zum Hauptinhalt
Eine syrische Frau mit ihrem Kind vor den Trümmern von Kobane.

© Sedat Suna

Leserartikel aus Syrien: Ein Kind des Krieges

Tagesspiegel-Leser Andreas van Lepsius war kürzlich in Syrien und erzählt von seiner Begegnung mit einem alten Freund aus der Nähe von Damaskus. Eine deutsch-syrische Freundschaft.

Unser Community-Mitglied Andreas van Lepsius reist des Öfteren in den arabischen Raum. Zuletzt berichtete er, wie er den Al-Quds-Tag im Iran erlebte. Nun war er in Syrien und traf einen alten Freund wieder. Die Geschichte von Nasir und seiner Familie ist ein Beispiel, welche Eingriffe Krieg, Gewalt und Verfolgung mit sich bringen. Es ist aber auch eine Geschichte von Glück und Zufall.

Ich sitze zu Tisch mit Nasir (54), seiner Frau und seinen vier Kindern. Nasir hat zwei Söhne, 24 und 26 Jahre alt, und zwei 16- und 11-jährige Töchter. Das Haus ist zu klein für die Familie, besonders eng empfinden es die beiden erwachsenen Söhne.

Das alles könnte ein normaler Familienbesuch sein. Wären wir nicht in Syrien, in einer Kleinstadt vor den Toren von Damaskus. Handelte es sich bei der Familie von Nasir nicht um Christen, gäbe es nicht seit 2011 alle denkbaren und undenkbaren Verbrechen und den Krieg im Land. Und wäre mein Freund Nasir mit seiner Familie nicht fast neun Monate verschollen gewesen. Aber der Reihe nach.

Ein unstillbarer Sprachhunger

Nasir lernte ich vor über 20 Jahren bei meinem ersten Besuch in Damaskus, eine der ältesten bewohnten Städte dieser Erde, kennen. Schon in der für uns unvorstellbaren Steinzeit haben dort Menschen gelebt, die sich an der seit damals nie versiegten Wasserquelle ansiedelten. Als Assistent des Fremdenführers war Nasir als Dolmetscher für Deutsch und Französisch tätig. Schon zu dieser Zeit prägte ihn der Hunger nach Sprachen, sein Wunsch war, ich möge Deutsch mit ihm sprechen, wohlgemerkt: richtiges Deutsch.

„Wenn alles wieder gut wird, kommen vielleicht die reichen Russen.“ „Also eine 8. Fremdsprache?“ „Ja, wenn alles gut wird, warum nicht?“

Hoffnung im Hoffnungslosen...

Spitzeln oder verdächtigt werden

Drei Jahre später führte mich ein erneuter Besuch in Syriens Hauptstadt. In einem der großen Hotels baten wir um die Dienste eines Fremdenführers und Dolmetschers - so kam es zu einem Wiedersehen mit Nasir.

Seine Fähigkeit Sprachen zu lernen, ist bewundernswert. Er hört, er spricht nach, er wendet an. Diese Zeit ist die des wirtschaftlichen Aufstiegs der Familie. Das Hotel bucht speziell ihn für VIP-Reisegruppen, für landesweite Ausflüge, wie es auch andere Einrichtungen gerne und regelmäßig tun. Er verdient gut, das Gehalt ist knapp, aber das Trinkgeld reichlich.

Aber es gibt auch eine Schattenseite: Der Umgang mit Touristen wird vom Staat misstrauisch beobachtet. Viel später berichtet mir Nasir von Anfragen des Geheimdienstes zu Gesprächsinhalten, von der Verpflichtung, auch privat Gehörtes niederzuschreiben und mitzuteilen.

In einem Land wie Syrien steht man, wenn man Kontakte zu Ausländern pflegt, vor der Wahl: Spitzel oder verdächtig sein. Verdächtig zu sein ist nicht empfehlenswert. Nasir folgt den Anforderungen, er hat Familie. Politisch ist er angepasst, sich immer der Sonderstellung als Christ und der relativen Freiheit bewusst, die Syriens Regierung gewährt.

