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Ein Bus brennt in der Shankill Road in West Belfast. Loyalisten, also Anhänger des Verbleibs von Nordirland im Vereinigten Königreich, hatten den Bus entwendet und angezündet.

© Peter Morrison/AP/dpa

Neue Unruhen und Gewalt: Warum die Lage in Nordirland hochgefährlich ist

Boris Johnson und seine Getreuen leugnen noch immer, dass der Brexit negative Folgen für Nordirland hat. Warum London das Hauptproblem der Nordiren ist.

Tagelange Krawalle in Nordirland mit mehr als 70 verletzten Polizeibeamten und Sachschäden in Millionenhöhe haben den Briten und ihrem konservativen Regierungschef schmerzlich in Erinnerung gerufen: 100 Tage nach dem endgültig vollzogenen EU-Austritt und 100 Jahre nach der Teilung Irlands bleibt der Nordosten der grünen Insel ein Schauplatz ungelöster Konflikte.

Diese haben jahrhundertealte Ursachen: ethnische und religiöse Ressentiments zwischen den nach London orientierten Protestanten und den irisch-katholischen Nationalisten, Armut und Perspektivlosigkeit, aber auch die Traumatisierung nach 30 Jahren Bürgerkrieg mit mehr als 3500 Toten.

Großbritanniens Ausstieg aus dem europäischen Einigungsprojekt hat ein schier unlösbares Problem hinzugefügt. Nicht umsonst drehten sich die Ausstiegsverhandlungen monatelang um die Fragen: Wie lässt sich der Befriedungsprozess, der mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 begann, erhalten? Wie hält man die Landesgrenze zwischen der Republik im Süden und dem britischen Teil offen? Die Antwort lieferte das Nordirland-Protokoll. Es garantiert den weitgehend ungestörten Verbleib von ganz Irland im europäischen Binnenmarkt, macht aber begrenzte Zoll- und Warenkontrollen zwischen der Unruheprovinz und der britischen Hauptinsel notwendig.

Diese Konsequenz erbittert die unionstreuen Protestanten. Um die hätte der britische Premier Boris Johnson werben müssen – und er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass sein Slogan „Keine Grenze in der irischen See“ unhaltbar war. Stattdessen leugnete er die Tatsachen, selbst als wegen der zeitraubenden Kontrollen Supermarktregale leerblieben.

Inzwischen hat London einseitig die Übergangsfristen für Zoll- und Veterinärkontrollen verlängert, wogegen Brüssel gerichtlich vorgeht. Die Kommission hat ihren Anteil zur Verunsicherung beigetragen, indem sie Ende Januar im Streit um Astrazeneca kurzzeitig die Blockade der Landgrenze erwog.

Das Hauptproblem bleibt aber London. Die Brexiteers wollen nicht zugeben, dass der EU-Austritt negative Folgen hat. Demonstrativ hatte sich Johnson bei Amtsantritt den Titel „Minister für die Union“ verliehen. Zusätzlich werden die Nordiren von ihren eigenen Politikern im Stich gelassen.

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Der protestantische Hassprediger Ian Paisley und der katholische Ex-Terrorist Martin McGuinness hatten auf je eigene Weise Blut an den Händen. Aber die knorrigen, längst verstorbenen Leithammel verfügten über strategische Weitsicht und den Willen zum Kompromiss in der Allparteienregierung. Beides fehlt ihren mediokren Nachfolgerinnen Arlene Foster und Michelle O'Neill. Das macht die Situation brandgefährlich.

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