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Freigegeben. Das Gebiet um die Gerhart-Hauptmann-Schule in der Ohlauer Straße ist nun wieder für jedermann zugängig. Die Polizei zog sich in der Nacht zurück.

© Sara Schurmann

Politik ohne Verantwortung: Leeres Land

Vom Weißen Haus zum Roten Rathaus: Überall sind Politiker an der Macht, die gar keine Politiker sind.

Hillary Clinton stellt heute im Schillertheater in Berlin ihr Buch vor. Es heißt „Entscheidungen“ („Hard Choices“ auf Englisch). Nach 883 Seiten über Burma, Gaza und Haiti kommt Clinton zu der Frage, die alle Leser noch mehr interessiert als Burma oder Haiti: Wird sich die ehemalige amerikanische Außenministerin ins Rennen um die nächste Präsidentschaft begeben? „Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Das Buch bricht ab, wie in Hollywood, wenn es am spannendsten ist, weil Clinton diese Entscheidung nicht trifft, sondern verschiebt.

François Hollande ist der Präsident eines Landes, das in der Krise steckt, wirtschaftlich schon lange, nun bröckelt die Glaubwürdigkeit des gesamten politischen Systems Frankreichs. Doch Hollande rührt sich nicht. Vor ein paar Wochen waren Bilder von ihm aufgetaucht, wie er hinten auf einem Motorroller, mit einem Helm auf dem Kopf, zu seiner neuen Freundin gefahren wird. Der Helm wirkte schon damals wie ein Schutz vor der bedrohlichen Umwelt, er kapselte den französischen Präsidenten von der Realität seines Landes ab. Es ist ein Wunder, dass Hollande bei dem EU-Gipfel vergangene Woche in Brüssel nicht auch mit einem Helm auf dem Kopf am Tisch saß.

Monika Herrmann hat eineinhalb Jahre geduldet, dass Flüchtlinge ein Schulgebäude in Kreuzberg besetzt halten. Die Bezirksbürgermeisterin der Grünen hat in dieser Zeit versucht, einen Kompromiss zu finden zwischen dem Rechtsstaat und ihren eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt sein sollte. Als sie zwischen diesen beiden Positionen keinen Kompromiss finden konnte, hat sie den Zustand in der Schule einfach belassen, wie er ist. Herrmann, sagt die ehemalige Ausländerbeauftragte Barbara John, hat ihre die Verantwortung nicht wahrgenommen.

In den vergangenen Jahren sind überall Politiker einer Generation an die Macht gekommen, die der Macht entsagt. Es wird keine Politik mehr gemacht, im Weißen Haus nicht und im Roten Rathaus nicht. Vielmehr werden Dinge schleifen gelassen und einer langsamen Verwahrlosung überlassen. Was dabei entsteht, ist keine neue Form der politischen Selbstbestimmung, keine Demokratie der flachen Hierarchien, sondern ein Machtvakuum.

Die amerikanische Außenpolitik der vergangenen Jahre, für die neben Barack Obama eben auch Hillary Clinton verantwortlich war, überlässt die Welt zunehmend sich selbst. Im Nahen Osten, in Nordafrika, selbst in Osteuropa ist das entstandene Machtvakuum zu spüren. Es wird gefüllt von russischen Westentaschenimperialisten und religiösen Fanatikern, von denselben Diktatoren, für die eben noch rote Linien gezogen wurden.

Das Kreuzberger Machtvakuum haben die Flüchtlinge gefüllt. Sie haben am Ende, da die Politik sich der Entscheidung verweigerte, selbst entschieden. Die Bezirksbürgermeisterin kann mit einiger Berechtigung behaupten, dass sie nicht weniger getan hat als all die anderen, die sich für die Flüchtlingsproblematik verantwortlich fühlen könnten und zugeschaut haben, die Italiener, die anderen Bundesländer, der Innenminister, der Innensenator Frank Henkel, der Regierende Bürgermeister. Herrmann hat genauso wenig getan wie all die anderen und genauso wenig Verantwortung übernommen. Gleichzeitig war niemand vom Nichtstun ideologisch so überzeugt wie sie und ihr grüner Vorgänger Franz Schulz.

Es gibt unterschiedliche Wege, sich vor der Entscheidung zu drücken. Hillary Clinton studiert. Während der ersten Amtszeit ihres Mannes versuchte sie eine Gesundheitsreform mit Experten, aber ohne die Abgeordneten auf die Beine zu stellen. Monika Herrmann sucht den Dialog. François Hollande setzt sich einen Helm auf. Zum Erfolg führt keiner dieser Wege. Clintons Reform wurde abgelehnt, Hermanns „Kreuzberger Kompromiss“, der fünf Millionen Euro gekostet haben soll, belässt die Flüchtlinge einfach dort, wo sie ohnehin schon waren, und in Frankreich gewinnt der rechtsradikale Front National täglich an Stimmen.

„Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen“, schreibt Kurt Tucholsky. Und doch wird im Moment überdurchschnittlich viel liegen gelassen. Ob Clinton oder Obama, ob Herrmann oder Henkel, sie sind alle nur Beispiele für eine ganze Generation von Politikern, die gar keine Politiker mehr sind, sondern erschlaffte Utopiker oder einfach nur erschlafft. Die auf der Suche nach der einen goldenen Entscheidung, durch die sich die Probleme auf einen Schlag und zur Freude aller in Luft auflösen, auf der Strecke bleiben. Die, obwohl sie die Macht haben, die Macht nicht anwenden. Die sich – und das auf Kosten aller anderen – nicht entscheiden. Mit Politik hat das nichts zu tun.

Nach dem Rücktritt von Christian Wulff hat Frank Schirrmacher über die politischen Babyboomer geschrieben, „dass viele von denen, die aus dieser Generation in die Politik gingen, nach ungezählten Versprechen nur Leere hinterlassen haben“. Das deckt sich nicht zufällig mit dem, was einer der Flüchtlinge, nach einer langen Odyssee durch Deutschland in Berlin gelandet, gesagt haben soll: „Wir haben gesehen, wie leer euer Land ist.“

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