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Wenn Kinder verheiratet werden, ist das dann kulturell bedingt und also jenseits von Gut und Böse?

© dpa

Political Correctness: Im Wohlgefühl der Moralität

Kann man für die Integration von Ausländern und trotzdem fremdenfeindlich sein? Ja, das geht, meint Gunda Trepp. Das "richtige" politische Weltbild leisten sich nämlich oft die, die es im Alltag nicht leben müssen. Ein Essay.

In Ägypten werden die Christen verfolgt. Warum? Weil sie sich während des Putsches auf die Seite des Militärs gestellt hätten, weiß der Kommentator einer deutschen Tageszeitung. Das klingt wie „selbst schuld, hätten sie doch ein wenig nachgedacht“.

Vor einigen Wochen beklagte sich eine elfjährige Muslimin in einem Video darüber, dass sie Kinderbraut werden solle. Das Video wird millionenfach angeklickt. Phantastisch, schreiben Frauenrechtlerinnen im Libanon. Nur wenn dieses massive Problem in der islamischen Gesellschaft immer wieder thematisiert werde, gebe es Hoffnung, die Stellung der Mädchen jemals zu verbessern. Einige deutsche Redakteure dagegen haben nichts Besseres zu tun, als auf die Quelle des Videos hinzuweisen – Memri, eine Organisation, die Texte aus arabischen Medien ins Englische übersetzt –, die strikt konservativ und damit aus ihrer Sicht islamfeindlich sei, und darauf, dass Kinderehen auch in westlichen Sekten vorkämen.

Solche Äußerungen klingen verständnisvoll und weltoffen. In Wirklichkeit sind sie anmaßend. Und das Wohlgefühl, das die vermeintlich moralische Überlegenheit mit sich bringen mag, gibt es kostenlos. Den liberalen Kräften dagegen wird in ihrem Kampf gegen einen fanatisierten Islam die Unterstützung, weil faire Berichterstattung, entzogen. In Ägypten sind religiöse Minderheiten immer benachteiligt und verfolgt worden. Die große jüdische Gemeinde dort gibt es nicht mehr, und die Christen hatten unter Mubarak zwar ein wenig Ruhe, doch gedemütigt hat er sie manchmal auch. Und unter der Herrschaft der Muslimbruderschaft haben mehr als 100 000 Christen das Land bereits verlassen. Sie werden nun also nicht bedroht und getötet, weil sie sich auf die Seite des Militärs gestellt haben, sondern sie haben sich auf die Seite des Militärs, des kleineren Übels, gestellt, weil etliche von ihnen vorher bedroht und manche von ihnen getötet worden waren.

Und ja, Memri wird von Konservativen unterstützt, doch die Redaktion besteht aus Juden, Christen und Muslimen. Ich lese ihre Übersetzungen jeden Tag. Sie berichten über Hassredner und neue Fatwas gegen Liberale genauso wie über nigerianische Frauenrechtlerinnen. Thomas Friedman, weltweit geachteter, linksliberaler Autor der „New York Times“, bezeichnet die Website als eine der besten und wichtigsten Informationsquellen über den Nahen Osten.

Warum traut man den Menschen nicht zu, selbst zu urteilen? Ist es die Angst vor den eigenen Abgründen und noch mehr vor denen der anderen, wie es der amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Howard Schwartz glaubt? Für ihn sind beschönigende Kommentare zum radikalen Islam eine Form der „Political Correctness“. Schwartz, der das Phänomen in seinem Land seit Jahrzehnten erforscht, glaubt, dass Intellektuelle mittlerweile freiwillig ganze Denkräume zu Tabuzonen erklärten, weil sie unerwünschte Reaktionen befürchteten. „Sie haben unglaubliche Angst, was wohl unter der Oberfläche brodelt. Sie wollen lieber nicht wissen, was für eine Soße herauskommt, wenn sie den Deckel abnehmen”, sagt Schwartz. „Sie trauen sich nicht, und sie trauen den anderen nicht.”

So gesehen macht es Sinn, dass man in den USA schon bei Kindern anfängt, die Welt aus einer Sicht zu deuten. Textbuchverlage haben unter dem Druck diverser Interessengruppen so viele Worte auf den Index gesetzt, dass es schwer ist, kluge Sätze für Viertklässler zu formulieren. Einst gebräuchliche Worte gelten als sexistisch und chauvinistisch, und die Gründe dafür sind zum Beschreiben zu kompliziert. So verkürzt man den gesellschaftlichen Radius bereits in der Schulzeit.

