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In seinem neuen Gedicht geht der Literaturnobelpreisträger Günter Grass mit Israel hart ins Gericht.

© dpa

Provokantes Gedicht: Günter Grass – ein Kreis schließt sich

Wenn der Geist in Deutschland seine Hand nach dem Mob ausstreckt, meint unser Autor Malte Lehming, droht einerseits die Vergeistigung des Mobs, andererseits die Verrohung des Geistes.

Ist Günter Grass ein Antisemit? Ja, das ist er. Das beweist sein jüngstes Gedicht "Was gesagt werden muss", das ebenso treffend "Die Juden sind unser Unglück" hätte heißen können. Offener und gleichzeitig verdruckster hat selten ein deutscher Nachkriegs-Intellektueller im Repertoire der judenfeindlichen Klischees gewildert – und das Resultat dann als gewissenszerknirschte Friedensverantwortung getarnt. Hier muss keine textexegetische Überführungsarbeit mehr geleistet werden. Das Poem spricht für sich. Wer meint, es noch entlarven zu müssen, heuchelt Disputationsmöglichkeiten, die es nicht gibt.

Was aber ist so bestürzend an dem Vorgang, abgesehen vom Antisemitismus des Autors, der in seiner Lupenreinheit ja fast schon wieder etwas Erfrischendes hat? Vielleicht das: Wenn der Geist in Deutschland seine Hand nach dem Mob ausstreckt, droht einerseits die Vergeistigung des Mobs, andererseits die Verrohung des Geistes.

Sehen Sie in der Bilderstrecke: Fotos aus dem Leben und Wirken des Günter Grass

Grass kennt sein Land, er kennt die Menschen, kennt ihre Gefühle und Ressentiments. Er weiß, dass eine Mehrheit der Deutschen in Israel eine Gefahr für den Weltfrieden sieht. Er weiß, dass man hierzulande, wenn's um Juden geht, die Fakten auf den Kopf stellen muss, um tosenden Beifall zu erheischen. Also nicht sagen, wie es faktisch ist: Der Iran droht Israel mit atomarer Auslöschung, sondern, wie es dem Unterbewusstsein besser passt: Israel droht mit Auslöschung des iranischen Volkes.

Grass ist zu klug, um als Wirkung seines Gedichts nicht die klammheimliche Freude derer antizipiert zu haben, die sonst so verschämt wie unverschämt hinter vorgehaltener Hand vor sich hin giften: "Über Juden darf man wegen des Holocausts ja sowieso nicht die Wahrheit sagen." Nein, Grass will im hohen Alter mitschwimmen in diesem warmen Pool, dessen giftigen Oberflächendampf nur jene riechen können, die nicht in ihn eintauchen. Bewusst schlägt sich Grass auf die Seite der "schweigenden Mehrheit", der er eine Stimme sein möchte – wie damals, als eine schweigende Mehrheit schon einmal eine Stimme fand, die dann rasch, durch Lautsprecher und Panzergerassel verstärkt, in ganz Europa zu vernehmen war.

Sich selbst und sein Werk verrät Grass damit nicht. Ein Kreis schließt sich nur. "Was gesagt werden muss" könnte sogar der Schlüssel zu seinem Werk sein, statt ein Ausrutscher, eine Verirrung, eine Alterssenilität. Wer plötzlich im "Nationalzeitungs"-Jargon dichtet, ohne es zu merken, hat es vielleicht schon immer getan, ohne dass es andere merkten.

Im Jahre 1959 erhielt Hannah Arendt von der Stadt Hamburg den Lessingpreis. Ihre Dankrede "Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten" gehört zu dem Tiefsten und Humansten, was je über das Verhältnis von Geist und Macht, Juden und Deutschen, geschrieben wurde. Darin heißt es: "Lessing hat mit der Welt, in der er lebte, seinen Frieden nie gemacht. Sein Vergnügen war, ,den Vorurteilen die Stirne zu bieten‘ und dem ,vornehmen Hofpöbel die Wahrheit zu sagen‘; und wie teuer er für diese Vergnügungen bezahlt haben mag, es waren Vergnügungen im wörtlichen Sinne."

Grass macht seinen Frieden mit Deutschland, er biedert sich dem Pöbel an und bedient dessen Gier nach historischer Entlastung. Er verrät den Geist und schändet das Wort. Der Anti-Lessing ist ein Anti-Semit. Was von beidem ärger ist, ist die einzige Frage, die noch zu debattieren lohnt.

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