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Eine Kriminaloberkommissarin sitzt vor einem Auswertungscomputer bei Ermittlungen gegen Kindesmissbrauch.

© dpa/Arne Dedert

Kampf gegen Schweigekartelle: Der Staat muss endlich die Anzeigepflicht für Kindesmissbrauch einführen

Mit „Boystown“ wurde wieder mal eine Plattform aufgedeckt, die Fotos und Videos von Kindesmissbrauch verbreitet. Belangt werden dafür nur wenige. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Caroline Fetscher

Auch Säuglinge tauchen auf solchen Fotos und Videos auf. Missbrauchsabbildungen, wie der richtige Name für „Kinderpornographie“ lautet, machen vor keiner Konstellation Halt, in der Nichterwachsene als Opfer Erwachsener fungieren. Repräsentationen sexuell aufgeladenen Machtgefälles erzeugen Genuss durch das virtuelle Miterleben des denkbar drastischsten Kontrastes zwischen Macht und Ohnmacht.

Noch die Bezeichnung „Abbildung“ ist auf ihre Weise irreführend. Die virtuell gehandelten Waren und Tauschobjekte sind keine der Fantasie entsprungenen Zeichnungen. Es handelt sich um visuelle Dokumentationen schwerer Straftaten, vergleichbar den Aufnahmen, die manche Kriegsverbrecher von ihren Taten machen.

Aber eine Pflicht, private Kenntnis solcher Taten anzuzeigen oder Verdachtsfälle zu melden, existiert im deutschen Strafrecht nicht, als gelte es, Beichtgeheimnisse zu hüten. Für klinisches oder pädagogisches Personal gilt immerhin eine Befugnisnorm, um die Schweigepflicht zu brechen. Im privaten Raum, wo etwa 90 Prozent der Taten geschehen, dürfen Mitwissende unbehelligt in Schweigekartellen verharren.

Tatorte sind Kinderzimmer, nicht „das Darknet“

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Mitte April erneut eine kriminelle Vereinigung im Darknet ausgehoben wurde. Bis zu 400 000 Nutzer soll allein diese eine von Deutschen im In- und Ausland betriebene Plattform „Boystown“ gehabt haben, die am 1. Juli 2019 gestartet worden war . Drei Hauptverdächtige wurden festgenommen. Dass Fahndungsdruck auch den Tausenden Nutzern gilt, die sich nun neue Räume im Netz suchen, bleibt zu hoffen. Meist werden nur wenige belangt.

Doch wie jedes Mal ist das nicht der einzige Skandal hinter dem Skandal. Denn: Wo ist die visuell gehandelte Ware? Wo sind die Kinder? Wer sucht sie? Wer schützt sie? Viel zu wenig wird danach geforscht. Abertausende bleiben ungeschützt, solange nicht mit Nachdruck auch die primären Produzentinnen und Produzenten des Materials verfolgt werden, die fern der Händlerinnen und Händlern agieren.

Tatort ist nicht „das Darknet“. Tatorte sind Kinderzimmer, die zu Folterkammern werden. Kinder sind keine „Abbildungen“. Sie sind lebendig. Sie leben, atmen, essen, trinken, spielen in Wohnungen, in ihrem privaten Umfeld. Dort wird die Kernschmelze der kindlichen Psyche produziert. Die Opfer sind Söhne und Töchter, Nichten und Neffen, Mündel und Pflegekinder von Leuten aller Milieus, Geschlechter und Hautfarben, welche die Taten begehen – oder sie ignorieren.

Ermittlungen müssen familiäre Umfelder angehen

Minderjährige werden von ihrem Umfeld zur Verfügung gestellt, betäubt, fixiert, geschlagen, erpresst, manipuliert. Mütter, Väter, Lebensgefährten, Verwandte betreiben das Verwenden von Nachwuchs für den triebgetriebenen Markt oder billigen es schweigend. Dieser Markt ist milliardenschwer, und er zerstört millionenfach Lebensfreude wie Urvertrauen der Opfer.

Hoch sind auch die Folgekosten für den Staat. Inzwischen erwachsene Betroffene werden jetzt vom Bundesbeauftragten für die Aufarbeitung von Missbrauch aktiv zum Berichten aufgefordert (www.aufarbeitungskommission.de). Ermittlungen müssen jedoch ohne Scheu auch die familiären Umfelder angehen, in denen Tag für Tag und Nacht für Nacht Taten begangen werden. Der Staat ist gefragt. Er muss für Meldepflicht und Anzeigepflicht sorgen.

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