Die Wissenschaftlerin Diane Ravitch, die im Clinton-Kabinett im Erziehungsministerium saß, nennt Dutzende von Beispielen in ihrem Buch „Die Sprachpolizei“. Sie hält diese Auswüchse politischer Korrektheit für verheerend. In der neuesten Ausgabe von Mark Twains „Tom Sawyer“ ist der Begriff „Nigger“ durch „Sklave“ ersetzt worden. Soll eine solche Umbenennung rückwirkend das frühere Leid der Schwarzen mindern? Und ich bezweifle, dass unsere Gesellschaft gerechter wird, wenn Kinder nicht mehr lernen, was Yachten sind, weil der Begriff zu elitär ist.

Politisch korrekte Meinungen und Handlungen hätten ohnehin nichts mit einem moralischen Prinzip zu tun, sondern mit einer Festlegung, sagt Schwartz. „Teile der Gesellschaft einigen sich darauf, wer der Unterdrückte ist und wer der Unterdrücker“, sagt er. „Wenn das einmal definiert ist, wird alles in diesem Licht gespiegelt. Selbst wenn das designierte Opfer dann furchtbare Dinge tut, wird immer unterstellt werden, dass es aus irgendeinem Grund in seinem Willen nicht frei war.“ In Amerika habe die Übereinkunft auf bestimmte Schablonen zu einem Klima der Einschüchterung und Enge geführt, besonders an den Universitäten. Neulich, sagt Schwartz, habe einer seiner Kollegen sich kritisch geäußert über die Vorgabe in manchen US-Staaten, dass ein bestimmter Prozentsatz der Studenten schwarz oder lateinamerikanischer Herkunft sein müsse. Die „Affirmative Action”, die Minderheiten gezielt fördern soll, hat wegen des Fokus’ auf Hautfarbe und Rasse zu so vielen Ungereimtheiten geführt, dass die öffentlichen Universitäten in Kalifornien sie längst aufgegeben haben. Jüngst hat das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten den Hochschulen strengste Kriterien für die positive Diskriminierung abverlangt. „Eine der älteren Kolleginnen hat ihn zurechtgewiesen“, sagt Schwartz, „aber nicht wie eine Kollegin, sondern wie eine Mutter, die ihr Kind ausschimpft, das etwas Schlimmes angestellt hat.“ Sie hatte aus ihrer Sicht das Recht dazu. Er war der Rassist. Sie war die Gute.

Die zwei Seiten der Medaille

Was bewirkt ein derart zementiertes Weltbild? Für die Menschen? Und für die politische Kultur? Woher nehmen Menschen diese moralische Überheblichkeit? Mich erinnert es an einen Dialog mit Judith Butler. Die amerikanische Genderforscherin hat vor einigen Jahren den Preis der Organisatoren des Christopher-Street-Day in Berlin abgelehnt. Völlig überraschend für die Veranstalter und mit der Begründung, der CSD sei in Teilen rassistisch, was sich besonders daran zeige, dass er oft anti-muslimisch sei. Keine Ahnung, was sie damit meine, sagten damals schwule Freunde. Doch einige von ihnen hätten die zunehmende Aggressivität junger Immigranten beklagt, die viele mittlerweile davon abhalte, nachts durch bestimmte Straßen zu gehen.

Ich bat Judith Butler um ein Interview. Jederzeit in der kommenden Woche, antwortete sie, „wählen sie einen Tag”. Worum es denn gehe? Um die Preisverleihung, ihre Vorwürfe damals und um Political Correctness, sagte ich. „Sie denken hoffentlich nicht, ich hätte den Preis aus Gründen der politischen Korrektheit abgelehnt“, sagte sie. Wie sie sicherlich wisse, hätten nicht wenige diesen Eindruck gehabt, windete ich mich raus. Und hörte danach nicht mehr von ihr. Auf weitere Nachfragen bat sie mich schließlich, ihr die Fragen schriftlich zu geben. Sie hat sich nie mehr gemeldet. Ich fand es schade.

Ich hätte ihr gern von den zwei Lesben aus Amsterdam erzählt, mit denen ich kurz zuvor zu Mittag gegessen hatte. Die Stadt sei nicht mehr, was sie vor zehn Jahren gewesen sei, hatten die Frauen erzählt, eine Professorin und eine Hausfrau, Mütter von zwei Kindern. Die Devise „leben und leben lassen“ gelte nicht mehr, nachdem „die Marokkaner nun nicht mehr nur schwule Männer, sondern auch Lesben attackieren“. Mehr als die Hälfte der Überfälle auf Schwule in Amsterdam werden von Migranten begangen. Ich hätte Butler gerne gefragt, warum es aus ihrer Sicht richtig ist, diesen Teil der Wirklichkeit auszublenden. Und was uns das moralische Recht gibt, ihn nicht zu sehen.

