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Laudatio auf Herta Müller: Freiheit ist das Gegenteil von Willkür

Zwei motivische Zentren fallen in der Arbeit der Schriftstellerin Herta Müller besonders auf: Auf der einen Seite ist da der Raum der Freiheit der Sprache und des Sprechens, auf der anderen Seite die Enge und Angst in der Diktatur, die von ihr verursachten Traumata. Die Traumatisierung setzt damit ein, dass im Verbot der freien Rede Sprache und Sprechen zusammengestaucht werden, dass Wörter ganz verloren gehen oder eingeschmolzen werden, oder umgemünzt.

Von Caroline Fetscher

Zwei motivische Zentren fallen in der Arbeit der Schriftstellerin Herta Müller besonders auf: Auf der einen Seite ist da der Raum der Freiheit der Sprache und des Sprechens, auf der anderen Seite die Enge und Angst in der Diktatur, die von ihr verursachten Traumata. Die Traumatisierung setzt damit ein, dass im Verbot der freien Rede Sprache und Sprechen zusammengestaucht werden, dass Wörter ganz verloren gehen oder eingeschmolzen werden, oder umgemünzt. Parolen, die sprachlichen Kulissen der Ideologie, treten an die Stelle der unterdrückten Inhalte – und das Schweigen. Beschwiegen werden muss in der Diktatur sogar das Beschweigen selbst – es darf nicht nur nicht gesprochen werden, es muss auch darüber Stillschweigen herrschen, dass nicht gesprochen werden darf.

Schon in den „Niederungen“, die 1982 in Bukarest erschienen und jetzt, 2010, in ihrer vollständigen Fassung vorliegen, wird diese Spannung spürbar. In die von Lügen, Gerüchten und geheim gehaltenen Gewalttaten geprägte Scheinidylle eines rumänisch-deutschen Dorfes brechen die rebellischen Fragen der Protagonistin ein, als eine Bedrohung des gesamten Gefüges. In einer Albtraumszene sieht sie sich dem Zorn und Hass der Gruppe ausgesetzt. „Wir lassen uns nicht verleumden. Im Namen unserer deutschen Gemeinde wirst du zum Tode verurteilt“, dekretiert eine Stimme. Unmittelbar darauf heißt es: „Alle richteten ihre Gewehre auf mich. In meinem Kopf war ein betäubender Knall. Ich fiel um und erreichte den Boden nicht. Ich blieb quer über ihren Köpfen in der Luft liegen. Leise stieß ich die Türen auf.“ So surreal das Bild wirkt, so sehr gibt seine Metapher wieder, was sich ereignete. Als antizipatorische Fantasie ist das surreale Bild nämlich nicht weit entfernt von den realen Reaktionen, denen sich Herta Müllers Prosa schon bald nach den „Niederungen“ ausgesetzt sah.

Bei der Begründung für den Literaturnobelpreis war zu hören, dass Herta Müller mit ihrem Sujet, den Rumäniendeutschen in Ceausescus Terrorsystem, eine „Diktatur in der Diktatur“ entdeckt hat. Man könnte hinzufügen, dass sie sogar noch eine dritte Diktatur entdeckt hat. In drei konzentrischen Kreisen ist die Unterdrückung organisiert: Sie reicht vom rumänischen Regime über die Gruppe der Rumäniendeutschen bis hinein in die ebenfalls von Sprechtabus dominierte Familie. Für ihre Entdeckungen ist die Schriftstellerin attackiert worden – und wird es teils bis heute. Von der rumänischen Staatsmacht und deren Geheimdienst „Securitate“ wurden bereits die junge Autorin und ihr Freundeskreis ausspioniert und drangsaliert. Als „Nestbeschmutzerin“ hat die verschworene Minderheit ihrer Landsleute sie verunglimpft – also als jemand, der ans Licht bringt, dass ein Nest gar nicht die Eigenschaften eines Nestes hat, dass es weder Wärme noch Schutz bietet, sondern aus Kälte und Drohungen gebaut ist. Die Drohungen dauerten auch im Exil an, das Herta Müller mit ihrer Ausreise in die Bundesrepublik 1987 erreicht hatte.

