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Meinung: Modernes Denken (5): Als Dialekt zur Folklore wurde

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es?

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es? In einer gemeinsamen Serie mit DeutschlandRadio Berlin unter dem Titel "Modernes Denken" gehen prominente Autoren diesen Fragen nach. Zu hören sind die Beiträge jeweils am Sonntag um 12 Uhr im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Heimat war schon immer etwas, das wir verloren haben: Im Erwachsenenalter bedeutet sie "Land der Kindheit", das meist aus Erinnerungen und Sehnsüchten besteht. Als romantisches Symbol für Herkunft und verlorene Kindheit hat sie viele Poeten, Denker und andere Nestflüchter zu Liedern, Bildern oder philosophischen Betrachtungen inspiriert. Trotz aller Heimat-Nostalgie der letzten Jahre wird das künftig anders sein.

Die neue Faszination heißt Mobilität, weltweite Kommunikation, individuelle Freiheit. Der moderne Mensch reißt seine Wurzeln aus und wendet den Blick nicht zurück. Heimat ist kein Schicksal mehr. Wer die Orte der Kindheit heute verlässt, zieht nicht "in die Welt hinaus", sondern bewegt sich im bekannten Raum: Über ferne Landschaften, unterschiedliche Kulturen, lokale Politik, über Lebensstandards, Lifestile oder modische Neuheiten sind wir Kinder der modernen Konsumgesellschaften durch Markt und Medien informiert, ganz unabhängig vom jeweiligen Ort. Die Werbung erreicht uns überall. Ständig finden wir das gleiche Angebot an Waren und Wissen, wir essen, trinken und kleiden uns im Einheits-Stil der Weltbevölkerung.

Wenn ein Inder, Japaner oder Bayer entschlossen seine Tracht anlegt, weiß er, dass er in Folklore macht, und, wie wir wissen, hat auch die ihren Markt. Heimat bleibt zwar das Land der Kindheit, aber es unterscheidet sich kaum mehr von den Kindheitsländern anderer Kinder: Die Spielzeuge, die moderne Kinder bekommen, die Filme, Videos und Computergames, die man später mit den Freunden teilt, die Inlineskates, die Lieder und Tanzstile vereinen alle Kinder in einer Weltheimat. Alle haben die gleichen Vorbilder in Werbung, Internet, TV, sogar in der Art, sich auf der Straße zu bewegen.

Nicht einmal das Sentiment kommt bei den Kindern der hochtechnisierten Industrievölker zu kurz: Ein deutsches Kind unserer Zeit wird zwanzig Jahre später einem anderen begegnen, das in Spanien, Amerika oder Japan aufgewachsen ist, und vor Rührung weinen, denn es hatte im gleichen Jahr ein Tamagochi, im gleichen Alter einen Rolli. Bei der Kennmelodie von Windows 95 werden eines Tages Hunderttausende von "Usern" Tränen der Erinnerung vergießen. Ganz neue Gefühle sind durch diese frappierenden Gemeinsamkeiten entstanden. Unsere Heimat ist jetzt die Zeit, nicht mehr der Ort. Soll man das noch Heimat nennen?

Moderne Kinder kennen, wie die Kinder früherer Zeiten auch, die unverwechselbaren Gefühle, die nichts mit globaler Weltsicht zu tun haben. Da ist, zum Beispiel, der Ortssinn, der uns an unbeschreibbaren Atmosphären, am Geruch der Erde, am Wind, an Lichtrichtungen oder Geländeformationen erkennen lässt, wo wir uns befinden: in Heidelberg, in Augsburg, Bielefeld oder Lemgo. Warum rührt uns im Erwachsenenalter der Anblick der Flüsse, eines Weinberges, eines Kartoffelackers und warum lassen die Wälder uns an Märchen, wilde Tiere, ausgesetzte Kinder oder an Geister denken?

Warum ziehen wir zu Tausenden an die nebelverhangenen Küsten, was suchen wir da? Warum fasziniert die Seefahrt den liebeskranken Jungen, warum ist der Baggersee der Ort der ersten Liebe, warum erzählt der Wind Geschichten? In den letzten Jahren hat diese Art von Gefühlen sich auf merkwürdige Weise nach innen verzogen, sie sind "uncool", man kann sich nicht mit ihnen zu erkennen geben. Man ist mit solchen Gefühlen fremd in der Welt. Ebenso ergeht es den Mundarten. Als Folklore sind sie lustig, als Schicksal aber inakzeptabel. Heimat und Dialekt, das war einmal eine Einheit. Beides bedeutete Nähe und Bindung. Die Globalisierung sucht aber eine andere Einheit: in der Ferne; sie will Weite und Ungebundenheit, will sich nicht von lokalen Verhältnissen bestimmen lassen.

Die amerikanische Kultur, die der Globalisierung ihr Vokabular und ihren Stil aufgeprägt hat, ist heute viel attraktiver als die aufregenden Heimat-Erfahrungen europäischer Kinder in ihrem Kiez, ihren Dörfern oder Landschaften. Paris mit seinen zahllosen Gerüchen und Quartiers-Geschichten ist inzwischen kein attraktiver Ort mehr für coole Leute aus Deutschland. München mit seinen Bretzn und Biergartengerüchen kann coole junge Franzosen nicht auf eine Reise locken. Europäische Milieus faszinieren junge Europäer nicht, die Schönheit von Bologna, Strasbourg oder Lüneburg ist kein Thema für Filme oder Sehnsuchtsreisende.

Das Gemeinschafts-Gefühl einer ganzen Generation versagt, wenn es um die Liebe zu den speziellen Erinnerungen geht. Mitten im riesigen "Global Village" wimmelt es von geheimen Orten, von denen jeder ein Abbild in sich trägt, Orte, an denen Medien und Mode abprallen, die nicht propagiert sein wollen, die jeder einmal auf seine Weise betreten hat: Ich meine, dass unbemerkt auf der inneren Landkarte zahlloser Menschen ein zweites Land existiert. Das eine bewohnen sie, das andere ist darin versteckt. Es besteht aus realen Orten und Dingen, aus Menschen, Wahrnehmungen und frühen Selbstverständlichkeiten. Es ist ein modernes Niemandsland, ein Land ohne Dialekt und ohne Namen, das trotz aller Jugendmoden und globaler Faszinationen voller kindlicher Gefühle und Erinnerungen ist. Vielleicht könnte dieses Niemandsland, das für jeden woanders liegt, wieder Heimat heißen.

Der Autor ist Filmregisseur und hat u. a. "Heimat" und "Die zweite Heimat" gedreht. Derzeit plant er den dritten Teil.

Edgar Reitz

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