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Die 33-Jährige Britin Sarah Everard wurde auf dem Heimweg ermordet - mutmaßlich von einem Polizisten.

© Paul Childs/REUTERS

Nach dem Mord an der Britin Sarah Everard: Die Angst vor dem Heimweg muss endlich aufhören

Der Mord an einer 33 Jahre alten Britin hat eine Debatte über Gewalt an Frauen entfacht: Männer müssen endlich verantwortlich gemacht werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jana Weiss

Jede Frau, jedes Mädchen, jede weiblich aussehende Person kennt sie: die Angst auf dem nächtlichen Heimweg. Den Schlüssel, der in der Faust liegt, einsatzbereit als Waffe. Die Umwege, die man in Kauf nimmt, um nicht durch dunkle, unbelebte Straßen zu laufen. Das Handy am Ohr, manchmal auch, obwohl man gar nicht telefoniert, weil man will, dass es so aussieht. Die Nachricht an die Freundin, wenn man gut zu Hause angekommen ist.

Über diese Angst wird gerade in den britischen Medien viel gesprochen. Denn Die 33-jährige Britin Sarah Everard konnte diese Nachricht nie schreiben, obwohl sie solche „Sicherheitsmaßnahmen“ eingehalten hatte. Sie hatte noch mit ihrem Freund telefoniert, bevor sie am 5. März verschwand, als sie gegen 21 Uhr auf dem Weg in ihre Wohnung in dem Süd-Londoner Viertel Brixton war. Eine Woche später wurden Teile ihrer Leiche gefunden. Sarah Everard wurde ermordet, mutmaßlich von einem Polizisten, seine Freundin wird der Beihilfe beschuldigt.

Der Fall löste vor allem deshalb viele Reaktionen und Debatten in den sozialen Medien aus, weil die Londoner Polizei Frauen riet, nachts nicht mehr allein das Haus zu verlassen. Unter dem Hashtag #ReclaimTheseStreets und #SarahEverard berichten Frauen von ihren Erfahrungen und fordern die Politik zum Handeln und Umdenken auf.

Ausgangssperre für Frauen - ein absurder Vorschlag

Denn die Aufforderung der Polizei ist nicht nur der De-facto-Vorschlag einer Ausgangssperre für Frauen nach 18 Uhr, sie zeigt, welche Strukturen vielerorts das Denken beherrschen: Wenn Frauen keine Opfer von (männlicher) Gewalt werden wollen, müssen sie selbst dafür sorgen, dass das nicht passiert.

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Noch immer wird bei Vergewaltigungen oft zuerst gefragt, was die Frau anhatte, ob sie betrunken war. Hat sie es nicht ein bisschen provoziert? Auch zu Everard gab es solche Kommentare. Das ist Täter-Opfer-Umkehr und muss aufhören. Jeder Mensch sollte das gleiche Recht haben, sich sicher zu fühlen, ganz egal, was die Person anhat oder zu welcher Uhrzeit sie unterwegs ist. Dafür zu sorgen, ist nicht die Aufgabe der Betroffenen – sondern die aller.

Laut einer Umfrage der Pariser Jean-Jaurès-Stiftung aus dem Jahr 2018 wurden 36 Prozent der Frauen in Deutschland schon mal draußen verfolgt, jede Zehnte wurde Opfer von sexueller Gewalt auf der Straße. Aber auch zu Hause sind sie nicht sicher vor Frauenhass: Laut der deutschen Kriminalstatistik bringt in Deutschland jeden dritten Tag ein Mann seine Partnerin um.

Die Angst vor Gewalt gehört für Frauen zum Alltag

Mädchen wird von klein auf beigebracht, dass es gefährlich ist, wenn sie nachts alleine rausgehen – die Angst hält meist bis ins Erwachsenenalter an, viele machen sich gar keine Gedanken mehr darüber, sie gehört einfach zum Alltag. Und seit die Corona-Pandemie für ausgestorbene Straßen ohne späten Betrieb in Bars und Restaurants sorgt, dürfte sich diese Situation für viele Großstädterinnen verschlimmert haben.

Die Angst vor Gewalt ist für Frauen, genau wie für die meisten queeren Menschen, Alltag.

Angst aber schränkt ein, sie ist psychisch belastend. Sie fordert Energie und Aufmerksamkeit, die dann für etwas anderes, für das Erreichen anderer Ziele fehlt. Männer haben diese Einschränkung nicht. So entsteht strukturelle Benachteiligung.

Auf Twitter sammelten Nutzer:innen Vorschläge, was Männer tun können, damit Frauen sich in der Öffentlichkeit sicherer fühlen: ihnen nicht zu nah kommen, von sich aus die Straßenseite wechseln, Freundinnen immer nach Hause bringen. Das sind gute Vorschläge – sie wären ein Anfang. doch die Angst, irgendwann doch Opfer von Gewalt zu werden, werden sie den Frauen nicht nehmen.

Die Männer sind in der Bringschuld

Diese Vorschläge sind aber vor allem deshalb wichtig und richtig, weil sie die Perspektive wechseln. Nicht die Frauen sind in der Bringschuld, sondern die Männer. Um Frauen die Angst zu nehmen, braucht es auch die Männer. Männer die mit Frauen solidarisch sind. Männer, die einschreiten.

Die britische Politikerin Jenny Jones von der Green Party schlug als Reaktion auf die Aussage der Polizei eine Ausgangssperre für alle Männer ab 18 Uhr vor – damit sich Frauen dann auf der Straße bewegen können. Der Vorschlag ist wohl nicht ganz ernst gemeint. Aber er zeigt die Absurdität der bisherigen Lage.

Denn nicht Frauen müssen aufhören, sich in potenziell gefährliche Situationen zu begeben. Männer müssen aufhören, sie in diese zu bringen. Und die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass niemand mehr Angst haben muss, nachts alleine nach Hause zu laufen.

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