In der Diktatur expandieren die impliziten Schweigegesetze einer von Gewalt geprägten Familie in den Staat hinein, dessen „gute Eltern“ keinem Zweifel, keiner Kritik ausgesetzt werden dürfen. Und diese Gesetze des Schweigenmüssens wie des Schweigens über das Schweigenmüssen bricht Herta Müller mit ihrem Schreiben, das zum Aussprechen und Umdeuten im selbst eroberten Freiraum der Literatur wird. Sie ist eine Autorin, die um das eine, die Freiheit, kämpft, und das andere, das Wortverbot, nicht duldet. So einfach ist das – und doch hochkompliziert.

Ende 1944 schrieb Thomas Mann im Exil über das Terrorregime in Deutschland: „Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Hölle, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist.“ Der Terror befinde sich „außerhalb der Sprache“, hatte Mann konstatiert, zu seiner Macht gehört das Unsagbare, das Unsägliche. Paul Celan, der im damaligen Rumänien geborene Lyriker, hatte als einer der Ersten Versuche unternommen, dem zynischen Diktum der Hölle mit seiner sprachlichen Arbeit zu widersprechen. Herta Müller, die literarische Schülerin Celans, wußte von Beginn ihrer Arbeit an, dass sie es mit ähnlich strukturierten Mächten zu tun hatte, da wo sie herkam und wo sie historisch zwischen allen Stühlen saß.

Geboren 1953 als Deutsch-Rumänin aus armen Verhältnissen im kleinen Nitzkydorf, das in der Region Mitteleuropas lag, die Ende des 1. Weltkrieges zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt worden war, wuchs Herta Müller zwischen allen Fronten auf. Wie bei der als „Teufelskind“ beschimpften Tereza, einer Protagonistin von Herta Müllers Roman „Herztier“ aus dem Jahr 1994, sitzen Herta Müller schon als Kind gleich zwei Diktaturen im Nacken. Eine ist eben besiegt, die andere an ihre Stelle getreten. Über Terezas Vater, den heimgekehrten SS-Soldaten, steht in „Herztier“ zu lesen: „(…) der Vater steckt sein schlechtes Gewissen in die dümmsten Pflanzen und hackt sie ab. Kurz davor hat das Kind sich gewünscht, dass die dümmsten Pflanzen vor der Hacke fliehen, und den Sommer überleben.“ Dieser Vater, heißt es weiter, „war singend in die Welt marschiert. Er hatte in der Welt Friedhöfe gemacht und die Orte schnell verlassen“. Dasselbe Kind, das mit der mörderischen Vergangenheit dieses Vaters groß wird, ist auch in der Gegenwart umzingelt von Lebensfeindlichkeit. In der eigenen Community wird geschwiegen über das, was war. In der Gesellschaft drum herum über das, was ist.

Herta Müller sprengt die Schweigekartelle, aber sie geht dabei nicht mit deren Mitteln der Gewalt vor, leise öffnet sie die Türen, wie es in dem Traum aus „Niederungen“ heißt. Zum Geheimnis von Herta Müllers Sprache scheint es zu gehören, dass sie ihre kreative Kraft nicht trotz oder wegen des Regimes, nicht gegen das Regime entwickelt hat, sondern für etwas. Für die Worte, für sich, für die Lesenden, und, so pathosvoll das klingen mag, für die Freiheit. Das Wort „Freiheit“ besitzt bei ihr nicht den routinierten Klang, den es oft in Verlautbarungen politischer Funktionseliten bekommt. Es bedeutet wirklich etwas, es bezeichnet eine ästhetische und politische Sphäre der inneren wie äußeren Beweglichkeit in der ethischen Begegnung mit der Welt. Von Ruth Klüger, schrieb Herta Müller in ihrem Essay „In der Falle“, habe sie gelernt, dass Freiheit das Gegenteil von Willkür ist – und wie unhintergehbar moralische Entscheidung die Freiheit bedingt.