Wir bleiben in Kontakt. Viel wird über die Kinder geredet und auch ich habe inzwischen Familie.

"Tochter des Krieges"

Wer immer aus meinem Bekanntenkreis nach Syrien reist: Nasir organisiert Unterkunft, Führungen, handelt Preise aus und kümmert sich um seine Gäste wie um Freunde. Im Gegenzug kann ich seine Wünsche nach Büchern in Deutsch und Englisch erfüllen und Hilfestellung für die Ausbildung des Ältesten bei einem deutschen Konzernableger in Syrien bieten.

Spielende Kinder neben einem zerstörten Haus in einer Straße in einem Vorort von Damaskus.
Spielende Kinder neben einem zerstörten Haus in einer Straße in einem Vorort von Damaskus.

© William Ismail

Zärtlich streichelt er seiner jüngsten über den Kopf, die er „die Tochter des Krieges“ nennt. Sie kennt nur Umzüge, immer wieder Flucht, immer größere Armut. In diesen Worten klingt Bitterkeit mit, aber keine Resignation.

„Bitte bringe ihr nichts zum Spielen mit, es würde sie nur traurig machen“. Er kennt mich, und diese Bitte war für mich schwer zu erfüllen. Vor Ort aber sehe ich: Spielzeug ist nicht das Wichtigste. Kleidung, Schuhe, bunt muss es sein, die Vorlieben eines syrischen Mädchens unterscheiden sich in diesen Fragen nicht sehr von denen eines deutschen im gleichen Alter.

Dies sind Wünsche, die sich in Damaskus noch erfüllen lassen. Dass es für beide Töchter etwas bunter und auch etwas mehr geworden ist, übersieht ihr Vater geflissentlich. Meine Geschenke für die Erwachsenen, aus Deutschland mitgebracht, waren praktischer Natur. Wasserdichte Sicherheitstaschen für Dokumente und Bargeld, fast unsichtbar direkt am Körper zu tragen. Aber ich schweife ab.

Der Widerstand formiert sich

Die ersten Veränderungen machten sich 2011 bemerkbar, oder schon 2010. Das Regime war immer hart zu seinen Gegnern, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Wer mit der Polizei oder dem Geheimdienst zu tun bekam, war Willkür und Gewalt ausgesetzt, Freiwild für die Folterknechte in den Gefängnissen oder Verhörzentren des Staates.

Im nordafrikanischen und arabischen Raum bildete sich erster Widerstand gegen Diktatoren und Autokraten. Junge Leute sammelten und organisierten sich, demonstrierten, Schriftstücke tauchten auf, das nicht zu kontrollierende Internet wurde Ort für freien Meinungsaustausch, für Aufwiegler und Staatsfeinde im Sinne des Regimes – der sogenannte „arabische Frühling“ war angebrochen.

Das Ausland wurde aufmerksam, Bilder und Nachrichten von Gräueltaten, mit denen die Machthaber den Freiheitsdrang ihrer Bürger zu ersticken versuchten, wurden international verbreitet.

Auch in Syrien gab es die ersten Massenproteste, Initialzündungen waren die Verhaftungen von Kindern und die Folter und Ermordung von Hamza al-Khatib. Der 13-Jährige wurde verhaftet und Tage später seinen Eltern übergeben. Verstümmelt, die Zeichen der Folter unübersehbar. Seine Bilder fanden den Weg in die Welt, lösten Entsetzen aus.

Tagelange Demonstrationen waren die Folge, religionsübergreifend, aus allen Schichten der Bevölkerung, prominente Gesichter Syriens schlossen sich dem Protest an. Und dann reagierte das Regime.

