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Meinung: KULTUR-REZENSIONEN IM TAGESSPIEGEL Warum dieser Verriss?

Unser Leser Jürgen Rasch ist entsetzt über die Fidelio-Kritik des Tagesspiegel. Die Rezensentin Christine Lemke-Matwey antwortet

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Betrifft: FidelioKritik „Auf der Galopprennbahn“ im Tagesspiegel vom 27. April 2003

Mit einer Gruppe besuchte ich das Simon-Rattle-Konzert in der Philharmonie. Auf die Frage, wo in Berlin die kompetentesten Kritiken zu lesen seien, gab ich zur Antwort: „Tagesspiegel“. Das hätte ich besser nicht tun sollen. Kopfschütteln bei der Lektüre am Sonntag. Zugegeben, es ist ein Gewinn, eine so hervorragende Fachkraft in den Reihen zu haben wie Christine Lemke-Matwey, jedoch eine solche Kritik erwarte ich im „Grünen Blatt“ oder so.

Muss ich mich schämen, in ein Konzert zu gehen, auf das ich mich sehr lange freue? Ist es eine Schande, einem Ereignis beizuwohnen und zusammen mit über 2400 Leuten ein bisschen glücklich über das soeben Gehörte zu sein? Zugegeben, diese Zuhörer sind nicht alle in der Lage, die Oper teleologisch so zu verfolgen, wie Frau Lemke-Matwey (dieses Wort konnte ich im Fremdwörterbuch noch erklärt finden – allerdings bei „Knatter-Bass“ musste ich passen).

Ich vermute, Frau Lemke-Matwey hat in ihrem Haus sehr viele Schränke mit Schubladen. An diesem Abend war nun einmal Schublade „Ich liebe Dich nicht“ dran.

Jürgen Rasch, Ulm

Sehr geehrter Herr Rasch,

es ehrt uns und es ehrt mich ganz persönlich, dass Sie den Tagesspiegel als einen Ort der „kompetenten Kritik“ verstehen. Ich denke, das kann und muss auch so bleiben – selbst wenn Ihnen meine Kritik des konzertanten „Fidelio“ mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern so wenig behagt.

Es liegt ja gewissermaßen in der Natur der Sache, dass sich zwischen Musikliebhabern und Musikkritikern bisweilen tiefe Klüfte auftun. Die einen gehen aus Spaß an der Freud’ ins Konzert oder in die Oper (oder weil sie das ganz einfach brauchen, fürs Herz, für die Sinne), die anderen tun es aus Profession; für die einen sind dies ganz besondere Anlässe, auf die sie sich teilweise „lange freuen“, für die anderen ist es eine Art gehobener Berufsalltag. Nun wäre es allerdings grundverkehrt zu meinen, dass sich hier etwas ausschließt. Auch Musikkritikerinnen „freuen“ sich auf gewisse Ereignisse, auch ich kann über Gehörtes, Gesehenes und Erlebtes bisweilen richtig „glücklich“ sein. Sonst hätte ich den ganz falschen Beruf ergriffen. Dass solche Anlässe (für Sie wie für mich!) Seltenheitswert besitzen, damit müssen wir uns allerdings abfinden. Denn das war, fürchte ich, nie anders.

Und so wie ich Ihnen jederzeit eine hohe Kompetenz und Erfahrung in derlei Liebesdingen zubilligen würde, so muss und möchte ich doch erwarten, dass Sie meinen kritischen Sachverstand respektieren. Nicht folgen, nein, aber respektieren – auch und gerade wenn sich unsere Eindrücke nicht decken. Dass ich im Falle des „Fidelio“ zu einem anderen Urteil gelange und anders empfinde als Sie, ja als „2400 Leute“ im Saal, das kann kein Argument dafür sein, den Tagesspiegel als unseriös zu bezichtigen! Quantität über Qualität – und die Masse hat immer Recht?

Nur der Kritiker ist ein guter Kritiker, der Ihnen und 2399 anderen nach dem Munde respektive nach den Ohren schreibt? So habe ich diesen Beruf nie verstanden. Allerdings kann es genauso wenig darum gehen, profilneurotisch anderer Meinung zu sein als der Rest der liebenden und/oder urteilenden Musikwelt. Eine gelungene Kritik ist immer subjektiv (auch sprachlich!): Indem sie den Standpunkt des Kritiker-Ichs sichtbar macht, Maßstäbe nennt und Vergleiche zieht. In diesem Sinne sei Ihnen die „Fidelio“-Aufnahme der Wiener Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler ans Herz gelegt. Finden Sie nicht, dass man 1954 mit dem Stück schon viel weiter war als wir heute?

Mit neugierigen Grüßen, Ihre

Christine Lemke-Matwey

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