. Beihilfe zum Suizid aber schon. Moralisch lässt sich das nicht begründen. Eine ethisch gebotene Handlung ist nicht deswegen zu verurteilen, weil sie etwas kostet oder organisiert angeboten wird. Ein vorsichtiges Fazit an dieser Stelle aus heutiger Sicht durch die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland lautet demnach: Beihilfe zum Suizid ja, Sterbehilfeorganisationen nein, Tötung auf Verlangen nein. Ist aber die Beihilfe zum Suizid tatsächlich so weit von der Tötung auf Verlangen (früher aktive Sterbehilfe genannt) entfernt? Ich meine: nein. Wer sich für die Beihilfe zum Suizid ausspricht, kann sich gleich für die Tötung auf Verlangen positionieren. Warum?

1. Ein Argument, das ins Feld geführt wird, um die Beihilfe zum Suizid von der Tötung auf Verlangen abzugrenzen, lautet: Der Patient würde beim assistierten Suizid eine deutlich aktivere Rolle einnehmen, weil er selbst Hand an sich legt, während im anderen Fall der Arzt die Tatherrschaft übernimmt. Doch in beiden Fällen besitzt der Patient die komplette Kontrolle über den Vorgang und zwar vom ersten Gedanken über die Diskussion bis hin zur Verabreichung der todbringenden Substanz. Zu jedem Zeitpunkt ist der Patient in der Lage, seine Meinung zu ändern und den Prozess zu stoppen. Der einzige Moment, in dem dies nicht mehr möglich ist, ist der, bei dem der Arzt die todbringende Spritze appliziert. Nur diese eine Sekunde unterscheidet beide Prozeduren voneinander. Die gesamte gesellschaftliche Debatte zur Frage der Sterbehilfe konzentriert sich auf diese letzte Sekunde. Argumente gegen die eine Prozedur sollten demnach im Prinzip auch für die andere Prozedur gelten. Der an sich unfreiwillige und widernatürliche Zwang, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden und sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen, die für die Ausweitung der Beihilfe zum Suizid sprechen mögen, beträfen auch die Tötung auf Verlangen.

Töten aus Mitleid

2. In bestimmten Grenzfällen lässt sich schon jetzt die Hilfe beim Suizid von der Tötung auf Verlangen kaum trennen. Der einzige Unterschied liegt in der Tatherrschaft. Es kann aber gut sein, dass der Patient selbst bei ausgeprägtem Willen körperlich zu schwach ist, um selber Hand an sich zu legen. Dann wäre bei einem Gelähmten bis hin zum aktiven Aufsaugen der tödlichen Substanz die Tatherrschaft ohnehin bei der fremden Person und der Weg, die Substanz selbst in den Körper des Patienten zu bringen, für eine fremde Person nicht weit. Aus moralischer Perspektive macht es keinen Unterschied. Es ist vielmehr eine technische Petitesse, die hier den scheinbar fulminanten Unterschied zwischen Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe) ausmacht. Spräche man sich für eine Liberalisierung der Beihilfe zum Suizid und gegen die Tötung auf Verlangen aus, wäre es unfair körperlich schwachen lebensmüden Patienten gegenüber. Mit anderen Worten: Da es keinen moralischen Unterschied zwischen beiden Prozeduren gibt, sollte man beide zulassen oder beide ablehnen.

Bei Bankräubern zählt auch nicht Tatherrschaft

3. Betrachten wir die Rolle des Arztes. Er soll nach Auffassung einiger Medizinethiker und Politiker als Helfer den vorzeitigen und nicht natürlichen Tod herbeiführen. Macht es für ihn einen relevanten moralischen Unterschied, ob er einem sterbewilligen Patienten einen Giftcocktail „nur“ verabreicht oder eine todbringende Substanz „aktiv“ zuführt? Beide Vorgänge unterscheiden sich lediglich in der Applikation der Substanz. Der Arzt bleibt moralisch verantwortlich. Bankräuber, die den Überfall planen, die Stellung halten und diejenigen, die das Geld aus dem Tresor stehlen, werden in vergleichbarer Weise für ihre Verantwortung herangezogen, obwohl lediglich einer das Geld aus dem Tresor entwendet hat. Auch bei einem Bankraub mit Todesfolge wird der Todesschütze nur unwesentlich härter bestraft als seine Komplizen. Mit anderen Worten: Der Arzt kann sich nicht aus der Verantwortung des vorzeitigen Todes ziehen, indem er die Tatherrschaft dem Patienten überlässt. Übertragen wir nämlich die Verantwortung für bestimmte Sachverhalte auf bestimmte Personen, wählen wir zumeist aus vorab vermuteten Grundzusammenhängen aus. So machen wir beispielsweise nicht die Schwerkraft für einen Flugzeugabsturz verantwortlich, sondern einen Pilotenfehler. Niemand zwingt uns, das zu tun. Wir übertragen Verantwortung manchmal aus guten und manchmal aus fadenscheinigen Gründen trotzdem. Wer trägt also die eigentliche Hauptverantwortung für den vorzeitigen Tod des Patienten? Ist es doch der Arzt, so erscheint mir die technische Durchführung zweitrangig.

4. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, warum das Ursache-Wirkung-Prinzip zwischen Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid keinen moralischen Unterschied rechtfertigt. Würden wir die Rolle des Arztes bei der Herbeiführung des Todes auf einer Skala platzieren, an deren einem Ende seine Rolle maximal passiv (er stellt dem Patienten lediglich Informationen zur Verfügung) und am anderen maximal aktiv ist, dann wäre die Handlung des Arztes, auf medizinisch nicht gebotene lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten (sogenanntes „Sterbenlassen“), immer noch weit weniger aktiv als jede Hilfe beim Herbeiführen des vorzeitigen Todes. Nichtsdestoweniger mögen manche die Auffassung vertreten, dass der relativ geringe faktische Unterschied in der Rolle des Arztes zwischen Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen dennoch von entscheidender Bedeutung ist. Und insofern würde es doch einen gewaltigen Unterschied machen, ob jemand nur erheblich für den Tod eines anderen verantwortlich ist oder ihn selbst herbeiführt. Hier kommt das Integritätskonzept von Bernhard Williams ins Spiel: Ein Mann wohnt in einer südamerikanischen Stadt der Exekution von 20 unschuldigen Menschen bei, die er verhindern kann, indem er einen der Delinquenten selbst erschießt. Ist es dann nicht gerechtfertigt, das Leben eines Menschen zugunsten anderer zu opfern? Rational betrachtet mag das so sein. Doch wer von uns könnte das tun? Der uns innewohnende Gewissenskonflikt hat mit unserer eigenen moralischen Integrität zu tun. Es macht eben doch einen gewaltigen Unterschied aus, ob man selbst Hand anlegt und eine aktive Handlung vollzieht oder aus allgemeinen Erwägungen handelt, die die mathematische Konsequenz offenlegt. In beiden Situationen gelangt der Besucher in eine Situation hinein, die er selbst nicht geschaffen hat. Ein Arzt, der sich auf die Hilfe beim Suizid freiwillig einlässt, übernimmt aber eine aktive und zentrale Rolle, indem er den vorzeitigen Tod des Patienten letztlich mit herbeiführt. In beiden Fällen ist noch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit mit im Spiel. Im Fall der Hinrichtung unschuldiger Menschen müsste die handelnde Person mit der eigenen moralischen Integrität brechen, niemals und unter keinen Umständen jemanden umzubringen. Auch wenn bei einem Sterbenskranken der Tod vorzeitig erwirkt wird, kann von Gerechtigkeit keine Rede sein, denn der naturgemäße Wunsch des Menschen ist es, zu leben. Die moralische Integrität des Arztes, der den Patienten bei seinem vorzeitigen Tod unterstützt, hängt aber genau davon auch ab.

Man nimmt das Irritierende eines Suizids kaum noch wahr

In einer Zeit, in der der Kontakt zwischen Arzt, Pflegekräften und Patient stetig abnimmt, doch das Bedürfnis nach Unterstützung steigt, ist die Gefahr groß, von Möglichkeiten des vorzeitigen Todes Gebrauch zu machen. Umso gefährlicher sind suggestive Fragen durch Meinungsforschungsinstitute an den Passanten auf der Straße, die das Wort der Tötung nicht gebrauchen, sondern eine vermeintliche Alternative anbieten zwischen „Sterbehilfe“ gegenüber einem qualvollen Tod oder als Alternative zu einem Aufenthalt in einer Pflegeeinrichtung. Wer ist schon gegen eine „Hilfe“? Und wer will sich von einem Arzt oder dem Staat vorschreiben lassen, wie er zu sterben hat? Würde die Öffentlichkeit anders befragt und wären die Menschen über die Möglichkeiten der Palliativmedizin besser aufgeklärt, gäbe es sicherlich andere Ergebnisse.

Es ist nicht nur das qualvolle Leiden, warum Menschen vermuten, vorzeitig aus dem Leben gehen zu müssen, sondern auch die Befürchtung, anderen Menschen zur Last zu fallen. Das ist ein Appell, aufzuklären und es nicht so weit kommen zu lassen. Hinzu kommt, dass mit der Legalisierung der Tötung auf Verlangen die Inanspruchnahme in den Niederlanden und Belgien eben doch deutlich zugenommen hat. Dort tötet man inzwischen aus „Mitleid“ – auch Menschen, die gar nicht zugestimmt haben. Gleichzeitig wurde der Kreis derer, die sie in Anspruch nehmen können, über die Jahre erheblich ausgeweitet und umfasst in Belgien sogar Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit psychischen Störungen. Das alles spricht gegen die Tötung auf Verlangen.

Jeder einzelne Suizid in unserer Gesellschaft hinterlässt eine offene Wunde, denn sein Umfeld hat ihn nicht verhindert. Man nimmt das Irritierende eines Suizids kaum noch wahr. Wir tun so, als ob es Sache jeder Person sei, einen Suizid zu wollen oder nicht, und übersehen, dass es sich letztlich um eine Rückübertragung sozialer Defizite handelt. Was die einen als Selbstbestimmung und Freiheit definieren, ist in Wirklichkeit Entsolidarisierung unter der Tarnkappe. Also sollte unsere Gesellschaft alles unternehmen, um Suizide zu verhindern, und Möglichkeiten, vorzeitig aus dem Tod zu scheiden, von staatlicher Seite begrenzen. Stattdessen brauchen wir eine offene Gesprächskultur über Suizidgedanken, denn nur dann wird es möglich sein, den Verzweifelten zu helfen. Diese Menschen brauchen anstelle eines Gesetzes zur medizinischen Freigabe des assistierten Suizids politische Signale, die ihnen Hoffnung geben, dass es in unserer Gesellschaft Menschen geben wird, die für sie immer da sind (Ärzte und Pflegende, Hospizmitarbeiter, Ehrenamtliche).

Aus diesem Grund plädiere ich für ein generelles Verbot des assistierten Suizids, wie es in England, Italien, Polen, Österreich, Dänemark und Spanien der Fall ist. Die Tötung auf Verlangen muss natürlich weiterhin unter Strafe gestellt bleiben.

Andreas S. Lübbe ist Palliativmediziner und Autor des Buches "Für eine gutes Ende - Von der Kunst, Menschen in ihrem Sterben zu begleiten" (Heyne Verlag, 2014),

Andreas S. Lübbe

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