In „Atemschaukel“, dem vergangenes Jahr erschienen Roman, dessen Stoff die Schriftstellerin gemeinsam mit ihrem Weggefährten Oskar Pastior zusammen erforscht hatte und den sie allein veröffentlichen musste, da Oskar Pastior im Oktober 2006 unerwartet starb, setzt die Autorin einen Protagonisten ein, den sie Leopold Auberg taufte. Wie Pastior kommt Auberg aus dem rumänisch-deutschen Ort Sibiu/Hermannstadt, und er wird 1945, ebenfalls wie Pastior, als Siebzehnjähriger zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Lager deportiert. Bei seiner Abrechnung mit Kollaborateuren des NS-Regimes machte das sowjetische System nicht viel Federlesens; tatsächliche Täter wie Unschuldige, unter ihnen auch Juden, wurden in die Waggons gepfercht. Während die Insassen des Lagersystems Wörter und Begriffe verlieren, verlieren sie schleichend sich selber, und Auberg versucht sich durch Gedankenspiele der Logik des Lagers entziehen. Mit bitterem Sarkasmus stellt er sich etwa seine Holzpritsche als Hotelbett vor, er holt sich ein Wort wie „Hotel“ aus der kaum mehr vorstellbaren Freiheit draußen. „Sei doch froh“, sagt ein Mithäftling, „dass du noch weißt, was das ist, ein Hotel. Bei den meisten ist doch alles, was sie noch wissen, längst etwas anderes“. Wörter gehen nicht nur verloren, sie verkehren sich in etwas anderes. „Wenn der Großteil am Leben nicht mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab“ – diese schockierende Einsicht findet sich in Herta Müllers Essayband „Der König verneigt sich und tötet“.

Mir ist beim Lesen von Herta Müller ein Autor eingefallen, der sich auch auf sehr eigene Weise mit Trauma und Worten auseinandersetzt. Der Arzt und Psychiater Hans Keilson, er ist heute 100 Jahre alt, behandelte nach dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden Überlebende aus den Lagern des NS-Regimes, er schrieb darüber unter anderem den Aufsatz „Wohin die Sprache nicht reicht“. Die Sprache der Verfolgten, mit denen der Arzt arbeitete, war vom Terror entstellt und verdreht worden, zwischen Sinn und Wort klafften oft kaum überbrückbare Lücken. So konnte ein zwölfjähriger Überlebender aus Bergen-Belsen sich unter dem Wort „Bett“ nicht mehr ein Möbel vorstellen, auf das man sich in Geborgenheit legte, sondern nur eines, unter das man sich aus Angst legt. Im Lager hatten die Kinder unter den Betten und in ihren Kleidern geschlafen.

Jede Diktatur, die Miniatur-Diktatur einer Familie ebenso wie der totalitäre Staat und dessen Institutionen, ist mit Vorsatz auf das Vernichten von Sprache aus. Damit greifen solche Systeme die Sicherheit an, mit der Zeichen und Bezeichnetes in einem Bezug zueinander stehen. Sie beargwöhnen alle Möglichkeiten individueller Sinnstiftung, die ja der Ideologie geopfert werden soll. Bereits zu Zeiten Ceausescus hatte Herta Müller ihre Freunde, die Worte, bei Nacht und Nebel über die Grenze geschmuggelt wie illegale Flüchtlinge, ausgestattet mit Pässen und Visa aus der Werkstatt der Schriftstellerin. Im retroaktiven, literarischen Widerstand gegen ein tyrannisches System tauchen in „Atemschaukel“ nicht nur wiedergefundene, gerettete Wörter auf, es kommen auch lauter neue Wörter zur Welt: der Hungerengel, die Herzschaufel, der Viehwagenblues, das Kilometerlied, die Baustellenschwermut oder die Schlammfliegen, „die das Salz in den Augen der Arbeiter riechen“.