Es reagierte grausam und hart. Es gab Verhaftungen, Folter, Schüsse und viele Tote. Die genauen Zahlen wird man wohl nie ermitteln können. Das, sagt Nasir, war der Beginn der schlimmen Zeiten, die noch kommen sollten.

Die Familie hat tagelang das Haus nicht verlassen. Nur die notwendigsten Einkäufe wurden auf dem schnellsten Wege erledigt. In diesen Tagen am falschen Platz zur falschen Zeit zu sein konnte Verhaftung bedeuten, schlimmstenfalls den Tod. Deshalb nennt er seine jüngste Tochter Kind des Krieges. Seit ihrem 6. Lebensjahr kennt sie kein normales Leben.

Die Situation in Syrien wurde von Tag zu Tag unübersichtlicher und gefährlicher. Viele Soldaten und Offiziere rebellierten gegen die Anweisung, auf Demonstranten zu schießen, einige traten in offizielle Opposition. Auch hier gibt es keine amtlichen Zahlen, aber wohl mehr als tausend von ihnen bezahlten diesen Widerstand mit dem Leben, gemeinsam mit ihren Angehörigen.

Es gehört zu den perfidesten Terrorinstrumenten einer Diktatur, die Familien für die „Verbrechen“ der Väter und Söhne zu bestrafen. Die Rache von Assads Schergen machte vor nichts halt. Familien, ihre Häuser, der gesamte Besitz wurde der Vernichtung anheim gegeben. Jeder sollte sehen, wie es Menschen ergeht, die dem Regime abschwören.

Das Kalkül dahinter, den Beginn einer Revolution durch Gewalt im Keim zu ersticken und niederzuschlagen, ging nicht auf. Kaum etwas blieb geheim, Bilder kursierten, Videos von unvorstellbarer Grausamkeit. Und damit auch die internationale Kritik, die befürchtete Einmischung aus dem Ausland.

Schwere Zeiten brechen an

Die Ruinen der Oasenstadt Palmyra in Syrien, die durch ISIS Kämpfer zerstört wurden.
Die Ruinen der Oasenstadt Palmyra in Syrien, die durch ISIS Kämpfer zerstört wurden.

© Sedat Suna

Mit dem Beginn der Kampfhandlungen und den ersten Reisewarnungen brechen auch für Nasir schwere Zeiten an.

Tourismus ist sein Geschäft, sein Broterwerb. Ab Mitte 2011 ist es kaum noch möglich Reisende ins Umland von Damaskus zu führen. Teile des Weltkulturerbes befinden sich im Besetzungszustand oder liegen inmitten des Kriegsgebietes. Für Nasir spielt es keine Rolle welche Konfliktpartei ihn am Arbeiten hindert, sie alle bedrohen seine Existenz, seine Familie.

Auch der älteste Sohn, er ist Maschinentechniker, bringt nun weniger Geld nach Hause. Der Krieg lässt keinen Wirtschaftszweig unbeeinflusst. Der Jüngere arbeitet zusammen mit Nasir, soll einst in seine Fußstapfen treten, von den Erfahrungen und auch den Kontakten des Vaters profitieren.

Aber es sind Ersparnisse da, zur Seite gelegt in wertbeständigen Devisen, nicht in syrischen Lira, deren Kursverfall unschwer vorhersehbar ist. Und Nasir erteilt Sprachunterricht, meist Schnellkurse für Englisch und Deutsch, manchmal erreicht ihn noch eine Anfrage für eine Stadtführung oder eine Dolmetschertätigkeit.

Kontakt mit Ausländern bedeutet aber auch immer Kontakt mit Behörden, Fragen, Überwachung. Das betrifft mit wachsendem Misstrauen der unter Druck geratenen Regierung nun ebenfalls die Übersetzungen für Universitäten und andere Einrichtungen.