Ich wüsste gerne, was wir mit den Opfern der designierten Opfer tun sollen. Sind sie keine Opfer mehr? Sind sie Kollateralschäden, die einem höher gestellten Ziel untergeordnet sind? Welchem Ziel? Worum geht es im Zusammenleben von Menschen eigentlich, wenn nicht darum, zu einer Gesellschaft beizutragen, in der wir uns mit Achtung, Aufrichtigkeit und Empathie begegnen und so ein Klima schaffen, in dem jeder seine begrenzte Zeit auf dieser Erdkugel in größtmöglicher Freiheit leben und sein Potenzial bestmöglich ausschöpfen kann? Und ist es nicht überhaupt anmaßend und arrogant, eine ganze Gruppe unter kollektiven Opferschutz zu stellen? Es zeige einen „Grad größter Diskriminierung, Angehörige einer Minderheit zu Opfern zu erklären, um die man sich kümmern muss“, sagt Howard Schwartz.

Vor fünfzehn Jahren habe ich ein Buch über Jugendgewalt geschrieben und dazu mit Dutzenden junger Männer gesprochen. Rechtsextreme im Osten und muslimische Schläger in Kreuzberg hatten zweierlei gemeinsam: ihre Verachtung für Sozialarbeiter, die alles erklären und verstehen konnten, und ihre Sehnsucht nach Grenzen. Opfer? Sie so zu bezeichnen wäre eine Beleidigung für sie gewesen. Und die iranische Professorin und Frauenrechtlerin, die ich im letzten Sommer kennenlernte, ist mit Sicherheit nicht angewiesen auf einen Redakteur, der ihr in den Rücken fällt, indem er die Benachteiligung und Misshandlung von Frauen, gegen die sie stolz und selbstbewusst kämpft, schreibend verklärt und damit hinnimmt. Weil er ja ihre Kultur nicht beleidigen möchte.

Es ist aber nicht ihre Kultur. Sie bekämpft sie. Es kommt mir vor wie eine einseitig hergestellte Harmonie oder besser Scheinharmonie, denn sie beruht ja nur auf Bildern im Kopf. Es sind herablassende Gesten. Begegnungen zwischen Menschen sehen anders aus.

Doch es mag bequemer sein, auf Begegnungen zu verzichten. Der Bielefelder Konfliktforscher und Psychologe Rainer Dollase hat die Einstellung Deutscher zu muslimischen Mitbürgern untersucht und die soziale Distanz zwischen beiden Gruppen. Grob gesprochen lautet das Ergebnis der anonymen Umfrage: Lehrer, Journalisten, Sozialpädagogen und andere Bürger in „braven Berufen“, wie Dollase sie nennt, haben mehrheitlich die richtige Einstellung. Sie bezeichnen sich als insgesamt ausländer- und muslimfreundlich. Das reicht ihnen aber auch. Erschreckend wenige haben überhaupt Kontakt zu Muslimen, und die meisten wollen keinen.

Die richtige Einstellung habe mit dem realen Verhalten der Menschen nichts zu tun, sagt Dollase. „Man kann sagen, dass sich viele die politisch korrekte Haltung leisten, weil sie sie im Alltag nicht leben müssen“, sagt er, „in der Integration hilft uns das nicht weiter.“ Der einzige Weg zu einer gelungenen Integration seien Bildung und reale Kontakte. Doch richtige Kontakte wie enge Freundschaft oder gar Heirat werden in der Studie auch von denjenigen Deutschen strikt abgelehnt, die sich als „ausländerfreundlich” bezeichnen.

Mich hat nicht überrascht, dass diejenigen Befragten, die die Integration der Ausländer für eine gesellschaftliche Aufgabe halten, gleichzeitig am fremdenfeindlichsten sind. Wie sollen Interesse und Empathie entstehen, wenn man sich selbst nicht für zuständig hält? Wenn man keine Verantwortung übernehmen will? „Es ist ein zweiseitiges Spiel“, sagt Dollase, „der Staat traut dem Bürger nichts zu, und der Bürger traut sich selbst auch nichts mehr zu.“ Für ihn ist es beruhigend, dass jedenfalls Menschen, die andere erziehen, zumindest schon einmal die richtige Haltung haben. Doch verändern lassen sich Gesellschaften nicht durch Weltbilder, sondern durch Auseinandersetzungen und durch Tun. Das einer humanistischen Moral verpflichtet sein sollte. Und der Wahrheit.

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