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Meinung: MY BERLIN Nahrung fürs Herz

Manchmal bekommt man den Eindruck, Weihnachten hat mehr mit Essen zu tun als mit Liebe, Religion oder Großzügigkeit des Geistes. Kühlschränke kann man leichter füllen als Herzen.

Manchmal bekommt man den Eindruck, Weihnachten hat mehr mit Essen zu tun als mit Liebe, Religion oder Großzügigkeit des Geistes. Kühlschränke kann man leichter füllen als Herzen. Aber intelligentes Essen – ja, so etwas gibt es – vermag die Bedeutung des Festes wiederherzustellen.

Es gibt einen kleinen, schicken Italiener im Berliner Grunewald, der an jedem Heiligen Abend 24 Obdachlosen ein Abendessen bereitet: Gans auf Tischtüchern aus weißem Leinen. Es ist eine anrührende Erfahrung („Müssen wir dafür zahlen?“, flüstern sie sich zu). Sie schlingen das Essen hinunter, als ob die Teller gleich wieder verschwinden könnten; einige bunkern das Essen in ihren Taschen.

Während des Abendessens beginnen die Gespräche, nicht mehr über ihre existenziellen Probleme, sondern über die Welt. Die meisten sehen aus wie Saddam Hussein, sind am Ende des Abendessen aber viel zivilisierter als der ungebadete Baathist.

Brigitte Koch von der Bahnhofsmission am Zoo – meiner Meinung nach eine Mutter Teresa von der Spree – sagt, dass sie überschwemmt wird von Leuten, die ihre kostenlose Mahlzeit haben wollen: nicht nur Obdachlose, sondern auch Arbeitslose , Rentner und Menschen, die einfach nur mit anderen reden wollen. Die Franzosen haben es vor einiger Zeit erkannt, die Briten haben diese Erkenntnis noch vor sich: dass die Funktion des Essens nicht nur darin besteht, Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern Menschen zusammenzubringen, möglichst um einen Tisch herum. Sogar der Kannibale aus Rotenburg wollte erst eine Woche mit seinem Opfer verbringen und mit ihm reden, bevor er ihn auffraß. Da der Menschenfresser eine Raumschiff-Enterprise-Geschichte und Micky-Maus-Comics las, während er auf den Tod seines Opfers wartete, bin ich unsicher, wie hoch die Qualität dieser Konversation war. Aber der Gedanke an sich war gut.

Die Industrialisierung von Nahrung hat ihre soziale Funktion zerstört. Man will in einem Burger King nicht über Nietzsche reden – man will nur wieder raus. McDonald’s erscheint mir nicht gefährlich wegen der einen oder anderen Maus im Rinderhack – ich bin schließlich mit britischer Küche groß geworden –, sondern wegen seiner durch und durch totalitären Kultur. Der sozialistische Utopist Edward Bellamy träumte 1887 davon, Häuser mit Küchen abzuschaffen. Die Menschen sollten stattdessen ihr Abendessen von in Zeitungen abgedruckten Speisekarten auswählen und stumm in riesigen Esssälen zu sich nehmen. Der Kapitalismus war jedoch schneller. Mit dem Ergebnis, dass heute die Essenszeiten, sogar zu Hause, die atomisierte Familie ans Licht bringen: unterschiedliche Familienmitglieder essen unterschiedliche Dinge zu unterschiedlichen Zeiten. Eltern geben nur noch selten ihre Kochkünste an ihre Kinder weiter. Und unglückliche Kinder, die Familienliebe mit Esseneinnahme verwechseln, werden immer häufiger anorektisch oder bulimisch. Vielleicht könnte aus Weihnachten mehr als nur eine Konsumenten-Orgie werden, wenn es dem Feiertag gelingt, wieder etwas Tischkultur in der Gesellschaft zu verankern.

Ich wünsche Ihnen ein Frohes Fest. Ach, und guten Appetit.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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