Das Regime kann die Tatsache nicht verbergen, dass immer mehr Menschen aus Syrien flüchten, es ist für jedermann ersichtlich. Für Nasir ist Flucht zu diesem Zeitpunkt kein Thema. Seiner Frau und den Kindern will er die Strapazen nicht zumuten. Und ohne seine Familie? Undenkbar! Freunde, Bekannte jedoch verschwinden über Nacht, Häuser stehen plötzlich leer. Nasir bleibt. Noch.

Eine neue Bedrohung

Es muss in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 gewesen sein, als diese Überzeugung zu bröckeln begann. Veränderungen traten ein, die die Situation noch erheblich bedrohlicher machten als sie bislang schon war. Hatten die Kampfhandlungen bisher eher einen machtpolitischen Hintergrund, trat jetzt ein neuer Teilnehmer in den Konflikt ein.

Radikale Islamisten, heute bekannt als „Islamischer Staat“ („IS“), erkannten die Möglichkeiten zur Ausweitung ihres Einflussbereiches und machten sich das Machtvakuum zunutze, das in Syrien angesichts der innerstaatlichen Konflikte entstanden war.

Die Terrorgruppe IS verbreitet im Irak Angst und Schrecken.
Die Terrorgruppe IS verbreitet im Irak Angst und Schrecken.

© AFP

So wurde religiöser Fanatismus zu einem der bestimmenden Faktoren des Krieges. Im Gegensatz zu anderen kriegführenden Gruppen nimmt der IS nicht Partei für oder gegen Assad, ihm geht es um etwas anderes. Sein Chef, Abu Bakr al-Baghdadi, macht seinen Anspruch schon allein deutlich durch den Titel, den er sich gibt: Er nennt sich „Kalif Ibrahim, Führer der (aller) Gläubigen“ und sieht sich als Nachfolger des Propheten Mohammed.

Diesem Anspruch immanent ist der Hass auf alle, die als Ungläubige betrachtet werden, und überhaupt auf jeden Menschen, der sich ihm und seiner Macht nicht bedingungslos unterwirft.

Aber der IS ist lediglich das prominenteste Beispiel, auch ansonsten galt: Die Zahl der Kriegsparteien und Kombattanten, auch der Unterstützer aus dem Ausland, war gewachsen und damit wurde auch klar, dass eine schnelle Lösung und damit baldiger Frieden in unerreichbare Ferne rückt.

Viele Syrer haben zu dieser Zeit den Überblick verloren, wer gegen wen Krieg führt, wer wo Bomben abwirft und in wessen Auftrag die Heckenschützen ihre Opfer ins Visier nehmen. Für die Zivilbevölkerung ist es, zynisch formuliert, auch egal, wer den Tod bringt.

Die Angst der Christen

Inmitten dieses Sturms, in diesem Wahnsinn, zu dem sich Krieger aus vielen Ländern und mit den verschiedensten Interessen zusammengefunden hatten, um jedes Leben und jede Menschlichkeit ihren Zielen unterzuordnen, zählte für Nasir immer nur eines: Die Sicherheit seiner Familie. Und die war in zunehmender Weise bedroht, nun auch wegen ihres Glaubens.

Bald kursierten die ersten Gerüchte über Hinrichtungen, über Kreuzigungen, über Verbrennungen von Christen durch fanatische Söldner. Berichtet wurde über Grausamkeiten, so perfide und sadistisch, dass sie die Vorstellungskraft eines jeden normalen Menschen sprengen.

Ich war erschüttert, als er mir in einer Mail sehr deutlich schrieb: „Meine Familie und ich werden diesen Leuten niemals in die Hände fallen“. Auf das Wort "lebendig" konnte er verzichten, es war auch so unmissverständlich, wie diese Aussage zu verstehen war.

Es gab noch eine weitere Sorge, die Nasir zu dieser Zeit umtrieb: Christen wurden in Syrien nicht eingezogen, auch seine beiden Söhne dienten nie beim Militär. Könnte sich das ändern? Würde man seine Söhne holen, sie in den Kampf, in den fast sicheren Tod schicken?