Herta Müllers wortgewordenen Erfahrungen mit dem rumänischen System der Unterdrückung lassen auch erkennen, wie das System selber mit wortloser Perfidie seine Absicht des Zerstückelns regelrecht inszenierte. Wenn nach einer heimlichen Haussuchung vom Fuchsfell auf dem Fußboden ein Bein abgetrennt war, so dass sich dieser Teil des Teppichs beim Darüberlaufen ablösen musste, war der Bewohner noch irritiert. Nach der nächsten Haussuchung war ein weiteres Bein abgetrennt, dann der Fuchsschwanz und schließlich der Kopf. Ob solche Aktionen in ihrer Akte stehen würden, hatte die Autorin sich oft gefragt.

Nach Jahren der Anträge und Anfragen, ihre Akte aus den Archiven des rumänischen Geheimdienstes „Securitate“ zu erhalten, war ihr das 2009 endlich gelungen. Von dieser gespenstischen Akte und dem bedrängten Leben, das jenseits der Akte gelebt wurde, handelte Herta Müllers damals publizierter Essay „Die Securitate ist noch im Dienst“. Gleich zwei vom System fabrizierte Aktenpersonen waren manifest geworden – eine bespitzelte Dichterin und eine vermeintliche Komplizin der Spitzel.

Auffällig am Schreiben von Herta Müller ist, dass es sich um keinen Preis für Ideologien wie Nationalismen einspannen ließe. Ihre Texte sperren sich dagegen, sie sind literarisch immunisiert gegen Vereinnahmung, denn sie sind durch Nachdenken, durch Skepsis gründlich geimpft.

In disparaten Milieus aufgewachsen, die entweder Minderheitsnationalismus oder aber Mehrheitsideologie einforderten, musste sich schon die junge Autorin innen wie außen resistente Nischen suchen, um zu sich und ihren Texten zu kommen. Auf paradoxe Weise schien gerade diese Klemme, zwischen den Milieus zu stecken dem Einzelkind Kraft vermittelt zu haben, sich als randständig wahrzunehmen, als beobachtender wie mitempfindender Zaungast, dessen erstes Notizbuch sein kindliches Gedächtnis war.

In ihrem Hörbuch „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“, eigentlich eine Hörerzählung in freier Rede und ohne Manuskript, spricht Herta Müller über ihre Kindheit. Dem Kind, sagt sie, das sich „im Stich gelassen gefühlt“ hat, kam es oft so vor, als sei es „aus einem anderen Material“ als die anderen. „Ich hab mir oft nicht erklären können, warum ich nicht auch ein Tier bin oder eine Pflanze oder ein Gegenstand. Weil ich immer dachte, man gehört nicht zu der Umgebung, auch durch die Angst, die ich durch Gegenstände hatte, oder vor dem Dunkeln beim Schlafen. Weil ich dachte, man ist aus einem anderen Material. Ich habe damals wahrscheinlich das Wort ’Material’ nicht gehabt. Aber das hat es eigentlich bedeutet: Man ist aus einem anderen Material als die Umgebung, und die Umgebung akzeptiert das nicht.“

Man hört eine recht trockene, nüchterne Stimme, eine manchmal entfernt bekümmert, manchmal sacht amüsiert klingende Stimme, die gewissermaßen „aus dem eigenen Kopf vorliest“. Der Charme an diesen Hörtexten ist übrigens, dass sie ahnen lassen, wie der Prozess der Schriftstellerei bei dieser Autorin aussehen kann, das Suchen nach Bildern, das Befragen der Worte und Bilder und das Setzen von Situationen, die dann den Eindruck vermitteln: So muss das gewesen sein, so hat es sich angefühlt.

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