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Meinung: Keine Scham ohne Liebe

Ein Plädoyer für den Patriotismus

Dürfen Deutsche ihr Vaterland lieben? Dürfen sie ihre Liebe oder ihren Stolz öffentlich zeigen? In den USA oder in Großbritannien ist Patriotismus ein Gegenstand offensiver öffentlicher Bekenntnisse. Was konservativ ist, wird dort mit großem Selbstbewusstsein diskutiert. In Deutschland führt das Thema jedesmal zu Verkrampfungen. Die Linke fürchtet patriotische Gefühle von Deutschen immer noch wie eine Krankheit. Die Krankheit muss aus ihrer Sicht kuriert werden, weil sie sonst zwangsläufig in Nationalismus, Chauvinismus und Militarismus endet. Das sei die schmerzliche Lehre, die wir Deutsche aus der Geschichte ziehen müssen. Darin wirkt das verbrecherische Regime des Nationalsozialismus bis heute fort.

Viele Konservative hegen patriotische Gefühle. Sie reden jedoch eher verschämt darüber, mit einer Litanei von Entschuldigungen, damit sie bloß nicht missverstanden werden. Eine verordnete Gefühllosigkeit dem eigenen Land gegenüber ist für kein Land eine gute Perspektive. Patriotismus ist Vaterlandsliebe. Was man mit Liebe tut, tut man besser als das, was man gleichgültig tut. Für jeden Lebensbereich gilt das. Nur im Verhältnis zu unserem Land sollte es nicht gelten? Es ist nicht ehrlich, von Politikern zu verlangen, dass sie sich mit Herz und Verstand für Deutschland engagieren sollen, und anderseits von ihnen zu hören, dass sie es aus emotionaler Gleichgültigkeit heraus tun.

Jeder Deutsche mit Anstand hat ein verzehrendes Gefühl von Scham, wenn er sich die Verbrechen vergegenwärtigt, die in deutschem Namen geschehen sind. Ich will kein Deutschland, das dieses Schamgefühl verliert. Es wäre ein unanständiges Deutschland. Ich möchte aber auch eine andere Wahrheit aussprechen: Es gibt keine Scham über Deutschland ohne Liebe zu Deutschland. Wer als Deutscher seinem Land gleichgültig gegenübersteht, wie sollte der sich denn schämen für das, was von Deutschen verbrochen wurde? Wie sollte er stolz auf das Große sein, das von Deutschen getan wurde? Scham und Stolz sind nicht ohne Liebe denkbar. Wir brauchen eine Liebe zu Deutschland, die sicherstellt, dass wir uns weder dem Gefühl der Scham über das Entsetzliche entziehen, noch uns den Stolz auf das Gute versagen.

Es gibt kein moralisches Kassenbuch der deutschen Geschichte, in das wir Hitler als Minus und Goethe als Plus eintragen könnten mit dem Ergebnis eines augeglichenen Saldos. Da ist nichts zu verrechnen. Wir haben die Scham über den einen und den Stolz auf den anderen auszuhalten und wachzuhalten. Vor allem haben wir dafür zu sorgen, dass Deutschland bleibt, was es seit fünfzig Jahren ist: Ein Land, auf das wir stolz sein dürfen, ein Land, das wenig Anlass geboten hat, sich seiner zu schämen. Für dieses Land ist es nicht gut, wenn wir die Liebe zu ihm unterdrücken und die gleichgültige Emotionslosigkeit gutheißen. Deutschland darf den Deutschen am wenigsten gleichgültig sein. Dieser Stolz und diese Scham sind die patriotische Grundlage des Neubaufbaus von Deutschland gewesen. Sie müssen die patriotische Grundlage unserer Arbeit für die Zukunft Deutschlands bleiben.

Patriotismus liegt in der Liebe zum Eigenen. Nationalismus liegt in der Ausgrenzung und im Hass des Anderen. Daher muss antisemitisches Reden und Handeln jeden beleidigen und mit Scham erfüllen, der dieses Land liebt. Ich sagte, dass unser Land in den letzten 50 Jahren für einen Patrioten wenig Anlass geboten hat, sich seiner zu schämen. Zu dem wenigen gehört, dass in Deutschland Synagogen und jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen müssen. Für Deutsche, die ihr Land lieben, ist das unerträglich.

Viele große Herausforderungen fordern unseren Patriotismus. Eine davon ist die Integration der rechtmäßig bei uns lebenden Bürger ausländischer Herkunft. Wie wollen wir die Integrationsaufgabe bewältigen, wenn wir selbst einer emotionalen Bindung an unser Land skeptisch gegenüberstehen? Als sei Liebe zu Deutschland eine Untugend, die man besser verborgen hält! Wir haben so viel Distanz zu unserer Nation und ihren Werten gewonnen, dass wir es für eine Zumutung halten, wenn wir von anderen verlangen, dass sie unsere Sprache sprechen. Kein Wunder, wenn dann die Integration nicht gelingt. Eine zweite Herausforderung ist die europäische Einigung. Unser Ziel muss eine europäische Nation mit europäischer Staatlichkeit sein. Die jeweiligen Bekenntnisse zu gemeinsamen Erinnerungen und Hoffnungen, gemeinsamem Leid, gemeinsamem Stolz, aber auch gemeinsam gefühlter Scham sind kein Hindernis, sondern die Voraussetzung eines europäischen Patriotismus. Nur wer definieren kann, was das Eigene ist, kann mit anderen eine Zukunft haben.

Deutschland braucht Patriotismus als Liebe zum Vaterland und als Engagement für das Vaterland. Es bleibt sonst kein liebenswertes Land. Es ist falsch, den Patriotismus zu bekämpfen, weil er pervertiert werden kann. Hitler war mit Sicherheit kein Patriot.

Der Autor ist stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands.

Jürgen Rüttgers

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