Beginn der Odyssee

Im Mai 2013 fasst Nasir einen Entschluss: Zu groß sind die Gefahren, zu gering ist der Verdienst in Damaskus. Das große Haus, Ergebnis und Zeichen von jahrelanger erfolgreicher Arbeit, wird verkauft. Schnell, unter der Hand und für einen Preis weit unter Wert. Nasir erhält die Kaufsumme in bar, einen Teil davon in Devisen und Gold.

Noch immer sitzen wir zusammen, seit Stunden. Ich habe so viele Fragen, denn ich will die Geschichte von Nasir und seiner Familie erfahren und aufschreiben. Als er vom Verkauf erzählt, verlässt seine Frau mit den Kindern den Raum. Ihr würde es zu nahe gehen, und die Jüngste kann sich an dieses Haus kaum noch erinnern. Also keine Fragen aufkommen lassen, die man nicht beantworten kann, ohne Wunden aufzureißen. Auch Nasir ringt um Haltung. „Die Entscheidung“, sagt er, „war schmerzhaft, aber richtig. Geld und Gold kann man in die Tasche stecken und wegtragen. Ein Haus nicht“.

Ein letzter Besuch für lange Zeit

Im Juli 2013 reise ich, aus Ägypten kommend, nach Damaskus. Drei Tage will ich bleiben. Die Einreisekontrolle ist gründlicher als ich es von vielen Staaten gewohnt bin. Die Technik und zwei Bücher werden besonders sorgfältig geprüft. Erinnerungen an die innerdeutsche Grenze werden wach.

Ich buche Nasir offiziell als Reiseführer. Wir bleiben kaum an einem Ort, sind viel unterwegs, immer in Bewegung. Denn Bewegung ermöglicht unbelauschte Gespräche. Es sind Gespräche unter zwei Freunden, die sich längere Zeit nicht gesehen haben und sich nun in schwierigen Zeiten wiedertreffen. Es geht um persönliche Dinge, die Sorgen von Vätern und Ehemännern. Und es geht auch um Flucht, vage noch und unbestimmt.

Am Tage der Rückreise erscheine ich früh am Flughafen. Ich muss noch eine Verlustanzeige aufgeben. Die Tasche, der kleine Laptop und das Telefon, die bei der Ankunft so akribisch geprüft wurden, sind verschwunden. Im Taxi geblieben oder gestohlen... ich weiß es nicht. Nein, das Kennzeichen des Taxis ist nicht bekannt. Die Quittung? Tut mir leid, habe ich nicht. „Die Polizei wird sich bemühen“, so lautet die Auskunft, nachdem ich das Formular ausgefüllt habe. Sicher, denke ich. „Hier der Durchschlag, falls jemand nach den Geräten fragt“. Meine Einschätzung war also richtig.

Nun ist Nasir technisch in der Lage, jederzeit Internet zu empfangen, ohne „verfolgbar“ zu sein, und ein wasserdichtes und sturzsicheres Telefon ist in diesen Zeiten Gold wert.

Syrische Soldaten in Damaskus.
Syrische Soldaten in Damaskus.

© EPA

Für die Familie folgt eine Art Odyssee durch Kleinstädte und Dörfer um die Hauptstadt. Es gibt viel Leerstand. Fragen nach dem Woher oder Wohin gibt es kaum. Es ist wie überall auf der Welt, wichtig ist Geld, in Krisenzeiten gilt es erst recht: Alles ist eine Frage des Preises.

Auch ganz in der Nähe von Damaskus wird gekämpft, die Frontverläufe verändern sich mitunter täglich. Immer wieder muss Nasir entscheiden: Was ist das Sicherste für seine Familie, welches Risiko ist im Augenblick am höchsten? In Damaskus droht er jeden Tag in den Fokus der Behörden zu geraten, während im Umland, wo er sich unsichtbar machen kann, die Sicherheitslage einem permanenten Wandel unterworfen ist.

Die Fluchtgedanken werden konkret

Ende 2013 erreicht mich dann eine zaghafte Anfrage Syrien in Richtung Deutschland zu verlassen. Aus anderen Fällen kannte ich die sich bietenden Möglichkeiten, wenn man sie denn so nennen möchte. In Kurzform sehen sie folgendermaßen aus:

Der Königsweg ist die Bürgschaft für den Lebensunterhalt der einreisenden Personen. Dafür notwendig sind aber viele Papiere, auch aus Syrien, monatelange Bearbeitungszeiten und außerdem ist damit eine finanzielle Belastung verbunden, die für sechs Personen nicht realisierbar ist.

Der Versuch, einfach nach Deutschland auszureisen, ist gefährlich und nicht Erfolg verheißend. Denn dazu werden Papiere benötigt, die nur syrische Behörden ausstellen können. Solche Papiere zu beantragen, ist seit 2012 fast der sicherste Weg zur Verhaftung. Der Grenzübertritt in ein Nachbarland wäre leichter - aber was wartet dort? Eine Reise ins Ungewisse.

Die Variante, alleine voranzugehen und auf Familiennachzug zu hoffen, ist für Nasir indiskutabel. Eine Trennung von Frau und Kindern, sie zurückzulassen dort, wo Gefahr droht? Nein, das kommt nicht infrage. So werden Fluchtpläne verworfen und aufgeschoben. Aber die Gedanken bleiben.

Ende 2014 - Nasirs Verhaftung

Monate der Unsicherheit liegen hinter der Familie. Immer wieder Umzüge, immer wieder nächtlicher Aufbruch in ein neues Haus. Eines Abends kommt Nasir nicht von der Arbeit zurück. Schnell macht seine Frau sich Sorgen. In normalen Zeiten würde man losgehen und suchen, Kollegen, Bekannte und Nachbarn fragen, sich dann an Behörden wenden.

Aber die Zeiten sind nicht normal. Sie kann niemanden fragen, denn jeder, ausnahmslos jeder kann ein Spitzel des Regimes sein. So bleibt nur das Warten. Die Sorgen verwandeln sich in Angst und die Angst weicht der Verzweiflung. Kein Familienmitglied verlässt das Haus. 48 schlaflose Stunden geht das so.

Nach zwei Tagen steht er plötzlich wieder vor der Tür. Einzelheiten erzählt er nicht, nur soviel: Nach einer Führung wurde er verhaftet. Als Vorwand dienten die Trinkgelder seiner Kunden, die als Devisen bei ihm gefunden wurden. Früher war das kein Problem, jetzt aber ist auch das verdächtig und Grund für Verhaftung und Verhör. Nasir verhielt sich kooperativ, gab jede geforderte Auskunft und ging jede Verpflichtung ein, die ihm abverlangt wurde. „Nein“ ist keine gute Antwort, wenn der syrische Geheimdienst eine Frage stellt. Er wollte nur eines: Wieder nach Hause, so schnell wie möglich zurück zu seiner Frau und seinen Kindern.

Wenige Stunden nach seiner Rückkehr ist die Familie wieder unterwegs, lässt diesmal fast alles an Einrichtung zurück. Die Entscheidung soll sich bald als richtig erweisen. Einige seiner Kollegen werden festgenommen und mittels konstruierter Anschuldigungen inhaftiert, Nasir jedoch bleibt unauffindbar. Die Wohnungen oder Häuser der Verhafteten werden geplündert, Vermögenswerte „beschlagnahmt“.

Fernab, und doch - gefühlt - hautnah dabei, habe ich all das miterlebt, habe via Mail, Messenger und sozialen Netzwerken mitgezittert und der Familie beigestanden, soweit mir das in dieser Situation möglich war. Es gab Pausen, Tage, auch mal Wochen, in denen ich nichts hörte.

Verschollen!

Eine Mahnwache für den syrischen Frieden in Damaskus.
Eine Mahnwache für den syrischen Frieden in Damaskus.

© Youssef Badawi

Im August 2015 riss der Kontakt jedoch vollkommen ab. Wir hatten spezielle Accounts eingerichtet, für sichere Kommunikationswege gesorgt. Alles, was technisch möglich war. Auch diese Kanäle blieben stumm.

Ich wendete mich an Hotels, an Universitäten, Museen und Einrichtungen mit vorsichtigen Erkundigungen über Nasirs Verbleib, teilweise getarnt als Anfragen von Touristengruppen. Ohne Erfolg. Meine Möglichkeiten waren erschöpft. Es blieb mir nichts, als mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Im April dieses Jahres dann endlich, nach langen Monaten des Hoffens und noch mehr des Bangens, meldete sich mein PC: Eine neue Konversation, eine Kontaktanfrage. Sinngemäß lautete die Nachricht: „Hallo Andreas, ich hoffe, Du bist gesund und es geht Dir gut. Dein Freund Nasir.“

Es muss dieser Augenblick der rückhaltlosen Freude und der totalen Erleichterung gewesen sein, der mich den ganz konkreten Beschluss fassen ließ Nasir und seine Familie aus Syrien nach Deutschland zu holen. Oder die Ausreise in ein anderes Land seiner Wahl zu ermöglichen.

Über die Gründe seines langen Schweigens spricht Nasir nicht, ungewöhnlich zwischen uns. Die Söhne erzählen dann unter sechs Augen, in den wenigen Minuten, während denen Eltern und Schwestern einmal nicht am Tisch sind, die Geschichte dieser Monate.

Obwohl es früher schon als diffuse Befürchtung im Raum stand, kam es nun vollkommen unerwartet und ohne jede Ankündigung: Beide Söhne geraten in den Fokus des Militärs. Praktisch aus dem Stand sollen sie eingezogen werden. Als junge Männer waren sie einer Militärpatrouille aufgefallen. In höchster Not gelingt es Nasir, sie noch einmal freizukaufen, zumindest für den Augenblick. Er ist sich der Tatsache bewusst, es ist nur für eine sehr kurze Zeit.

Die folgenden Monate führen die Familie durch Kriegsgebiete. Teilweise schlafen sie alle unter freiem Himmel. Selbst der Technik aus Deutschland vertraut Nasir in dieser Zeit nicht. Es ist ein Leben in Gefahr, in Armut. Schwer auszusprechen für einen Familienvater, der immer für Sicherheit und ein gutes Auskommen gesorgt hatte.

Juli 2016

Das sind die Ereignisse, die weltpolitischen und persönlichen Entwicklungen, die uns, - Nasir, seine Familie und mich - hier zusammengebracht haben. An diesen Tisch, in diese Kleinstadt vor den Toren von Damaskus, die nicht ihre Heimat ist. In einem Haus, das nicht ihr Haus ist, sondern nur eines, in das die Not sie geführt hat und das Zwischenstation ist auf ihrer Reise ins Ungewisse.

Die Zukunft, ein wenig Hoffnung

In der Tasche habe ich einen Arbeitsvertrag für Nasir. Ihn zu bekommen, unter den gegebenen Umständen, war alles andere als unkompliziert. Viele Menschen sind involviert, Kontakte wurden aktiviert. Die wirklich sozialen Netzwerke sind die, in denen sich Menschen persönlich kennen, auch im wahren Leben, nicht nur virtuell, in denen ein Wort zählt und eine einmal gemachte Zusage nicht dann, wenn es drauf ankommt, zu einem „Mal sehen...“ uminterpretiert wird.

Es ist ein Hotel in Potsdam, das den unterschriebenen Arbeitsvertrag schickt. Wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit. Wesentliche Voraussetzungen waren die Fürsprache eines Potsdamer Unternehmers und - natürlich, denn überprüfbare Unterlagen gibt es nicht – das Vertrauen auf die Angaben bezüglich der Fähigkeiten und der Vertrauenswürdigkeit des Bewerbers, den man nur aus Erzählungen kennt.

Vertrauen und Fürsprache, das sind die Schlüsselbegriffe.

Die Familie weiß noch nichts von der Idee der Flucht nach Deutschland, von der konkreten Chance auf ein neues, besseres Leben, fernab der Heimat, die genau das, Heimat, nicht mehr sein kann. Nasir möchte Aufregung vermeiden, denn der Alltag hält schon weit mehr davon bereit, als einem Menschen guttut. Vor allem will er keine falschen Hoffnungen wecken. Viele Dinge müssen bedacht werden, das Für und Wider eines jeden Schrittes bedarf der Abwägung.

Zunächst geht es darum, einen Weg aus Syrien heraus zu finden. Und dann stellt sich die nächste Frage: Wie nun von hier, wo auch immer das sein wird, nach Deutschland? Mein Vorschlag ist, es über den Iran zu versuchen. Ein Land, in dem Christen nicht verfolgt werden, und in dem der Bürgschaft eines Deutschen ein gewisser Wert beigemessen wird.

Hoffnung, Pläne und Wünsche

Morgen reise ich wieder nach Berlin, in eine sichere, friedliche Demokratie. Ich kann die sechs Menschen, deren Wohlergehen mir so am Herzen liegt, nicht mitnehmen. Der Putschversuch in der Türkei macht die Möglichkeit der schnellen Ausreise auf direktem Wege noch unsicherer und unkalkulierbarer als sie ohnehin schon wäre. Die Option Iran bleibt im Raume stehen, Nasir will sich das durch den Kopf gehen lassen.

Kinder, die unbeschwert auf der Straße spielen. Ein Wunsch, den A.v.Lepsius für das Kind des Krieges hat.
Kinder, die unbeschwert auf der Straße spielen. Ein Wunsch, den A.v.Lepsius für das Kind des Krieges hat.

© Winfried Rothermel

Ich hoffe, die Familie wird die kommenden Wochen und Monate gut überstehen. Die Lage scheint sich zu stabilisieren, aber die Unsicherheit bleibt. Was der morgige Tag bringen wird? Niemand kann das voraussagen.

Wenn Nasir sich zur Flucht entschließt, werde ich Ihn bei diesem Unterfangen tatkräftig unterstützen. Falls erforderlich werde ich ihm persönlich vor Ort beistehen. Es ist niemandem möglich, allen Menschen zu helfen, die der Hilfe bedürfen. Nasir ist einer von Hunderttausenden. Vielen geht es schlechter. Auch ich kann nicht allen helfen, aber vielleicht meinem Freund und seiner Familie.

Mein Wunsch ist es, „Das Kind des Krieges“ lachen zu sehen, ganz unbeschwert. Sie soll Kind sein dürfen, zur Schule gehen, spielen und sich sorglos ihrer bunten Kleider erfreuen, das Leben erfahren und genießen, nicht Angst haben vor Bomben und Männern mit Waffen, die ebenso tödlich sind wie ihre Absichten, vor Flucht und Vertreibung. Es sind unzählige Mädchen und Jungs in ihrem Alter und noch jünger, die in Syrien und vielen anderen Ländern dieser Welt ihrer Kindheit beraubt werden. Dies ist in meinen Augen eine Schande für alle Staaten dieser Erde.

Mein Dank gilt unserem Foristen @mogberlin für die Zeit und Mühe des unermüdlichen Gegenlesens. Seine wertvollen Kommentare, Anregungen und die Nachfragen zu Details sind in diesen Beitrag eingeflossen. Andreas van Lepsius

Andreas van Lepsius

Zur Startseite